Berliner Volksentscheid und die Folgen: Klares Mandat – und was nun?
Eine Mehrheit in Berlin ist für die Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne. Fast alle Parteien winken ab. Was bedeutet das für die Demokratie?
Allerdings lehnen fast alle Parteien das Vorhaben ab. Die mutmaßlich nächste Bürgermeisterin, Franziska Giffey (SPD), wetterte schon vor der Wahl gegen Enteignungen; nun schiebt sie rechtliche Bedenken vor, obwohl etliche wissenschaftliche Gutachten dem entgegenstehen. Für CDU, FDP und AfD ist demokratische Vergesellschaftung ohnehin nichts als kommunistische Barbarei – und die Grünen wollen die Immobilienkonzerne lediglich zur Selbstverpflichtung bewegen. Einzig und allein die Linken unterstützen das Anliegen tatsächlich konsequent.
Es ist höchst fragwürdig, dass keine Partei, die das Anliegen vor der Wahl abgelehnt hat, seither von ihrer Position abgerückt ist. Denn jeder Volksentscheid ist – selbst wenn rechtlich nicht bindend – ein Beschluss des höchsten demokratischen Souveräns. Auch rein quantitativ hat der Volksentscheid eine höhere demokratische Legitimation als alle Antienteignungsparteien zusammen: So haben insgesamt 994.129 Menschen für SPD, CDU, FDP und AfD gestimmt – für den Volksentscheid dagegen 1.034.709 Menschen.
Mit ihrer Ablehnung wenden sich die Parteien auch gegen ihre eigenen Anhänger:innen. Schon rein rechnerisch ergibt sich bei 1,8 Millionen Wählenden, dass jede Partei Enteignungsfans in ihrer Wählerschaft hat. Statistisch erfasst wurde dies am Wahltag nicht. Umfragen im Vorfeld ergaben aber, dass selbst 21 Prozent der CDU-, 28 Prozent der FDP- und sogar 38 Prozent der AfD-Wähler:innen mit Enteignung sympathisieren.
Regelrecht schizophren!?
Doch warum wählen Menschen, die für Enteignungen sind, nicht einfach die Linkspartei? Ist es nicht regelrecht schizophren, die neoliberale FDP zu wählen, gleichzeitig aber die Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen zu fordern?
Simon Teune vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung sagt: Nein, nicht unbedingt. Bei der Wahl einer Partei würden sich Menschen „für ein Gesamtpaket“ entscheiden, das nicht nur aus Politikinhalten, sondern auch aus einem „Werteangebot“ bestehe. „Man kann FDP wählen, weil man sie für eine Partei der Bürger- und Menschenrechte hält, aber dennoch kein Problem damit haben, dass der Staat in die Wirtschaft eingreift“, sagt Teune.
Die Berliner Linke wird dennoch von ihrer Unterstützung des Volksentscheids profitiert haben. Denn offensichtlich gelang es ihr, dem Bundestrend zu trotzen. Während sie im Bund um fast 47 Prozent einbrach, verlor sie in Berlin nur um knapp 10 Prozent. Die Gründe dafür werden aber wohl komplexer als das „Ja“ zum Volksentscheid sein. Nicht nur wählt Berlin traditionell linker als andere Bundesländer, hier hat die Linke in den letzten Jahren auch seriös regiert. Auf Bundesebene wirkte die Partei dagegen häufig zerstritten und rechthaberisch – es handelte sich also um eine jeweils völlig andere Ausgangslage.
Deutsche Wohnen & Co enteignen war dagegen wohl auch erfolgreich, weil es der Initiative gelang, kein aktivistischer Arm der Partei zu werden, sondern konsequent Bewegung zu bleiben. Der Initiative gelang es, eine echte Graswurzelbewegung aufzubauen. Über 2.000 Aktivist:innen sammelten Unterschriften in allen Kiezen der Stadt und klingelten sich mühsam von Haustür zu Haustür. Sie waren dort, wo Politiker:innen selten sind – und holten die Bevölkerung mit einem radikalen, aber realistischen Ziel ab.
Politischen Druck ausüben
Doch nun muss sich die Initiative neu erfinden. Statt Wähler:innen zu überzeugen, muss sie politischen Druck auf Parteien ausüben, die wiederum versuchen werden, den Volksentscheid zu verschleppen. Das Argument, dass hierfür neuerdings vorgebracht wird, lautet: Es sei den Berliner:innen ja gar nicht wirklich um Enteignung gegangen. Vielmehr handele es sich um ein grundsätzliches Votum für mehr gemeinwohlorientierten Wohnraum.
Doch Wahlergebnisse im Nachhinein zurechtzuinterpretieren ist für die Demokratie gefährlich – insbesondere, wenn dies im Interesse einiger Konzerne geschieht. Völlig von der Hand zu weisen ist das Argument aber wohl nicht. Auch Teune sagt: „Sicher wären viele Wähler:innen nicht böse, wenn das Ziel bezahlbarer Wohnraum über einen anderen Weg erreicht wird.“
Doch welcher Weg könnte das sein? „Ich kann mir keinen alternativen Maßnahmenkatalog vorstellen, der die Situation nachhaltig verbessert“, sagt Kalle Kunkel von der Initiative. Vermutlich wird wohl tatsächlich ein Runder Tisch kommen, wie er von den Grünen vorgeschlagen wird. Doch der Druck der Immobilienkonzerne, möglichst dicke Renditen für die Aktionär:innen zu erwirtschaften, bleibt bestehen. Die Politik wiederum könnte zwar hier und da noch nachjustieren, doch langsam sind die Maßnahmen auf Landesebene auch ausgereizt. Und das Ganze würde zudem Rot-Grün-Rot erfordern.
Letztlich wird die Initiative den nötigen Druck erzeugen müssen, um die Vergesellschaftung umzusetzen. Die Linken werden sie unterstützen, doch um sich durchzusetzen, fehlt ihr die Kraft. „Wir beginnen mit einer intensiven Wahlauswertung. In den meisten Wahlbezirken haben wir eine Mehrheit errungen, das müssen wir die jeweiligen Abgeordneten spüren lassen“, so Kunkel über die Strategie der Initiative. Inzwischen hat sie auch einen konkreten Entwurf für ein Vergesellschaftungsgesetz erarbeitet, den sie der Politik zur Verfügung stellen will. „Wenn der politische Wille da wäre, könnte in den nächsten Monaten ein Gesetz verabschiedet werden.“
Kunkel geht aber nicht davon aus. Intern würde gerade ein Zeitplan für die „Eskalationsperspektive“ erarbeitet. Möglich wäre etwa, eine Deadline zu setzen. Auch ein weiterer Volksentscheid – dieses Mal mit bindendem Gesetzesvorhaben – sei „eine Variante“. Seine Hoffnung ist das demokratische Gewissen der Politik. Und seine Warnung: „Wenn sich die Parteien dem Auftrag des demokratischen Souveräns widersetzen, werden sie ganz neue Legitimationsverluste erleiden.“
Der Text ist Teil eines vierseitigen Schwerpunktes zur Berlin-Wahl 2021 auf den taz berlin-Seiten der Print-Ausgabe der taz am wochenende vom 2./3. Oktober 2021.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit