Berliner SPD-Chef kritisiert Ampel: „Das Geld dafür ist da“
SPD-Chef Raed Saleh kritisiert die Politik von FDP und Grünen im Bund. Mehr Hilfe für die breite Bevölkerung sei nötig – und Geld vorhanden, sagt er.
taz: Herr Saleh, wir sitzen hier idyllisch in Ihrem Wohnort Kladow an der Fähre zusammen und lassen uns Milchkaffee und Spezi schmecken. Müssen wir dabei ein schlechtes Gewissen haben, weil es anderen gerade nicht so gut geht?
Raed Saleh: Diese Situation mit der Inflation und den Kriegsfolgen macht mir schon extrem große Sorgen. Meine Vision ist seit vielen Jahren, dass die Menschen sich ihr Leben leisten können müssen, dass sie in Frieden und Sicherheit leben. Dass der Staat alles unternimmt, dass es den Menschen so leicht wie möglich gemacht wird.
So leicht ist das aber gerade nicht.
Das besorgt mich ja so, denn das ist jetzt in Gefahr. Wir haben in Berlin Stück für Stück eine Vision umgesetzt, die in keinem anderen Bundesland existiert: Keine Gebühren für Kita und Hort, Schulessen und BVG-Schülerticket. Wir haben die Menschen entlastet und wir haben als erstes Bundesland einen Landesmindestlohn beschlossen.
Dazu würde Bundesfinanzminister Lindner wahrscheinlich sagen, das habe zu einer von ihm kritisierten „Gratismentalität“ beigetragen.
Christian Lindner sollte eigentlich seiner Verantwortung als Finanzminister nachkommen. Das Problem ist tatsächlich, dass er und seine FDP nicht wirklich den Ernst der Lage erkennen. Ich will es mal am Beispiel des 9-Euro-Tickets zeigen: Es gibt eine große Offenheit auf Bundesebene für eine Nachfolgefinanzierung bei der SPD, aber auch bei den Grünen. Aber Lindner fährt bekannterweise lieber Porsche statt Bus und Bahn und stellt sich quer.
Sie selbst sind allerdings gerade auch nicht im Bus, sondern im Dienstwagen hier an den Fähranleger gekommen.
geb. 1977, ist Fraktionschef der Berliner SPD im Abgeordnetenhaus, zusammen mit Franzsika Giffey führt er auch den Landesvorsitz der Partei.
Trotzdem bin ich für das 9-Euro-Ticket, weil ich weiß, wie wichtig es ist, dass man den Menschen eine breite Möglichkeit zum Teilhaben ermöglicht. Gleichzeitig treiben wir damit die Mobilitätswende voran und bringen Menschen dazu, das Auto stehen zu lassen.
Das machen aber nur 3 Prozent der Ticketkäufer und 97 Prozent eben nicht, wie eine Studie dazu ergeben hat. Ist das wirklich ein Erfolg?
Trotz allem sind es 3 Prozent. Ich weiß gar nicht, wie die Zahlen ermittelt worden sind – was ich mitbekomme ist, dass mehr Leute umgestiegen sind. In einer Umfrage vom Juli sprechen sich rund 80 Prozent für eine Verlängerung aus. Das Ticket ist ein gutes Beispiel dafür, dass man die Menschen bei politischen Entscheidungen mitnehmen muss, und da stellt sich Christian Lindner quer. Die meisten Menschen erwarten doch gar nicht viel von der Politik. Die meisten kriegen ihren Alltag selbst in den Griff. Aber in Krisen, wenn es wirklich hart auf hart kommt, erwarten die Menschen zu Recht, dass das System funktioniert und der Staat ihnen hilft.
Warum wird die Hilfe dann nicht konzentriert auf die, die wirklich zu wenig in der Tasche haben, statt allen eine Quasi-Freifahrtschein zu finanzieren?
Das haben Sie auch schon vor Jahren gefragt bei der Gebührenfreiheit in der Bildung. Ich habe damals gesagt und sage das auch heute, dass ich diejenigen, die zu den Spitzenverdienern gehören, über ein gerechteres Steuersystem abrechnen will.
Aber das kriegen Sie doch erstens nicht schnell und zweitens nicht auf Landesebene geändert. Wieso also nicht auf die Bedürftigen konzentrieren?
Bei dem Begriff fängt das Problem doch schon an: Wer sind denn die Bedürftigen, auf die wir uns konzentrieren sollen? Sind das die Menschen, die Hartz-IV empfangen? Sind das die, die Grundsicherung beziehen? Für mich geht das viel weiter: Ich sehe die Breite der Mittelschicht in Gefahr. Menschen, die noch nie Unterstützung bekommen haben.Diejenigen, die bisher immer sagen: Staat, lass mich in Ruhe, ich kann für mich selbst sorgen, macht es mir aber nicht so kompliziert.
Dann legen Sie halt eine höhere Grenze für Hilfen fest, vielleicht bei 5.000 Euro – aber eben nicht per Gießkannenprinzip Geld für alle.
Jetzt sagen Sie so einfach „Gießkanne“. Was die meisten nicht bedenken ist, das wir durch diese Entlastungen auch die Wirtschaft fördern. Denn was machen die Menschen, wenn es im Portemonnaie knapp wird? Sie sparen, indem sie Verzicht üben: In der Gastronomie, beim Schulranzen der Kinder, beim Einkauf,von guten Lebensmitteln. Und was passiert dann? Die Wirtschaft leidet und Arbeitsplätze werden gefährdet.
Arbeitsplätze sieht auch FDP-Mann Lindner in Gefahr.
Wir haben da doch die Erfahrung aus der Pandemie. Was haben wir gesagt und erfolgreich gemacht? „In der Krise spart man nicht.“ Dieser Satz gilt für mich jetzt mehr denn je.
Und dabei immer mehr Schulden anhäufen?
Geld dafür ist doch da! Der Staat ist der größte Krisengewinner in diesem Moment: Wenn die Marmelade jetzt bei Lidl oder Aldi teurer ist, bedeutet das auch höhere Einnahmen bei der Mehrwertsteuer. Insgesamt wird der Staat künftig jedes Jahr durchschnittlich 163 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen haben. Die Umsatzsteuern allein wachsen in den nächsten Jahren um durchschnittlich 60 Milliarden Euro pro Jahr. Ich will nicht, dass die Leute abgewürgt werden, ich will ihnen das Geld zurückgeben und sie mehr entlasten.
Das Geld hätten aber auch die großen Umbauvorhaben wie in der Energieversorgung nötig.
Da erwarte ich von den Grünen, dass sie nicht versuchen, die Krise zu nutzen, um ihre Ideologie durchzusetzen – nämlich Energieeinsparung zu erzwingen, indem man den Preis künstlich hochschraubt. Das werden die Menschen nicht akzeptieren. Die verzweifeln sonst und gehen daran kaputt, dass sie sich das Leben in der Gesellschaft nicht mehr leisten können.
Außenministerin Baerbock befürchtete jüngst, es könnte deshalb Volksaufstände geben.
Ministerin Baerbock schwadroniert vom Volksaufstand, Minister Habeck malt Untergangsszenarien. Das macht man doch als verantwortungsbewusste Politiker nicht! Wir sind gewählt, um die Menschen in dieser Phase zu unterstützen und nicht, um Angst zu verbreiten. Und deswegen sage ich noch mal: Wir brauchen ein ganz klares Bekenntnis, die Milliardensteuergewinne, die der Staat gerade macht, an die Bevölkerung zurückzugeben.
All diese Themen haben fast vergessen lassen, dass es eine Sommerpause gab oder was vorher war. Eine Ausnahme ist der SPD-Landesparteitag vom Juni: Da ist gut in Erinnerung, dass kaum mehr als jeder zweite Delegierte Sie als Parteichef wiederwählte. Welche Lehren ziehen Sie daraus mit zwei Monaten Abstand?
Ich habe am ersten Tag danach bereits gesagt, dass ich das als einen Auftrag wahrnehme. Ich bin von meiner Partei noch nie groß verwöhnt worden bei Wahlergebnissen. Deswegen habe ich auch gleich betont: Lasst uns gemeinsam gucken, dass wir es zusammen besser machen.
Gemeinsam? Wenn das schlechte Wahlergebnis von 57 Prozent ohne Gegenkandidaten ein Auftrag ist, dann müssen doch erstmal Sie selbst etwas ändern.
Die Berliner SPD hat 20.000 Mitglieder und bei denen erkennen wir immer viel Zuspruch für unsere Arbeit als Landesvorsitzende. Letztendlich ist das auch ein gemeinsamer Auftrag der Partei. So habe ich Parteiarbeit immer verstanden.
Sonst säßen Sie tatsächlich jetzt nicht hier. Über den Sommer hat es zudem bei mehreren Themen in der rot-grün-roten Koalition gehakt. Können wir ein paar davon durch gehen?
Fangen Sie an.
Da machen zum einen die Grünen den Eindruck, als würden sie gerne ihre Idee eines soldarisch finanzierten, also von allen zu bezahlenden Umwelttickets wieder aufleben lassen.
Ich bin ein großer Freund des 365-Euro-Tickets. Aber das muss freiwillig sein. Ein Zwangsticket wird es mit der SPD nicht geben. Die Menschen brauchen Entlastung und nicht eine weitere Belastung.
Dann hat Grünen-Fraktionschef Graf jüngst ein „Recht auf Rausch“ und die Freigabe harter Drogen in kleinen Mengen gefordert.
Ich habe vor Jahren als einer der Ersten in der SPD gesagt, dass wir Cannabis entkriminalisieren müssen. Aber eine Freigabe harter Drogen wie Kokain und Heroin lehne ich strikt ab: Diese Drogen zerstören Menschen. Wir hatten das schon ausführlich in den Koalitionsverhandlungen diskutiert. Wer so etwas fordert, spielt mit der Gesundheit von Menschen. Und ich weiß gar nicht, ob Werner Graf sich damit einen Gefallen getan hat.
Warum meinen Sie das?
Fragen Sie doch mal die Berlinerinnen und Berliner, was sie von dem Vorschlag halten, tödliche Substanzen freizugeben und sie damit zu entkriminalisieren.
Blicken wir auf die Linkspartei und deren Haltung zu Autobahnblockaden durch Klimaaktivisten. Da könnte man das Gefühl haben, dass die Justizsenatorin nicht vollends an einer Strafverfolgung interessiert ist.
Ich unterstütze die Position von Innensenatorin Iris Spranger …
… die zu Ihrer Partei gehört und erwartet, dass die Justiz dabei auch zu Verurteilungen kommt. Aber die Justizsenatorin der Linken sagt dazu: Man lebe in einem Rechtsstaat mit Gewaltenteilung, da hätten politische Einflussnahmen nichts verloren.
Ich respektiere die Gewaltenteilung. Aber was macht das mit Menschen, die auf der Autobahn stecken bleiben und unverschuldet Stunden zu spät zur Arbeit kommen? Oder die dadurch einen lang erwarteten Termin beim Arzt verpassen? Es gab sogar Fälle, bei denen Schwangere auf dem Weg zur Entbindung oder Krankenwagen wegen der Blockaden im Stau stecken geblieben sind.
Die Aktivisten verweisen auf die Demonstrationsfreiheit.
Demonstrationen und Proteste sind legitim, gar keine Frage. Aber man muss gucken, dass man das so macht, dass nicht tausende Menschen darunter leiden. Man kann auch anders Aufmerksamkeit erlangen, so wie Greenpeace das oft gemacht hat.
Da haben sich Leute etwa mit Schlauchbooten vor riesige Walfänger gestellt…
… oder sind an Fassaden geklettert und haben damit auf ihre Sache aufmerksam gemacht. Aber die haben nicht zigtausende Menschen blockiert.
Nochmal zum Energiesparen: Regierungschefin Giffey propagiert dazu Achtsamkeit. Wie sieht das in Ihrem Privatleben aus? Wie versuchen Sie, die eine oder andere Kilowattstunde zu sparen?
Ich glaube, dass sich die Menschen ihrer Verantwortung bewusst sind, dass man jetzt gemeinsam seinen Beitrag zum Energiesparen leisten kann und muss. Ich glaube, dass das eine sehr, sehr weit verbreitete Haltung ist.
Da glauben Sie wirklich?
Ja, davon bin ich überzeugt – die Menschen sind doch nicht dumm, leisten schon jetzt ihren Beitrag und sind auch darüber hinaus bereit, mehr zu tun. Was nicht ankommt, ist der Zeigefinger, der permanent ermahnt. Ich mag diese Arroganz nicht: Die Leute brauchen keinen drei Mal schlauen Habeck dazu, der besserwisserisch auf sie einredet, oder einen Ministerpräsidenten der Grünen, der der Bevölkerung zum Waschlappen rät.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge