Berlin stoppt Verkehrswende: Rad ab im Senat
Der Planungsstopp für Radwege stößt auf heftige Kritik. Es droht der Verlust von schon genehmigten Fördermillionen.
Überschrieben ist der Grünen-Antrag für den 28. Juni mit „Bauen, Bauen, Bauen! Sicherheit statt Ideologie in der Verkehrspolitik“. Darin fordern die Grünen das Bezirksamt auf, „alle abgestimmten, bereits angeordneten oder finanzierten Projekte zur Verbesserung des Fuß- und Radverkehrs auch weiter umzusetzen“. Zudem solle der Bezirk auf den Senat einwirken, seine „destruktive Blockadehaltung“ gegenüber der Verkehrswende aufzugeben.
Der Grüne Pascal Striebel sagte: „Die CDU hat beschlossen, lieber Parkplätze zu schützen als Menschen.“ Die Union wolle den Bezirken ihre Ideologie des „Auto first“ aufzwingen, eingeworbene Fördergelder in Millionenhöhe drohten zu verfallen. Striebel forderte den Senat auf, zum Miteinander von Senat und Bezirken zurückzukehren.
Anlass für die Aufregung ist die Ankündigung des schwarz-roten Senats vom Freitag, sämtliche laufenden Projekte für den Ausbau von Fahrradinfrastruktur überprüfen zu wollen, die einen Wegfall von Fahrstreifen oder Parkplätzen zur Folge hätten oder über lange Strecken Tempo 30 vorsähen. Während europaweit Hauptstädte auf autofreie Innenstädte setzen und Parkplätze abschaffen, will Berlin „künftig andere Maßstäbe an die Straßenaufteilung setzen“, wie Schreiner an den Bezirk Lichtenberg schrieb. Die Pläne zogen eine Spontan-Demo von Fahrrad-Aktivist*innen noch am Freitag nach sich.
Auf den Barrikaden
Die Grünen Mitte sind auch am Montag noch auf den Barrikaden: Man fordere vom Koalitionspartner SPD „ein deutliches Signal gegen das verheerende Moratorium“. Auch hier sah man durch den „Ausbau-Stopp“ bereits zugesagte Fördergelder gefährdet. Radfahren sei kein Freizeitsport, sondern Alltag und eine Alternative zum Auto – gleichzeitig verunglückten viele Radfahrende aufgrund mangelnder Sicherheit der Radinfrastruktur. Hendrik Böckermann von den Grünen Mitte sagte: „Ein Radinfrastruktur-Ausbau ohne Wegfall einzelner Autoparkplätze ist nicht möglich und im Zweifel gefährdet die Senatorin mit ihrer Entscheidung Menschenleben.“ Auch die SPD-Fraktion in Mitte lehnt „den von Schreiner ausgerufenen Kulturkampf ‚Vorfahrt für Autos‘“ ab.
Diese vehemente Kritik äußern allerdings nicht alle in der Berliner SPD. Tino Schopf, verkehrspolitischer Sprecher der Berliner SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, kann die Sorgen der Verbände zwar verstehen, ist der Prüfung aber nicht abgeneigt: „Dort, wo Fahrradprojekte zu Lasten des öffentlichen Personennahverkehrs gehen, müssen wir noch mal hinschauen“, sagt er. Projekte, die demnächst in den Bau gehen könnten, will er aber nicht streichen. In den nächsten 14 Tagen will er erste Ergebnisse sehen und dann mit der CDU „zukunftsgerichtet“ über die einzelnen Projekte sprechen. Dabei verweist er auch auf den Koalitionsvertrag, in dem ein Ausbau der Fahrradinfrastruktur festgehalten sei.
Der Senat konnte auf Anfrage nicht konkret benennen, wie viele Projekte betroffen sind. Eine taz-Abfrage bei den Bezirken ergab, dass tatsächlich einige Radwege betroffen sind, bei denen nun infolge des Stopps in erheblichem Ausmaß Fördergelder verlorengehen könnten – insbesondere bei Projekten kurz vor Baubeginn, die noch in diesem Jahr umgesetzt werden sollen.
So sieht Bezirksstadträtin Saskia Ellenbeck (Grüne) aus Tempelhof-Schöneberg besonders die Radspuren in der Grunewaldstraße und die Hauptstraße zwischen Kleistpark und Dominicusstraße gefährdet. Hier stünden 5,8 Kilometer Fahrradweg auf der Kippe. Die Hauptstraße wird mit 750.000 Euro vom Bund gefördert, die Grunewaldstraße mit 800.000 Euro. Einen Aufschub der Projekte könne man sich „angesichts der Kapazitäten der Firmen im fortgeschrittenen Jahr“ nicht leisten.
„Schlechtes Regieren“
Neuköllns grüner Bezirksstadtrat Jochen Biedermann nannte Schreiners Vorstoß „ein Paradebeispiel für schlechtes Regieren“. Er gehe davon aus, dass geplante Radwege in der Sonnenallee, der Stubenrauchstraße und der Hermannstraße betroffen seien – allein bei der Sonnenallee drohten 573.000 Euro Fördermittel zu verfallen. Selbst wenn Maßnahmen nach der Prüfung wieder freigegeben werden, führe diese ideologische Politik dazu, dass Fördergelder verfielen, so Biedermann.
Seine Kollegin aus Mitte, Almut Neumann (Grüne), berichtete Ähnliches: In der Beusselstraße in Mitte wolle man einen mit 583.000 Euro geförderten geschützten Radstreifen in diesem Jahr auf die Straße bringen. „Die Strecke dort ist eine wichtige Nord-Süd-Verbindung, aber zurzeit tatsächlich lebensgefährlich für Menschen auf dem Rad. Wir müssen dort so schnell wie möglich handeln“, sagte sie.
In Lichtenberg würde der Radverkehrsplan um Jahre zurückgeworfen, wie Filiz Keküllüoğlu (Grüne) der taz sagte – vor allem mit Blick auf die Planung für eine „protected bike lane“ in der Siegfriedstraße. Sie habe die Sorge, dass alle Projekte, die in diesem Jahr abgerechnet werden müssen, durch die Prüfungsvorbehalte akut gefährdet sind.
In Bezirken, wo die CDU den Verkehrsstadtrat stellt, ist man deutlich entspannter: etwa in Pankow, wo mit elf Projekten besonders viele Radwege von dem Stopp betroffen sind. Das größte ist der Panke-Trail, der als Radschnellverbindung von Pankow nach Mitte verlaufen soll und 18 Kilometer lang ist. Dennoch ist Bezirksstadträtin Manuela Anders-Granitzki positiv gestimmt. Sie verstehe die Mail der Senatsverwaltung nicht als Absage, vielmehr sollten dadurch sichere Radwege gebaut werden, so Anders-Granitzki. In Reinickendorf gibt es noch keine Zahlen. Dort will man erst die Prüfung der Senatsverwaltung abwarten und dann selber prüfen.
Alle Verkehrsteilnehmer im Blick
Im Westen fühlt man sich von Verkehrssenatorin Schreiner hingegen unterstützt. So könne die Charlottenburger Chaussee nun saniert werden, ohne eine Fahrspur zu verlieren, sagt der Spandauer Bezirksstadtrat Thorsten Schatz (CDU). Dieses Projekt werde durch Bezirksmittel gestemmt und sei somit gesichert, versicherte er zusätzlich. Er ist überzeugt: „Dass das Vorhaben, alle Verkehrsteilnehmer gleichermaßen in den Blick zu nehmen, die notwendige Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung deutlich erhöht.“
Etwas zwiegespalten ist der langjährige Fahrradaktivist Heinrich Strößenreuther, der 2021 für viele überraschend in die CDU eingetreten ist. Auf taz-Anfrage, ob er nun wieder austreten wolle, sagte er mit Bestimmtheit: „Nee!“ Er habe mehrfach mit Senatorin Schreiner und der zuständigen Staatssekretärin Claudia Strutz gesprochen. Er ist der Überzeugung, dass es Schreiner wirklich um eine Beschleunigung der Prozesse und um mehr Radwege ginge. Die Aufregung halte er ein Stück weit für einen „Sturm im Wasserglas“.
Er gestehe Schreiner zu, sich nach der Amtsübernahme zunächst einmal einen Überblick verschaffen zu wollen und verschiedene Projekte kurzzeitig einzufrieren – mit Betonung auf kurzzeitig: „Ich gehe jetzt schon mal in den Keller und suche das Kriegsbeil. Wenn es in drei Monaten nicht weitergeht, hole ich es hoch“, sagt Strößenreuther. Besonders, wenn durch das Einfrieren Fördermittel verloren gingen, fände er das ärgerlich. Insofern könne er auch die Aufregung in der Verkehrswendebewegung verstehen. Aber noch sei er optimistisch: „Ich habe mittlerweile drei Kisten Bier verwettet, dass in drei Jahren mehr passiert ist als davor unter den Grünen“, sagt Strößenreuther.
Langfristiges Problem
Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club Berlin (ADFC) hingegen ist noch immer über das Vorhaben der Verkehrssenatorin entsetzt: „Uns ist das Herz in die Hose gerutscht“, sagt Pressesprecher Karl Grünberg. Noch vor zwei Wochen hatte der Fahrradverein der neuen Koalition eine Schonfrist von 100 Tagen zugestanden, die sei jetzt vorbei, so Grünberg. Er sieht ein langfristiges Problem auf Berlin zukommen: Der Planungsstopp gefährde Fördergelder, ohne das Geld werde aber auch nicht mehr geplant. Falls durch die kommende Sommerpause Gelder wegfallen, stellt Grünberg die Frage: „Wie lange soll der Stopp dauern?“ Immerhin einen Punkt sieht Grünberg positiv: es ist kein genereller Stopp von Fahrradwegen geplant. „Ohne Fahrrad geht es nicht mehr, das muss auch die Koalition akzeptieren“, so Grünberg.
Der Verein Changing Cities will seine Schonfrist noch nicht ganz aufkündigen, aber: „Wir wollen jetzt bundesweit mobilisieren“, sagt Pressesprecherin Ragnhild Sørensen. Berlin habe schließlich Strahlkraft: „Der Klimaschutz kommt dadurch auch anderswo unter Druck“, sagt sie.
Der Verein will außerdem juristisch prüfen, ob Senatorin Schreiner ihre Kompetenzen überschritten hat. Die verantwortlichen Stellen dürften nun nicht mehr zwischen der Leichtigkeit des Verkehrs und seiner Sicherheit abwägen. „Das erinnert an Micromanagement“, sagt Sørensen. Zu dem Vorhaben, Parkplätze zu sichern, kann sie nur schmunzeln: „Der Senat verfügt über gar keine Daten zu Parkplätzen in Berlin.“ Ihr Verein würde die gerade erst zusammentragen.
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