Berlin bereitet sich auf Gas-Stopp vor: Radikal hilft auch hier nicht
Wenn der Senat entscheidet, was an Beleuchtung noch erlaubt bleibt, muss auch die Psychologie eine Rolle spielen.
D ie Entscheidung, wo in Berlin wie viel an Energie einzusparen und was möglicherweise an Energienutzung verboten ist, soll nicht nur unter energiepolitischen Gesichtspunkten fallen. So hat es am Dienstag dieser Woche Wirtschaftssenator Stephan Schwarz versprochen. Wirtschaftliche und soziale Überlegungen sollen ebenfalls eine Rolle spielen. Verfolgt der rot-grün-rote Senat, der darüber in der übernächsten Woche entscheiden will, tatsächlich diese Linie, wäre das überaus wünschenswert. Ein radikales Sparen um des Sparens willen, teils allein wegen der Symbolhaftigkeit, darf es nicht geben.
Nicht jede eingesparte Kilowattstunde ist an jeder Stelle die Nachteile wert, die damit einhergehen. Ausgewogenheit ist angesagt – eine „One size fits all“-Lösung gebe es nicht, stellte Schwarz' Senatskollege Klaus Lederer zu Recht fest. Wenn etwa an der einen Stelle ein Energiestopp zu Arbeitsplatzverlust führt, an der anderen aber bloß zu einer niedrigeren Zimmertemperatur, dann wäre schon angesagt, zum Erhalt des Arbeitsplatzes die Heizung um ein weiteres halbes Grad zu drosseln und tatsächlich den dicken Pullover anzuziehen.
Das zu raten ist aber offenbar verpönt: Als es jüngst in Brandenburg die grüne Sozialministerin tat, hielt ihr die Kollegin vom SPD-geführten Finanzressort sinngemäß entgegen, mit solchen Ratschlägen sollte sie sich mal zurückhalten – sie fühle sich da an Thilo Sarrazin erinnert. Als ob dessen durchaus sinniger Pullover-Ratschlag von 2008 dadurch entwertet wäre, dass der Mann später sehr viel weniger sinnige Gedanken in Buchform veröffentliche.
Augenmaß ist gerade dort unabdingbar, wo kleine Schnitte ohne große Wirkung viel kaputt machen können. Das gilt gerade mit Blick auf adventliche Beleuchtung und Weihnachtsmärkte, auch wenn das gerade angesichts langer Abende und knapp 40 Grad im Schatten weit weg scheint. Bisher kommt noch reichlich Strom aus der Steckdose, und zu kalt ist auch noch keinem. Dennoch warnen Verfassungsschützer bereits vor aufgeheizten Debatten, wenn nicht gar Ausschreitungen, und Außenministerin Annalena Baerbock befürchtete jüngst gar „Volksaufstände“ bei einem Gasstopp.
Auch die Stimmung zählt
Bei Energieknappheit, steigenden Preisen, erneuten Einschränkungen wegen steigender Corona-Zahlen und langen dunklen Nächten haben Licht und Beleuchtung eine große psychologische Wirkung. Es macht stimmungsmäßig schon etwas aus, ob im Advent eine Lichterkette in der Straße hängt und der Weihnachtsmarkt wenigstens mit Sparbeleuchtung und Wachskerzen öffnen darf. Das Brandenburger Tor nach Mitternacht oder besser noch eine Stunde früher nicht mehr anzustrahlen ist gut – weil es dann sowieso nur noch wenig Leute sehen. Es aber schon vorher zu tun, hieße, ein großes Symbol westlicher Freiheit noch bei regem Betrieb vor dem Tor im Dunkel versinken zu lassen.
All das sind punktuelle Energie-Investitionen, die eine Funktion erfüllen. Die Adventsbeleuchtung muss ja nicht weiterhin so überbordend aussehen wie in US-amerikanischen Weihnachtsfilmen. Das wäre schon deshalb angesagt, weil Stromsparen auch jenseits von Krieg und Gas-Lieferstopp hilft, um weniger von der gerade wieder viel diskutierten Atomenergie abhängig ist zu sein. Denn ohne die geht es vorerst selbst dann nicht, wenn auch die letzten deutschen AKWs abgeschaltet sind – nur kommt der Atomstrom dann eben aus dem Ausland.
Zum anderen – und das ist noch bedeutsamer – können solche Lichter in dunkler Zeit dazu beitragen, nicht komplett in Tristesse zu verfallen und sich am Ende noch den von Baerbock befürchteten Aufständen anzuschließen. Hardcore-Klimaschützer könnten nun sagen: Erst die absolute Dunkelheit, der absolute Black-out zeigt den Menschen, wie bedrohlich die Lage ist. Mag sein. Doch wenn in der Konsequenz manchen Menschen in ihrer Verzweiflung ihr eigenes Leben oder das anderer nicht mehr lebenswert erscheint, wäre das ein Preis, den keine Sparanstrengung wettmachen könnte.
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