Berlin aus dem Takt: Jeden Tag ein bisschen schlechter
Ob Schulessen, ÖPNV oder Behördengänge – es läuft einfach nicht in der Hauptstadt. CDU-Senatschef Kai Wegner hatte mal das Gegenteil versprochen.
Der hatte sich wegen der nicht ganz so pfiffigen Vergabepraxis völlig übernommen und musste plötzlich 40.000 statt wie bisher 5.000 Mittagessen liefern – was er natürlich nicht konnte.
Aylin Yılmaz gibt es in Wirklichkeit nicht. Sie könnte auch Susanne heißen oder Karl. So oder so muss unsere fiktive Mutter schnell los, um nach dem Schulbroteschmieren ihren 3-jährigen Sohn in die Kita zu bringen. Ihr Partner kann das heute nicht übernehmen, er musste für einen kranken Kollegen einspringen – Busfahrer*innen sind derzeit in Berlin Mangelware.
Am U-Bahnhof Eberswalder Straße angekommen wundert sich Yılmaz: Eben stand die Anzeige noch bei 4 Minuten. Plötzlich verschwindet der Eintrag und ein neuer erscheint: 12 Minuten. Nach einer halben Stunde ist die hoffnungslos überfüllte U2 endlich da und Yılmaz ist gestresst: Sie weiß, sie kommt zu spät.
BVG-Takt – völlig losgelöst
Wie andere Linien ist auch die U2 vollkommen aus dem Takt. Das Grundproblem ist lange bekannt: Der Fuhrpark ist überaltert und störanfällig. Bestellte neue Züge kommen nicht vor 2025 – und selbst das halten Expert*innen für Augenwischerei.
Inzwischen melden sich zudem die Fahrer*innen reihenweise krank. Allein am Sonntag sollen fast 60 U-Bahnen personalbedingt ausgefallen sein. Seit Dienstag habe sich die Situation aber „erkennbar entspannt“, teilt die BVG am Mittwoch auf taz-Anfrage mit. Wo auch immer das erkennbar ist.
Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU) nahm es im Juli noch locker. „Ich glaube, da müssen wir eine andere Haltung bekommen. In anderen Städten fährt die U-Bahn alle 10, alle 15 Minuten“, sagte sie zu den schon im Sommer allgegenwärtigen Klagen über Verspätungen. Das kam nicht so gut an. Mittlerweile wirbt Bonde um Verständnis und würdigt „das große Bemühen aller Beteiligten, ein weitgehend verlässliches Angebot wiederherzustellen“.
Nächster Kita-Streik kommt bestimmt
Aylin Yılmaz hilft das wenig. In der Kita ihres Sohnes folgt der nächste Schock: Ab Montag treten die Erzieher*innen möglicherweise in einen unbefristeten Streik, erzählt eine andere Mutter. Yılmaz schaltet sofort in den Krisenmodus: Wie kann sie in der nächsten Woche die Kinderbetreuung organisieren? Schließlich muss sie ja auch noch Geld verdienen.
Sie ist schon geübt in kurzfristiger Notfallbetreuung, allein in diesem Jahr ist die Kita schon 24 Mal ausgefallen. Weniger wegen Streiks, sondern meistens, weil die Erzieher*innen krank waren. Sie verkraften die Belastung einfach nicht mehr. Auch Yılmaz’ Stresslevel liegt bei 180 – dabei ist es erst 7.30 Uhr morgens.
Doch es nützt nichts, sie muss weiter, ihre Tochter in die Schule bringen. Und anschließend zum Bürgeramt an der Schlesischen Straße in Kreuzberg, wo sie einen der begehrten Termine ergattert hat. Sechs Wochen hat sie darauf gewartet. Yılmaz muss dringend einen Kinderreisepass beantragen, bald sind Herbstferien.
Und wenn sie schon mal da ist, kann sie auch gleich einen neuen Wohngeldantrag stellen. Dafür ist sie eigentlich zu spät dran, Ende des Jahres läuft ihr Wohngeld aus und die durchschnittliche Bearbeitungszeit in Kreuzberg liegt derzeit bei mehr als sechs Monaten. Mit sechs Wochen Wartezeit auf einen Termin liegt Yılmaz genau im Durchschnitt.
Hauptsache, irgendein Bürgeramtstermin
Vom erklärten Ziel, dass Berliner*innen innerhalb von 14 Tagen einen Termin beim Bürgeramt bekommen, will der Senat nichts mehr wissen. Jüngst erklärte Senatschef Kai Wegner (CDU), er werde und könne kein Datum für die Umsetzung seines Wahlversprechens nennen. Und überhaupt: „Ich glaube, dass für viele Berlinerinnen und Berliner dieses 14-Tage-Ziel ehrlicherweise gar nicht so wichtig ist.“ Stattdessen gehe es darum, „schnell einen Termin“ zu bekommen, „wenn es notwendig ist“. Das hat bei Aylin Yılmaz schon mal nicht funktioniert.
Auf dem Weg zum Bürgeramt steigt sie im U-Bahnhof Schlesischen Tor über einen offenbar zugedröhnten Mann, der auf der Treppe liegt. Ein anderer Mann bettelt sie an. Anderen geht es noch schlechter als mir, versucht sich Yılmaz die desolate Lage schönzureden und gibt ihm 50 Cent. Für die vielen Drogenabhängigen und Obdachlosen in der Stadt interessiert sich der Senat merklich auch nicht so richtig. Wirklich besser geht es Yılmaz damit nicht.
Um das Schlesische Tor herum stapelt sich Sperrmüll. Baucontainer werden genutzt, um eigenen haushaltsüblichen – und unüblichen – Schrott dazuzuwerfen. Vorbildliche Partygänger*innen haben ihre Flaschen neben die vollen Mülltonnen gestellt. Die Flaschen der nicht so Vorbildlichen liegen zerbrochen auf dem Gehweg.
Dabei hatten SPD und CDU in ihrem Koalitionsvertrag eine „Sauberkeitsoffensive“ angekündigt, „um die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum“ zu erhöhen. Zwar wurden für die Reinigung von Straßen, Plätzen und Grünflächen im Haushalt 2024/25 fast 50 Millionen Euro zusätzlich eingeplant. Auch stieg die Zahl der von der BSR gesäuberten Parks im Sommer von zuletzt rund 80 auf 102. Mit den Straßen kommt das Unternehmen offenkundig aber nicht mehr hinterher – zumindest nicht in Kreuzberg.
„Mit harter Arbeit und guten Ideen“
Die Stadt scheint zunehmend vor die Hunde zu gehen, denkt sich Yılmaz, als sie am defekten Fotoautomaten vorbeigeht. Dabei hatte die CDU doch versprochen, die Stadt sauberer und funktionsfähiger zu machen. „Wir wollen mit harter Arbeit und guten Ideen dafür sorgen, dass Berlin jeden Tag ein bisschen besser funktioniert“, hatte Kai Wegner getönt. Deswegen hat Yılmaz 2023 auch CDU gewählt.
Stattdessen wird es jeden Tag gefühlt ein bisschen schlimmer. Doch Yılmaz hat keine Zeit, darüber nachzudenken: Ihre Nummer wird aufgerufen. Sie hat noch 20 Minuten, bis sie zu ihrem Job als Pflegerin in der Charité muss. Dann fängt der Stress eigentlich erst richtig an.
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