Berichte aus russischer Gefangenschaft: Verhört, gequält, „Müll“ genannt
Auf russisch besetztem Gebiet gibt es viele willkürliche Festnahmen. Drei Männer erzählen, was Gefangenschaft und Folter mit ihnen gemacht haben.
Das Deutsche Rote Kreuz hat jüngst bekannt gegeben, dass es seit Kriegsbeginn rund 700 Suchanfragen zu vermissten Personen durch Angehörige erhalten habe. Viele werden vom russischen Geheimdienst, dessen Helfershelfern aus den Reihen der ostukrainischen Separatisten und ukrainischen Polizisten, die auf die russische Seite übergelaufen sind, festgenommen, gefoltert und nach einigen Wochen ohne Erklärung nachts geweckt, aus der Haft entlassen und auf die andere Seite abgeschoben.
So wie die drei Männer, deren Aussagen zeigen, dass man in den von Russland kontrollierten Gebieten schon wegen einer Kleinigkeit für Wochen in Gefängnissen des Geheimdienstes landen kann. Betreut werden sie derzeit von der Menschenrechtsgruppe Charkiw.
Sergej Sasonows Ex-Frau flehte: „Hol mich da raus!“
Sergej Sasonow sitzt auf der Veranda eines Cafés am Flüsschen Lopan, das sich mitten durch die zweitgrößte Stadt der Ukraine schlängelt, raucht Kette und trinkt starken Kaffee. Der Softwareingenieur schreibt und verkauft Automatisierungsprogramme für Fahrstühle, Kameras, Getreidespeicher und Kältekammern. Sein Hobby sind schnelle Motorräder. Er ist es gewohnt, zu bestimmen, was gemacht wird, sagt er. Sein ganzes Leben habe er in Charkiw verbracht.
Eines Tages nach dem 24. Februar erhält er einen Anruf von seiner Ex-Frau, die inzwischen mit der gemeinsamen Tochter nach Kupjansk gezogen ist. Die Russen stünden vor der Stadt. „Hol mich da raus!“, fleht sie ihn an. Er macht sich auf den Weg mit seinem Auto, doch er kommt zu spät.
Zwar gelingt es ihm, in die Stadt zu kommen, doch schnell erkennt er, dass er nicht mehr herauskommt. Und da er jemand ist, der sich von anderen nicht sagen lässt, was er zu tun und zu lassen hat, gerät er mit den russischen Besatzern immer wieder aneinander.
Vier Mal wird er festgenommen werden. Mal wird er festgenommen und verhört, weil er sich nicht an die Ausgangssperre gehalten hat, ein anderes Mal, weil die Russen seine Schrammen im Gesicht, die er sich bei einem Motorradunfall zugezogen hat, verdächtig finden. Sie glauben, die habe er sich im Kampf gegen die Separatisten geholt.
Ukrainische Hymne als Weckmelodie
Nach seiner vierten Verhaftung dauert es Wochen, bis er wieder freikommt. „Dieses Mal bin ich verhaftet worden wegen meiner proukrainischen Position. Mit mir in Haft war ein Bekannter. Ihn hatten sie wegen Drogenhandel festgenommen.
Als er die Folter nicht mehr ausgehalten hat, hat er mich verraten, hat ihnen gesagt, dass ich auf meinem Telefon die ukrainische Nationalhymne als Weckmelodie habe. Bei den Verhören haben sie uns Klammern an Ohrläppchen und Genitalien geheftet und dann Strom durchgejagt.“
Jetzt sei er voller Hass, sinne auf Rache. „Ich war nie ein Nationalist. Doch nach all den Foltern bin ich zum Nationalisten geworden.“ Er habe viele Verwandte in Russland. Aber nach dieser Erfahrung habe er alle Kontakte zu Russen abgebrochen. „Die sind ja alle Zombies“.
Sorge mache ihm nun, dass die sein Smartphone hätten. Nun könnten sie sein Adressbuch durchgehen, in seinem Namen in den sozialen Netzen irgendwelche Texte posten, fürchtet er.
Maxim Dolenko wurde ein Sack über den Kopf gezogen
Maxim Dolenko arbeitete gerade in Kupjansk auf dem Bau, schwarz, als die russischen Truppen kamen. Nirgendwo war er registriert. Und so hätte niemand nach ihm gefragt, wenn er nicht nachts auf der Straße bei einer Kontrolle angehalten worden wäre.
„Eigentlich wurde ich festgenommen, weil ich die Sperrstunde nicht eingehalten habe. Doch dann haben sie sich mein Smartphone angesehen und dabei entdeckt, dass ich einen Freund bei der ukrainischen Armee habe. Und ja, es stimmt, ich habe ihm auch ein Video einer russischen Militärkolonne geschickt.“
Lange, sehr lange habe man ihn verhört, berichtet er stockend. Und immer wieder hätten sie gefragt, wo denn sein Freund derzeit sei. Er hatte es ihnen nicht gesagt, einfach auch deswegen, weil er es selbst nicht wusste. Dann habe man ihn 20 Tage inhaftiert, mit mehr als 20 Personen sei er in einer Zelle gewesen, die für vier Personen vorgesehen sei. Nach den schmerzhaften Verhören sei das Schlimmste in den Zellen die schlechte Luft gewesen.
Beistand von Menschenrechtsgruppe
Wer ihn verhört und gequält hat, wird er wohl nie erfahren. Seine Peiniger hatten ihm einen Sack über den Kopf gezogen, ihn immer nur mit „Müll“ angesprochen.
Er werde erst einmal in Charkiw bleiben. Da hat ihn auch die „Menschenrechtsgruppe Charkiw“ unter ihre Fittiche genommen. Die Helfer unterstützen Opfer russischer Gefangenschaft und Folter „materiell, mit Rat und Tat, leisten juristischen Beistand“, berichtet der Vorsitzende der Gruppe, Jewgenij Sacharow, gegenüber der taz.
Maxim Dolenko wird sich erst mal eine Arbeit suchen oder sich freiwillig zur Armee melden. Seine Mutter und seine Freundin sind noch in Kupjansk. „Aber ich bin mir sicher, ich werde beide wiedersehen“, sagt er – und zum ersten Mal im Gespräch lacht er.
Jewgenij Hajdarow wurde auf den Kopf geschlagen
„Ich habe einer russischen Militärkolonne den ausgestreckten Mittelfinger gezeigt. Das habe ich meinem Kumpel gesagt. Und ich habe ihm auch gesagt, dass ich schon mal zu Hause die ukrainische Nationalhymne singe.“
Was Jewgenij nicht wissen kann: Dieser „Kumpel“ sympathisiert mit der russischen Seite. Wenig später holen die ihn ab, die Adresse hat ihnen der „Kumpel“ verraten. Auch Jewgenij wird gefoltert und geschlagen. Mit dabei gewesen seien auch ukrainische Polizisten, die zur russischen Seite übergelaufen seien.
„Immer das gleiche Spiel: die Zellentür geht auf, und sie rufen einen Namen. Ist es deiner, musst du in den Gang, sie stülpen dir einen Sack über den Kopf, legen dir Handschellen an. Und kaum im Verhörraum angekommen, geht es los: Sie schlagen dich, auf die Nieren, die Brust, foltern mit Strom, an den Ohren, den Fingern, den Genitalien. Einmal haben sie mir einen Polizeihelm aufgesetzt und dann draufgeschlagen.“ An den nächsten Tagen sei er am ganzen Körper blau gewesen.
„Die wollten von mir Informationen. Die haben gesehen, dass ich mit ukrainischen Militärs befreundet bin, selber auf einer Akademie der Luftstreitkräfte Kurse belegt hatte. Und sie haben auch in meinem Smartphone gesehen, dass ich über Telegram Informationen über die russischen Besatzungstruppen weitergegeben hatte.“
Einmal habe er drei Tage lang Handschellen angehabt, habe zwei Mal eine ganze Nacht stehen müssen. „Ich bin froh, dass ich noch laufen kann. Bei meiner Freilassung haben die Russen mir gesagt, mir sei die Einreise in die 'befreiten Gebiete 25 Jahre verboten. Da kann ich nur lachen. Ich glaube, ich werde schon viel früher in ein befreites Kupjansk reisen können“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Die Wahrheit
Der erste Schnee
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten