Behörden ignorierten Gerichtsbeschluss: Wende in Chemnitzer Abschiebefall
Ein Gericht entscheidet, dass ein abgeschobener Marokkaner doch nicht zurückgeholt wird. Gleichzeitig gestehen Behörden erstmals Fehler ein.
Der Fall ist komplex: Am 11. Juli sollte der 34-jährige Mehdi Nimzilne, der bis dahin geduldet in Deutschland gelebt hatte, in sein Herkunftsland Marokko abgeschoben werden. Während er auf dem Weg zum Flughafen war, entschied das Verwaltungsgericht Chemnitz, dass die Abschiebung gestoppt werden muss, weil Nimzilne mit einer Deutschen verheiratet ist.
Dies gaben die sächsischen Behörden jedoch nicht an die Bundespolizist*innen weiter, die die Abschiebung durchführten. Nimzilne wurde nach Casablanca ausgeflogen. Die Folge war ein öffentlicher Aufschrei. Das Verwaltungsgericht Chemnitz urteilte kurz nach der Abschiebung, dass der Mann zurückgeholt werden muss.
Am Montag kam dann die Wendung: Das Oberverwaltungsgericht Bautzen hob beide Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Chemnitz auf. Laut den Beschlüssen, die der taz vorliegen, war die Abschiebung rechtens, weil nicht vorgetragen worden sei, „dass die Ehepartner im besonderen Maße aufeinander angewiesen seien“. Zur Begründung verweisen die Richter*innen darauf, dass Nimzilne in Chemnitz wohnte, seine Frau aber im weit entfernten Bochum lebt. Sonstige Gründe, die gegen eine Abschiebung sprechen, gebe es nicht. Auch die Entscheidung der Chemnitzer Richter*innen, dass Nimzilne zurückgeholt werden muss, kassierte das Oberverwaltungsgericht.
Anwältin prüft Anzeigen gegen Behörden-Personal
Die Anwältin des Abgeschobenen, Inga Stremlau, sagte der taz am Donnerstag, rein juristisch seien die Entscheidungen „vertretbar“. Sie kündigte aber an, eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zu prüfen. Grundlage könne etwa eine Verletzung von Artikel 6 des Grundgesetzes sein, der Ehe und Familie unter besonderen Schutz stellt.
Zur Argumentation des Bautzener Gerichts, wonach Nimzilne und seine Ehefrau zu weit voneinander entfernt gewohnt hätten, um die Ehe als Abschiebungshindernis zu werten, sagt Stremlau: „Das lag nicht in der Kontrolle meines Mandanten.“ Als Geduldeter unterlag er der sogenannten Wohnsitzauflage, durfte also nicht ohne Erlaubnis aus Chemnitz wegziehen. Den nötigen Antrag für den Umzug habe ihr Mandant vor Monaten bei der Ausländerbehörde Chemnitz gestellt, so Stremlau, dieser sei aber nicht bearbeitet worden. Die Stadt Chemnitz äußerte sich auf taz-Anfrage dazu nicht und verwies auf Datenschutzbestimmungen.
Stremlau betont außerdem, dass die Entscheidungen der Bautzner Richter*innen am ursprünglichen Skandal nichts änderten: Die Behörden schoben eine Person ab, obwohl eine zum damaligen Zeitpunkt gültige Gerichtsentscheidung dies klar untersagte. „Die Exekutive hat sich hier über bindende Beschlüsse der Judikative hinweggesetzt“, so Stremlau. Sie will deshalb Strafanzeigen und Dienstaufsichtsbeschwerden gegen die beteiligten Sachbearbeiter*innen bei der Stadt Chemnitz und der Landesdirektion prüfen. „Ein solcher Angriff auf rechtsstaatliche Grundsätze muss Konsequenzen haben.“
Dass bei der Abschiebung Fehler passiert sind, räumen inzwischen sogar die sächsischen Behörden ein, nachdem sie dies in der letzten Woche noch abgestritten hatten. Eine Sprecherin der Landesdirektion Sachsen (LDS) sprach am Donnerstag erstmals von „juristischen Fehleinschätzung der damit befassten Bediensteten“. Es sei „insbesondere ein Anliegen, klar und intern sicherzustellen, dass die Bindungswirkung von Gerichtsentscheidungen durch die LDS und ihre Bediensteten selbstverständlich beachtet und respektiert wird.“
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