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Behörden ignorierten GerichtsbeschlussWende in Chemnitzer Abschiebefall

Ein Gericht entscheidet, dass ein abgeschobener Marokkaner doch nicht zurückgeholt wird. Gleichzeitig gestehen Behörden erstmals Fehler ein.

Abschiebung gegen juristischen Widerstand: Sachsen fährt schon lange einen harten Kurs in der Migrationspolitik Foto: Thomas Banneyer/dpa

Berlin taz | Die sächsischen Behörden müssen den abgeschobenen Marokkaner Mehdi Nimzilne doch nicht nach Deutschland zurückholen. Das Oberverwaltungsgericht Bautzen hob einen entsprechenden Beschluss auf und kassierte auch noch eine weitere Entscheidung, laut der Nimzilne gar nicht erst hätte abgeschoben werden dürfen. Die Anwältin des Betroffenen will nun eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht prüfen.

Der Fall ist komplex: Am 11. Juli sollte der 34-jährige Mehdi Nimzilne, der bis dahin geduldet in Deutschland gelebt hatte, in sein Herkunftsland Marokko abgeschoben werden. Während er auf dem Weg zum Flughafen war, entschied das Verwaltungsgericht Chemnitz, dass die Abschiebung gestoppt werden muss, weil Nimzilne mit einer Deutschen verheiratet ist.

Dies gaben die sächsischen Behörden jedoch nicht an die Bun­des­po­li­zis­t*in­nen weiter, die die Abschiebung durchführten. Nimzilne wurde nach Casablanca ausgeflogen. Die Folge war ein öffentlicher Aufschrei. Das Verwaltungsgericht Chemnitz urteilte kurz nach der Abschiebung, dass der Mann zurückgeholt werden muss.

Am Montag kam dann die Wendung: Das Oberverwaltungsgericht Bautzen hob beide Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Chemnitz auf. Laut den Beschlüssen, die der taz vorliegen, war die Abschiebung rechtens, weil nicht vorgetragen worden sei, „dass die Ehepartner im besonderen Maße aufeinander angewiesen seien“. Zur Begründung verweisen die Rich­te­r*in­nen darauf, dass Nimzilne in Chemnitz wohnte, seine Frau aber im weit entfernten Bochum lebt. Sonstige Gründe, die gegen eine Abschiebung sprechen, gebe es nicht. Auch die Entscheidung der Chemnitzer Richter*innen, dass Nimzilne zurückgeholt werden muss, kassierte das Oberverwaltungsgericht.

Anwältin prüft Anzeigen gegen Behörden-Personal

Die Anwältin des Abgeschobenen, Inga Stremlau, sagte der taz am Donnerstag, rein juristisch seien die Entscheidungen „vertretbar“. Sie kündigte aber an, eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zu prüfen. Grundlage könne etwa eine Verletzung von Artikel 6 des Grundgesetzes sein, der Ehe und Familie unter besonderen Schutz stellt.

Zur Argumentation des Bautzener Gerichts, wonach Nimzilne und seine Ehefrau zu weit voneinander entfernt gewohnt hätten, um die Ehe als Abschiebungshindernis zu werten, sagt Stremlau: „Das lag nicht in der Kontrolle meines Mandanten.“ Als Geduldeter unterlag er der sogenannten Wohnsitzauflage, durfte also nicht ohne Erlaubnis aus Chemnitz wegziehen. Den nötigen Antrag für den Umzug habe ihr Mandant vor Monaten bei der Ausländerbehörde Chemnitz gestellt, so Stremlau, dieser sei aber nicht bearbeitet worden. Die Stadt Chemnitz äußerte sich auf taz-Anfrage dazu nicht und verwies auf Datenschutzbestimmungen.

Stremlau betont außerdem, dass die Entscheidungen der Bautzner Rich­te­r*in­nen am ursprünglichen Skandal nichts änderten: Die Behörden schoben eine Person ab, obwohl eine zum damaligen Zeitpunkt gültige Gerichtsentscheidung dies klar untersagte. „Die Exekutive hat sich hier über bindende Beschlüsse der Judikative hinweggesetzt“, so Stremlau. Sie will deshalb Strafanzeigen und Dienstaufsichtsbeschwerden gegen die beteiligten Sach­be­ar­bei­te­r*in­nen bei der Stadt Chemnitz und der Landesdirektion prüfen. „Ein solcher Angriff auf rechtsstaatliche Grundsätze muss Konsequenzen haben.“

Dass bei der Abschiebung Fehler passiert sind, räumen inzwischen sogar die sächsischen Behörden ein, nachdem sie dies in der letzten Woche noch abgestritten hatten. Eine Sprecherin der Landesdirektion Sachsen (LDS) sprach am Donnerstag erstmals von „juristischen Fehleinschätzung der damit befassten Bediensteten“. Es sei „insbesondere ein Anliegen, klar und intern sicherzustellen, dass die Bindungswirkung von Gerichtsentscheidungen durch die LDS und ihre Bediensteten selbstverständlich beachtet und respektiert wird.“

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16 Kommentare

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  • Was mich stutzig macht: wenn Nimzilnes Ehefrau deutsche Staatsbürgerin ist, warum lebte er mit einer Duldung, und hatte keine Aufenthaltserlaubnis? Wurde diese gar nicht erst beantragt?

    Irgendetwas fehlt aus dieser Geschichte...

  • "Die Stadt Chemnitz äußerte sich auf taz-Anfrage dazu nicht und verwies auf Datenschutzbestimmungen."

    Ist doch immer wieder klasse, wie Datenschutz in Deutschland ausgelegt wird...

    • @Bussard:

      Viel zu leicht entsteht so der Eindruck, man müsse diese Ausreden anstelle einer Rechtfertigung einer Behörde für ihr Handeln akzeptieren. Manche Bürger vergessen darüber, dass Datenschutz _ihren_ Interessen dient; sie vor behördlichen und gewinnorientierten Übergriffen in die Privatsphäre schützen soll.

      Solche Behörden haben Mitschuld an dem Irrtum, dass man "nichts zu verbergen" hätte, indem sie beiläufig und zusammenhangslos Verantwortungsbewusstsein suggerieren. In der Folge nehmen Bürger ihre Rechte kaum wahr, oder finden die vielen kommerziellen, überwachungsfinanzierten Dienste praktisch.

      …bis das Bewusstsein kippt, und man sich paranoid verfolgt und wehrlos fühlt.

      • @THu:

        Naja, in dem hier dargestellten Fall wäre eine transparente Aufklärung von allen Beteiligten von Vorteil. Aber gerade Datenschutz ist nunmal ein heißes Pflaster.

        Man stelle sich vor, eine Zeitung - vielleicht auch eine, die man selbst gerne liest - meldet sich bei einem an der Arbeit und möchte Informationen über einen bestimmten Fall. Begibt man sich da unbedacht auf Glatteis? Eigentlich sollten solche Dinge ja betriebsintern vertraulich bleiben; das kriegt man zumindest bei den meisten Arbeitsstellen, die man neu antritt, gleich zu Beginn eingeschärft.



        Wird zuviel nach außen getragen, gibt's halt Ärger.

    • @Bussard:

      Nein, es ist ein großer Nachteil für die Behörden, dass sie nie berichten können, was so alles in den Akten steht, aber nicht in den Medien - wie der jetzt bekannt gewordene Umstand, dass die Eheleute nicht zusammen lebten. Den durfte die Behörde nicht mitteilen, geht aber jetzt aus dem Urteil hervor.

      Es ist auch richtig, dass Inhalte aus Straf- oder Ausländerakten nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, aber dadurch fehlen eben oft relevante Informationen.

  • Hat das OVG tatsächlich das Getrenntleben zur Beurteilung herangezogen, obwohl es dem Betroffenen nicht freigestellt war?



    .



    Soweit man darin eine Angelegenheit der Frau sehen will, von Bochum nach Chemnitz zu ziehen, darf das Gericht wohl nicht zur Zumutbarkeit schweigen; Amtsermittlung. Dass hier Grundrechte in ihrer Bedeutung verkannt wurden, scheint möglich.



    .



    Was bedeutet das eigentlich für die tausenden Ossis, die in den 90’ und 00’ Jahren weit in den Westen pendelten und ihre Familien über Wochen und Monate zurückließen? Dass ein Gericht in Bautzen so urteilt, erscheint verblüffend…

  • Das Problem ist, dass da nicht einfach "Fehler" passiert sind, sondern dass Behörden wissentlich und wahrscheinlich absichtlich ein Gerichtsurteil ignoriert haben.

    Zu klären wird in jeden Fall sein, ob gegen GG Art. 6 verstoßen wurde. Dass das Oberverwaltungsgericht Bautzen ein solches Grundrecht einfach mit einer fadenscheinigen Begründung zur Seite schiebt, ist äußerst erschreckend.

  • Ein bißchen wie im Kafkaroman, die gesichtslose Verwaltung schiebt die Verantwortung hin und her. Der Anwältin kann man nur viel Erfolg wünschen, damit das BVerfG und vielleicht auch das Strafgericht derlei rechtswidrigem Treiben durch klare Urteile einen Riegel vorschiebt. Der politische Wille hierzu seitens der sächsischen Landesregierung scheint nur schwach ausgeprägt.

  • Vor Gericht und auf hoher See bist du in Gottes Hand.

    • @Bolzkopf:

      Wobei Deine Chancen selbst in einem Taifun besser sind als vor einem sächsischen Gericht - wenn Du nicht rechte Tendenzen aufweisen kannst....

  • Das alles ist ein Beleg für die Bigotterie in unserer Gesellschaft, vor der auch Gerichte nicht gefeit sind. Warum werden die Verantwortlichen in den Behörden nicht belangt, die Gerichtsurteile schlicht ignorieren? Das ist leider kein Einzelfall in Deutschland. Wie soll ich den Kindern und Jugendlichen erklären, dass sie sich dem Recht zu fügen haben, wenn der Staat es selbst nicht macht?

  • Sächsische Behörden sind die wahren Verfassungsfeinde. Und dann noch dieses ständige Abstreiten und Lügen, wie die kleinen Fieslinge aus der Schule, an die sich noch jeder erinnern kann...

    • @Edgar:

      Das stimmt, doch wie immer wird die Missachtung von Recht und Gesetz durch die Beamten keinerlei Folgen nach sich ziehen.

  • Die Punkte der Anwältin - ich nehme mal an, dass sie stimmen - erschrecken etwas. Haben da Behörden die Möglichkeit zur deutlichen Willkür, und warum sah das Gericht das auch unter diesen Punkten anders?

  • In welch' einer Bananenrepublik leben wir eigentlich, wenn eine Aufsichtsbehörde abwiegelnd von "juristischer Fehleinschätzung" spricht und anscheinend überrascht davon, es sei "insbesondere ein Anliegen, klar und intern sicherzustellen, dass die Bindungswirkung von Gerichtsentscheidungen durch die LDS und ihre Bediensteten selbstverständlich beachtet und respektiert wird.“



    Mich fröstelt bei solcher Unverfrorenheit.

  • Ein menschenfeindliches System :(