Beginn des Uni-Wintersemesters: Zurück im Hörsaal
Das neue Semester startet an Universitäten und Hochschulen mit mehr Präsenzveranstaltungen und vielen unterschiedlichen Regelungen.
Es ist noch recht ruhig an diesem Montagmorgen auf dem Campus Von-Melle-Park der Uni Hamburg. Einzelne Grüppchen Studierender stehen vor dem Audimax, eine Frau verteilt rote Flugblätter: ein Aufruf zum Streik für bessere Studien- und Arbeitsbedingungen an der Hochschule.
Es ist der erste Tag des neuen Semesters – und fast wirkt alles recht gewöhnlich. Wäre da nicht der weiße Bauwagen mit großem Vorzelt. Davor steht eine Beachflag: Campus-Pass-Registrierung. Mehrere Studierende haben sich zwischen Abgrenzungsbändern vor dem Zelt aufgereiht, zwei Ordner fragen einen etwas unschlüssig herumstehenden Studenten, ob er sich registrieren wolle und schon einen Code habe.
Nach drei Semestern Digitallehre rufen viele Hochschulen die Studierenden zurück in die Hörsäle und Seminarräume. Mehr Präsenzlehre – darauf haben sich alle 16 Bundesländer festgelegt. Mit 3G-Regelung: geimpft, genesen, getestet. Doch wie die Regelungen umgesetzt werden und wie viel Präsenzlehre das neue Semester für Studierende bringt, unterscheidet sich von Hochschule zu Hochschule. Studierendenverbände kritisieren die Uneinheitlichkeit und schlechte Planung.
Wer an die Uni Hamburg in Vorlesungs- und Seminarräume möchte, benötigt etwa einen Campus-Pass, ein QR-Code, der Aufschluss über den Impf-, Test- oder Genesenenstatus gibt und an den Eingängen kontrolliert werden soll. An sechs verschiedenen Standorten der Uni können Studierende den Code nach vorheriger Onlineregistrierung verifizieren lassen. Wer ungeimpft ist, muss hier alle 24 Stunden einen Schnelltest vorweisen, bei einem PCR-Test sind es 48 Stunden.
In den meisten Bundesländern müssen die Tests mittlerweile selbst bezahlt werden. In Bayern können sich Studierende noch bis zum 30. November kostenlos testen lassen. Und auch im weißen Zelt auf dem Campus Von-Melle-Park in Hamburg werden derzeit kostenlose Schnelltests verteilt, Studierende können sich unter Aufsicht selbst testen.
Einlassbänder an der Uni
Anders sieht es an der Technischen Universität in Berlin aus, die eine Woche später ins Semester startet. Hier erhalten geimpfte und genesene Studierende einen Aufkleber auf ihrem Studierendenausweis. Der Rest muss alle 48 Stunden ein gültiges Testergebnis vorweisen. Selbsttests sind nicht möglich. Kontrolliert werden soll der 3G-Status bei Veranstaltungen mit bis zu 40 Studierenden von Lehrenden vor den Türen der Uniräume, bei größeren Veranstaltungen soll zusätzliches Sicherheitspersonal eingesetzt werden.
An der Uni Hannover sollen geimpfte und genesene Studierende dauerhaft ein farbiges Einlassband tragen. An der Uni Leipzig können Studierende auch ihren gelben Impfpass vorzeigen. Bei der Kontrolle der 3G-Regelung setze man auf Vertrauen, wie eine Sprecherin gegenüber der taz angibt. Lehrende können sich stichprobenhaft den Nachweis von Studierenden vorlegen lassen.
Matthias Konrad von der Dachorganisation der Studierendenvertretungen fzs spricht von einem „Flickenteppich“. Die Organisation begrüßt auf taz-Anfrage, dass die meisten Studierenden im neuen Semester zumindest teilweise auf den Campus zurückkehren dürfen. Man hätte sich aber einheitlichere Regelungen gewünscht. „Dadurch wird der Raum eröffnet für Fehler und Probleme unterschiedlichster Couleur“, sagt Konrad. So sei etwa die Kontrolle des 3G-Status durch Apps schwierig, weil nicht jeder Studi ein mobiles Endgerät habe.
Ann-Kathrin Hoffmann, Sprecherin im Bundesausschuss für Studierende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), bemängelt, dass die Kontrolle des 3G-Status vielerorts an den Lehrenden hängen bleibe. Dass viele studentische Mitarbeitende und Lehrbeauftragte ihre Verträge oft erst kurz vor Semesterbeginn erhielten und somit wichtige Informationen zur Semesterplanung zu spät bekämen, mache die Lage nicht besser.
Die LandesAstenKonferenz Berlin spricht von einem „Chaos-Semester“. Sowohl Lehrenden als auch Studierenden sei oft unklar, wie das Semester ablaufen könne und solle. An den Hochschulen für angewandte Wissenschaften habe es bis wenige Tage vor Semesterbeginn Anfang Oktober an Ankündigungen gefehlt, was online und was in Präsenz stattfinden wird. Und auch die Unis schafften es erst kurz vor knapp, ihre Vorlesungsverzeichnisse zu kommunizieren.
Die Humboldt-Uni in Berlin rechnet auf Nachfrage etwa damit, dass 60 Prozent ihrer Veranstaltungen in Präsenz oder mit Blended-Learning-Formaten stattfinden. An der ebenfalls in Berlin beheimateten Alice-Salomon-Hochschule sollen gerade einmal 89 von 701 Lehrveranstaltungen vor Ort stattfinden.
Die Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht gibt gegenüber der taz an, dass der Präsenzanteil je nach Studiengängen und Fachbereichen zwischen mindestens 30 Prozent und bis zu 85 Prozent liege. Bei der Uni Leipzig soll der Anteil der Präsenzlehre mindestens 80 Prozent umfassen. Und an der Uni Hamburg sollen etwa zwei Drittel der angebotenen Veranstaltungen in Präsenz stattfinden.
Gemischte Stimmung
Josephine Schuldt studiert hier im dritten Mastersemester British and American Cultures. An diesem Montag hat sie ihr erstes Präsenzseminar. Bisher kennt sie ihre Kommilitoninnen nur vom Bildschirm. Jetzt ist eine von acht Veranstaltungen der Studentin dauerhaft in Präsenz geplant, zwei sollen alle zwei Wochen vor Ort stattfinden, der Rest digital. Ein deutlich geringerer Präsenzanteil als von der Uni Hamburg angegeben. Für Josephine Schuldt dennoch eine gute Mischung. Auch wenn Diskussionen in Seminarräumen vor Ort besser seien, hätten auch digitale Vorlesungen ihre Vorteile. Etwa, dass man sie immer dann anschauen könne, wenn man gerade Zeit habe.
Marie Pfafferott sieht das anders. Für die 23-Jährige ist die Planung ihres Studiums an der TU Berlin eine Enttäuschung. Über 1.000 von rund 4.000 Veranstaltungen sollen an ihrer Universität weiterhin digital stattfinden. Beim Durchsehen der für sie infrage kommenden Veranstaltungen im Studiengang Energie- und Prozesstechnik stellte Marie Pfafferott fest: Nur eines ihrer ausgewählten drei Module soll auch im Wintersemester komplett in Präsenz stattfinden. Zu wenig für die Studentin, die sagt, dass vor allem das direkte Nachfragen in den zumeist aufgezeichneten Vorlesungen auf der Strecke geblieben sei. Einen weiteren Winter, der zu großen Teilen vor dem heimischen Computer stattfindet, kann sie sich nicht vorstellen.
Sie erzählt, dass sie sogar über eine Studienpause nachgedacht habe. Stattdessen entschied sie sich, einen offenen Brief an ihre Hochschule zu formulieren. Ihr Hauptkritikpunkt: Die TU Berlin setzt anders als viele andere Universitäten weiterhin auf Abstandsregelungen in Veranstaltungen und nutzt damit nur 20 Prozent der Raumkapazitäten – trotz Maskenpflicht und 3G-Regelung, und obwohl der Berliner Senat die 1,5-Meter-Abstandsregelung aufgehoben hat.
TU-Vizepräsident Hans-Ulrich Heiß begründet diese Entscheidung gegenüber der taz vor allem mit der Unsicherheit der Lage: „Wir möchten gerne wieder studentisches Leben haben. Aber wir sind eben noch nicht durch die Pandemie durch.“ Wie viele Studierende derzeit geimpft sind, lässt sich nicht genau sagen. Umfragen unter Studierenden verweisen auf eine Impfquote von über 80 Prozent. Repräsentativ sind sie nicht.
Künftig hybride Formate?
Heiß verweist darauf, dass man jetzt nichts beschließen wolle, was vielleicht in den nächsten zwei Monaten noch gut funktioniere, dann aber umgeplant werden müsse. Bei großen Vorlesungen setzt man an der TU daher weiterhin auf digitale Formate. Seminare oder Tutorien sollen in Präsenz stattfinden.
Wie viel Präsenz-, wie viel Online-Lehre ist diesen Winter nötig und möglich? Die Dachorganisation der Studierendenvertretungen fzs wünscht sich vor allem Lehrformate, die sowohl online als auch digital angeboten werden. Auch weil der Campus noch nicht für alle Studierenden ein sicherer Ort sei, etwa für chronisch Erkrankte. Und weil viele Studierende überhaupt keine Wohnung in den Städten finden würden, in denen sie nun studieren werden.
Etliche Studierende waren während der Pandemie gar nicht erst in die Hochschulstädte gezogen. Das legt etwa eine Befragung Studierender durch das Jobportal Studitemps aus dem Herbst 2020 nahe. Jetzt dürften viele von ihnen wieder nach Wohnraum in Uninähe suchen. Nach der Coronapandemie sei damit zu rechnen, dass die Zahl der Umzüge sowie die internationale Zuwanderung wieder zunehme und damit die Nachfrage in den Groß- und Universitätsstädten abermals anziehe, prognostiziert auch der kürzlich erschiene MLP Studentenwohnreport 2021.
Wie viele der Hochschulen tatsächlich hybride Formate anbieten, ist jedoch unklar. Die entsprechenden Veranstaltungen werden zumeist nicht gesondert erfasst. Und auch die Mischung aus Online und Präsenz kann angesichts eines angespannten Wohnungsmarkts zum Problem werden, wie Matthias Konrad vom fzs meint. Etwa dann, wenn direkt nach einem Präsenzseminar ein Online-Seminar stattfindet und Studierende einen langen Pendelweg haben – ohne Raum an der Uni, um das Onlineseminar zu besuchen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Klimakiller Landwirtschaft
Immer weniger Schweine und Rinder in Deutschland