Bedrohliche Stimmung vor Jahrestag: Präsident Mursi spaltet Ägypten
Ein Jahr nach dem Amtsantritt von Muhammad Mursi bereitet sich das Land auf ein politisches Kräftemessen vor. Millionen unterschrieben für Neuwahlen.
KAIRO taz | Es ist ein wenig so, als ob ein ganzes Land einfach zusieht, wie sich auf einer eingleisigen Strecke zwei Züge entgegenkommen. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass es in Ägypten dieses Wochenende zum Aufprall kommt. Seit Tagen herrscht im Nilland eine angespannte Atmosphäre.
In den Supermärkten kommt es zu Hamsterkäufen. Die Menschen holen sich noch ausreichend Bargeld vom Automaten. Um die bedrohliche Stimmung noch zu verstärken, ist die Armee an den strategisch wichtigen Punkten Kairos mit Panzern aufgefahren. In der Nacht zu Samstag starben bei Protesten bereits drei Menschen. Mitarbeiter und Familienangehörige der US-Botschaft verließen nach Angaben aus Sicherheitskreisen per Flugzeug das Land.
Spätestens am Sonntag wird die Konfrontation zwischen dem islamisch-konservativen und dem liberalen Lager einen neuen Höhepunkt erreichen. Es ist die Tamarud, die sogenannte Rebellenbewegung, die den 30. Juni, den Jahrestags des Amtsantritts des von den Muslimbrüdern stammenden Präsidenten Muhammad Mursi, auf den Terminkalender aller Ägypter gesetzt hat.
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Die Kampagne behauptet, über 18 Millionen Unterschriften gesammelt zu haben, um Mursi das Vertrauen zu entziehen und vorgezogenen Präsidentschaftswahlen zu fordern. Mursi war 2012 mit 13,2 Millionen Stimmen gewählt worden. „Wir wollen unsere Revolution fortsetzen und die Rechte zurückerobern, die uns von Mursi und den Muslimbrüdern weggenommen wurde. Wir wollen unsere ägyptische Identität verteidigen“, erklärt Muhanad Ramadan, einer der Koordinatoren der Kampagne. Er erwartet, dass die Ägypter am 30. Juni in Massen auf die Straße gehen, um Mursi die Rote Karte zu zeigen.
Aber auch die Muslimbrüder mobilisieren für Freitag noch einmal ihre Anhänger zu einer Großdemonstration in Kairo. „Die machtlose Opposition versucht nun in einer Allianz mit Vertretern des alten Regimes, das Land illegitim in eine Spirale des Chaos, der Verwirrung und der Zerstörung zu schicken“, heißt es in einer Erklärung der Freiheit- und Gerechtigkeitspartei FJP, die von den Muslimbrüdern gegründet wurde.
Kampf bis zum Letzten
„Der Aufruf für den 30. Juni ist ein Aufruf zur Gewalt, zu einem Blutbad und zu Vandalismus“, erklärt deren Generalsekretär Hussein Ibrahim. Und besonders unter den Verbündeten der Muslimbrüder, einem Teil der Salafisten, herrscht Endkampfstimmung. „Wir werden alles opfern, um die Legitimität zu schützen“, erklärt Assem Abdel Maged, jener Mann, der den Tod des in Deutschland lebenden Islamkritikers Hamed Abdel Samad gefordert hatte.
Der Ton hat sich auf beiden Seiten in den letzten Wochen extrem verschärft. Die Gegner der Muslimbrüder bezeichnen diese nur noch als Schafe. Die Islamisten marschierten letzte Woche auf ihrem Millionenmarsch unter dem Motto „Nein zur Gewalt, ja zur Legitimität“ mit Plakaten, auf denen sie ihren politischen Gegnern eine Schlinge um den Hals gelegt haben.
Das mag auch an den zweifelhaften Bündnispartnern beider Lager liegen. Die Muslimbrüder paktieren inzwischen mit dem radikalsten Teil der Salafisten, die sich in Kampf gegen die Ungläubigen sehen. Die Opposition bekommt Unterstützung von Vertretern des diskreditieren alten Regimes. Ihr einziges Ziel es ist, das neue Ägypten zu sabotieren, um zu beweisen, dass das alte unter Mubarak besser war.
Zwei Welten
Dabei sind zwei Parallelwelten entstanden. Die Muslimbrüder argumentieren, dass sie die demokratische Legitimität besitzen und dass die Opposition durch ihre Proteste wirtschaftliche Fortschritte zerstört und dass Vertreter des alten Regimes im Staatsapparat alle Initiativen des Präsidenten sabotieren.
Die Opposition und die Rebellenkampagne erklären dagegen, dass die Ägypter dem Präsidenten das Vertrauen entzogen hätten. Der habe ursprünglich versprochen, der Präsident aller Ägypter zu sein, habe seitdem aber nur seine eigenen Anhänger in den Schaltstellen des Staates platziert. Eine Politik, die „Muslimbruderisierung“ genannt wird. Die Gegner Mursis weisen auf die sich verschlechternden Lebensverhältnisse hin, Stromausfälle, Preissteigerungen und eine hohe Kriminalitätsrate. Sie verweigern den Dialog mit Mursi. Dieser hatte in seiner Rede am Mittwoch vorgeschlagen, ein Versöhnungskomitee zu schaffen. Ein Angebot, dass die Opposition ablehnen werden wird.
Die Gegner Mursis spüren Aufwind. In einer aktuellen Umfrage haben drei von fünf Ägyptern angegeben, Tamarud zu kennen. Noch letzten November, bei einer anderen Umfrage, war nur einem Drittel der Befragten das wichtigste Oppositionsbündnis, die „Nationale Rettungsfront“, ein Begriff.
Euphorie und Trotz
Tatsächlich hat sich in den letzten Wochen etwas qualitativ verschoben. Das erste Mal haben die Liberalen durch Tamarud auch in den Armenvierteln, Kleinstädten und Dörfern mobilisiert und so ein Potenzial geschaffen, das bei den nächsten Wahlen entscheidend sein könnte.
Die Gegner Mursis befinden sich in einem euphorischen Gemütszustand, als sei die Absetzung des Präsidenten nur noch reine Formsache. Bei den Muslimbrüdern herrscht dagegen eine trotzige Stimmung, wie bei Belagerten in einer Festung.
Und über alldem steht die Frage: Wie wird sich die Armee verhalten, sollte es am Wochenende zu einer Konfrontation zwischen beiden Seiten kommen? Armeechef und Verteidigungsminister Abdel Fattah al-Sisi hatte noch vor wenigen Tagen erklärt, dass sich die Armee aus der Politik heraushalten werde, die Streitkräfte aber bereit seien, zu intervenieren, um das Land davor zu bewahren, in einen „dunklen Tunnel“ zu geraten. Welche Form eine solche Intervention annehmen könnte, bleibt offen.
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