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Bedeutung des Begriffs „Neutralität“Legal, egal, klimaneutral

Alle wollen Emissionen reduzieren. Aber was heißt Klimaneutralität genau? Man kann es sich leicht machen – oder der Realität ins Gesicht blicken.

Bedeutet Klimaneutralität alle eigenen Emissionen auf null zu reduzieren? Foto: Pawel Kopczynski/reuters

U nsere Schweizer FreundInnen habe ich oft beneidet. Nicht nur um ihre glasklaren Bergseen und manchmal um ihre direkte Demokratie, sondern auch um ihre Chance auf einen argumentativen Notausgang: Ski-Abfahrt oder Langlauf? Anreise per Auto oder Zug? Abends Spaghetti oder Risotto? „Wir halten uns da raus“, sagen die EidgenossInnen dann gern, „wir sind neutral.“

Das hilft natürlich nicht. Aber in der Klimadebatte findet man das inzwischen toll: Jedes Buch, jeder Kongress, jede Kreuzfahrt, alles „klimaneutral“. Sogar dieses Land und dieser Kontinent wollen bis 2050 „treibhausgasneutral“ sein. Die Regierung hat das entschieden, Bundestag und -rat haben es beschlossen. Was es bedeutet, weiß allerdings niemand. Und wie sehr das unser tägliches Leben auf den Kopf stellen wird, ahnen nur wenige Mutige. Viele bisherige Konzepte klingen mehr so nach Gruselthriller. Der Bericht der Agora-Thinktanks und der Stiftung Klimaneutralität war also dringend nötig.

Denn dass der Klimawandel irgendwie ein Problem ist, haben inzwischen alle begriffen, die nicht in den US Supreme Court berufen werden wollen. Aber dass die Lösung darin bestehen soll, möglichst bald nur noch so viele Treibhausgase in die Luft zu pusten, wie man einlagern kann, etwa in Bäumen, ist unklar.

Und daher schneidert sich gerade jede Stadt, jedes Land, jede Behörde und jedes Unternehmen seine eigene Idee von „Klimaneutralität“: Alle eigenen Emissionen runter auf null? Was ist mit Zulieferern? Oder nur die Hälfte einsparen und den Rest per CO2-Lizenzen „kompensieren“? Und rechnen wir nur Kohlendioxid und lassen Methan, Lachgas und andere Treibhausgase unter den Tisch fallen (das nennen wir dann „CO2-neutral“, und keiner merkt den Unterschied), um die Bauern zu erfreuen?

Ähnlich schwammig wie „Nachhaltigkeit“

Was „Klimaneutralität“ ist und wie sie aussieht, wird inzwischen ähnlich schwammig wie „Nachhaltigkeit“. Deshalb lieben jetzt auch alle den Begriff – er klingt ja auch zu gut und klinisch sauber. Neutral sein heißt: Wir machen uns die Hände nicht schmutzig. Neutralseife ist gut für die Umwelt. Neutral heißt: weder gut noch böse; wir sind stets dabei, aber nie verantwortlich. Wir beurteilen alles von einem objektiven Standpunkt aus. Wir halten uns raus und verdienen damit gutes Geld – wie die Schweiz.

Neutral heißt aber auch: mir doch egal. So meint es Amy Coney Barrett, erzkonservative Richterin auf dem Weg in den Obersten US-Gerichtshof. Weil sie „keine Wissenschaftlerin“ sei, leiste sie sich keine „Meinung bei einer sehr umstrittenen Frage“. Neutral kann also auch bedeuten: zu feige, um die Realität zu sehen.

Das ist das Problem mit der „Klimaneutralität“. Die Bezeichnung suggeriert Raushalten, Abstand, Abwarten, Zurückhaltung. Motto: Legal, egal, klimaneutral. Dabei brauchen wir genau das Gegenteil: Einmischen, Anpacken, klare Entscheidungen treffen, volle Kanne loslegen. Wer den ganzen Wahnsinn aus vornehmer Distanz betrachtet, wird nie klimaneutral.

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Bernhard Pötter
Redakteur für Wirtschaft und Umwelt
Jahrgang 1965. Seine Schwerpunkte sind die Themen Klima, Energie und Umweltpolitik. Wenn die Zeit es erlaubt, beschäftigt er sich noch mit Kirche, Kindern und Konsum. Für die taz arbeitet er seit 1993, zwischendurch und frei u.a. auch für DIE ZEIT, WOZ, GEO, New Scientist. Autor einiger Bücher, Zum Beispiel „Tatort Klimawandel“ (oekom Verlag) und „Stromwende“(Westend-Verlag, mit Peter Unfried und Hannes Koch).
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6 Kommentare

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  • Vom Autor hätte ich mir gewünscht, daß er detailliert darlegt, was er genau meint, wenn ein Staat bzw. seine Bewohner sich eben nicht klimaneutral verhalten. Wie soll gehandelt werden und was kommt dann dabei heraus. a) für Deutschland und b) für unseren Planeten.

  • Ein Wirtschaftssystem das zwingend auf wirtschaftliches Wachstum angewiesen ist, also auf den wachsenden Verbrauch und die Verschwendung von natürlichen Ressourcen, kann in seinen Auswirkungen und Folgen niemals "neutral" sein.



    Und ob vor dem wirtschaftlichen Wachstum die Adjektive "nachhaltiges", "grünes", "umweltfreundliches" oder ähnliche stehen, ist absolut irrelevant. Insbesondere, wenn dieses Wachstum zusätzlich und parallel zum "schmutzigen" Wachstum entstehen.

    Eine Petition für "nachhaltiges Wachstum" könnte von jedem Wachstumsideologen und jedem Klimaschützer unterschrieben werden. Bei einer Petition für "wirtschaftliches Wachstum" wäre das nicht der Fall. Begriffe konditionieren das Denken. Nennt sich Marketing!

    • @Drabiniok Dieter:

      Jemand, der sich nicht vorstellen kann, dass ein Wirtschaftssystem, welches zwingend auf wirtschaftliches Wachstum angewiesen ist, dies durch Effizienz und nicht durch wachsenden Verbrauch und die Verschwendung von natürlichen Ressourcen, erreichen kann, kann das niemals beurteilen.

      • @So Nicht!:

        Ich kann mir eine Menge vorstellen. Nur nicht, wie die durch gestiegene Effizienz ermöglichten und beschleunigten Produktionsprozesse, in deren Folge ein höherer output von Waren, Gütern und Produkten erfolgt und diese natürlich mit höherem Tempo verkauft/ge- und verbraucht werden müssen, zu einem verringertem Ressourcenbedarf führen. Wie soll wirtschaftliches Wachstum bei gleichbleibendem Verbrauch erfolgen? Also ohne einen höheren Warenabsatz/ Lagerumschlag. Beziehungsweise ohne zusätzliche (effizientere) Produkte, die nicht im Garten wachsen, sondern aus irgendwelchen Rohstoffen bestehen müssen.

        Schlagen Sie eine effizientere Maßnahme als das Energie sparen vor, um den CO2 Ausstoß zu reduzieren. Darum geht es doch, oder etwa nicht?

        PS: Als Lebewesen sind wir zwingend auf den Erhalt unsere Lebensgrundlagen angewiesen. Das vermeintlich zwingend erforderliche wirtschaftliche Wachstum zerstört diese. Es ist die Ursache für unsere heutigen Probleme.

        • @Drabiniok Dieter:

          Machen Sie es doch nicht so schwer. Vergleichen Sie doch einfach mal, wieviele Ressourcen für die Herstellung eines Brotes in den einzelnen Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts verbraucht wurden.

  • Genau, um sauber zu werden, muss man auch Seife gebrauchen statt sich die Hände nur in Unschuld waschen zu wollen.