Bayerisches Essen: Schweizer Käse, rohe Leber

Die Mutter unseres Autors propagiert Obstquark und Sanostol, der Vater isst bayerisch derb. Eine Kindheit zwischen Essensgenuss und Nahrungsaufnahme.

Eine Flasche mit der Aufschrift Multi Sanosta, darüber eine rot gepunktete Schüssel mit Kirsche obenauf, daneben ein Bierkrug mit Wurst , eine Fleischkeule und Knödel

Gegensätze aus bayerischer Küche Illustration: Imke Staats

Knapp die Hälfte aller italienischen Kinder bekommt bereits im Alter von vier Jahren ein Pastagericht serviert, an das sie sich als Erwachsene noch erinnern können. Das ergab 2018 eine Studie der „Associazione delle industrie del Dolce e della Pasta Italiane“ – da allein bekommt man ja schon Appetit.

Bei mir und nördlich der Alpen setzt die Erinnerung leider nicht mit Nudeln, sondern mit Vollkornbrot ein. Meine Mutter hatte kein Zubereitungsbedürfnis nach leckeren Speisen, sondern eines nach Rohstoffen: Vollmilch, Butter, Joghurt, Rindfleisch, frisches Obst – das waren die Köstlichkeiten, die sie in ihrer Nachkriegskindheit bitter vermisst hatte und mit denen meine Brüder und ich nun durch die 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gefüttert wurden.

Manche Dinge wie dünne Streifen rohe Leber (Eisen!) waren eklig, der mit Honig angerührte Apfelessig (Vitamine!) ging so, und eine Zeitlang gab es sogar Sanostol, ein im Wesentlichen aus Zucker bestehendes „Multivitaminpräparat“. Eben als meine Mutter das abschaffte, entdeckte ich das Versteck des ähnlich süßen und stark alkoholhaltigen Kinderhustensafts im Schrank – zum Akademiker hat’s trotzdem gereicht.

Und dann gab es noch meinen Vater: Während meine Mutter uns nach 90 Minuten abendlichem Training im Schwimmverein selbst gemachten Obstquark servierte (aber immerhin durfte man dazu „Die Profis“ glotzen), ging mein Vater schon mal mit uns zum gegenüberliegenden McDonald’s, auch wenn er den USA, sagen wir mal, kritisch gegenüberstand. Dort tunkten wir unsere frittierten Hühnerbeine, die es damals noch gab, in Vanilleshakes, die so kalt waren, dass der ganze Mundraum vereiste – nie wieder habe ich Schmerzen so genossen.

„Behaglich derber Genuss“

Mein Vater kam aus einer ganz anderen Ecke als meine Mutter: nicht abgestürzter Adel, der am Schluss seiner Laufbahn bei der SS landete (was der familiär chronisch untereingestandene Grund für die Nachkriegsarmut meiner Mutter war: Es sind oft nicht die Verbrecher, die für ihre Verbrechen bezahlen). Mein Vater war das einzige Kind einer altbayerischen Bauern- und Beamtensippe, für die die Grundversorgung mit Lebensmitteln auch in bittersten Inflations- und Kriegszeiten nie ein Problem dargestellt hatte. Und sie hing, wie Lion Feuchtwanger im Roman „Erfolg“ den bayerischen Stamm abschließend definiert hat, am „behaglich derben Genuss“.

Konkret also: Dampfnudeln, Rohrnudeln, Milchnudeln, Kirchweihnudeln („Auszogne“); Zwetschgendatschi, Salzburger Nockerl, Kaiserschmarrn, Reiberdatschi; Griesnockerl, Semmelknödel, Kartoffelknödel roh, Knödel aus Kartoffelteig, Knödel halb und halb, Knödelgröstl; Boeuf à la mode (gesprochen und auf der ersten Silbe betont „Böfflamodd“), Schweinsbraten; Gans, Gansjung; Herz; Leber mit Äpfeln und Zwiebeln, saure Leber, gebackene Leber; Tellersulze, Weißwürste, Wollwürste, Regensburger, Lyoner; Blaukraut, Weißkraut, Sauerkraut; Spargel, Schwarzwurzel, Schwammerl, Maroni; gelbe Rüben, Kohlrabi; Kuheuter gebacken – nein, den tatsächlich gab es zu Hause nicht, sondern nur in den Metzgereien am Münchner Viktualienmarkt.

Was dem „Gerdi-Bubi“ schmeckte

Diese Liste hat meine Mutter mit dem Eintritt in die Ehe erlernen und abkochen müssen. Und da es ihre eigene Mutter, eine zart-harte Künstlerperson, die von Zigaretten und Amikippen lebte, ihr nicht beibringen konnte, ging sie bei der Großmutter meines Vaters in die Lehre und bekam unter Hinzuziehung des bis heute immer wieder neu aufgelegten „Bayerischen Kochbuchs“ vermittelt, was dem „Gerdi-Bubi“ schmeckte.

Wenn meine Mutter meinen Vater mit seinem Oma-Kosenamen „Gerdi-Bubi“ nannte, dann war etwas im Anzug, es konnte ein luftig-lustiger Wortwechsel sein oder ein krachendes Streitgewitter. Dahinter stand aber immer die Auseinandersetzung ums Essen, das mein Vater vorgesetzt bekam, wenn er abends von der Arbeit kam und das er meistens allein einnahm, weil wir Kinder schon gesunde Nahrung zu uns genommen hatten. Er revanchierte sich für diese Isolation, indem er an Sonntagen, wenn meine Mutter einen sauren Obstblechkuchen gebacken hatte, aus der Konditorei Windbeutel, Sacher- und Prinzregententorte und andere cremige Köstlichkeiten anbrachte, die wir gierig in uns hineinsogen.

Globalisierung „made in Yugoslavia“

So ging das bis ungefähr Mitte der 1970er Jahre. Dann kam die Globalisierung über uns, zunächst „made in Yugoslavia“ wie meine noch heute tragbare Adidas-Sporthose. Die Eltern nahmen uns mit in die Balkangrills, mit Ćevapčići und rot gefärbtem Djuveč-Reis. Wir schaufelten das kulturell unsensibel in uns rein, wenn wir nicht das obligatorische Schnitzel mit Pommes bekamen. Nun brandeten die Wellen in immer kürzeren Abständen an, im Schrebergarten kam plötzlich eine so ertragreiche wie nach nichts schmeckende Gemüsesorte in Mode, Zucchini genannt.

Dass es bei denen eigentlich um die Blüten geht, blieb unbekannt. Es kamen die Griechen, die aus historischen Gründen in München immer schon eine Rolle gespielt hatten, und schließlich war die Reihe an einer Kette namens „Bella Italia“. Seitdem war mit uns in den heimischen Wirtschaften kein Staat mehr zu machen, wir verlangten lauthals nach Pizza und Pasta. Der Wienerwald, in dem wir vom Vater bei den sehr seltenen Abwesenheiten unserer Mutter abgespeist wurden, verlor seinen Glanz und ging bald pleite.

Simples Schinken-Käse-Baguette

Dass es außer heimatlichem Essen und mütterlicher Nahrung noch einen ganz anderen Zugang gab, hatte sich mir aber schon als Zehnjährigem in der Schweiz angedeutet, auf Zwischenstopp der Ferienreise an die Costa Brava. Es war ein simples Schinken-Käse-Baguette gewesen, alles so fein, so köstlich aufeinander abgestimmt, das Weißbrot im Mund zergehend, der Käse in schmelzender Verbindung mit dem Kochschinken so abnorm geil, dass ich wieder zu Hause gefühlt stundenlang auf meinem „Lieken Urkorn“ herumkaute, so seine vollkommene Ungenießbarkeit meiner Mutter kundtun wollend, die aber dadurch nicht zu beeindrucken war.

Noch heute, wenn ich meine knapp hundert Kilo bei ihr zu Besuch zur Tür hi­neintrage, sagt sie nur: „Unter meinem Regime hast du besser ausgeschaut“, und wenn ich erwidere, „Aber Mama, ich bin jetzt auch schon fast ein halbes Jahrhundert älter“, dann zuckt sie nur mit den Schultern.

Dass ich heute öfter, als es mir schmecken will, nach dieser Welt mit einer bescheideneren Speisenkarte, die ich einst so aufbruchslüstern verlassen habe, Sehnsucht habe, liegt aber nicht nur am Alter und an meiner Mutter. „Ihr Leben paßte ihnen“, sagt Feuchtwanger von den Bayern. Das ist eine Lebenshaltung, die in diesem hasszerfressenen Land mal wieder unpopulär ist. Zufrieden sein als Avantgarde – darauf eine Schmalznudel!

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.

Ihren Kommentar hier eingeben