Baseballschlägerjahre in Wernigerode: „Das waren die 90er Jahre, ja?“
Kurz nach der Wende war Wernigerode eine rechtsextreme Hochburg. Unser Autor wurde 1997 dort geboren und wusste lange nichts über diese Zeit. Eine Spurensuche zu den Punks und Nazis von einst.
A ls meine Mutter im Frühjahr 2022 ihren 50. Geburtstag feiert, sehen wir uns gemeinsam mit meinem Vater in ihrem Haus in Wernigerode alte Fotos an. Ich entdecke eines, von dem ich zunächst glaube, dass ich darauf zu sehen bin. Doch es ist mein Vater, Anfang der 90er Jahre. Schließlich entwickelt sich daraus ein Gespräch über den 20. Geburtstag meiner Mutter.
Empfohlener externer Inhalt
Es war der 25. April 1992. Ein Tag, an dem eine ganze Horde Neonazis nach einem Rechtsrockkonzert durch die Stadt stürmte, erzählen meine Eltern nebenbei. Meine Mutter feierte währenddessen mit ihren Schulfreund:innen etwas abseits der Stadt.
„Ich weiß gar nicht, warum ich nicht bei deiner Party war …“, sagt mein Vater, während er die weiteren Fotos durchsieht.
„Weil ich dich nicht eingeladen habe“, antwortet meine Mutter.
„Das stimmt doch gar nicht.“
„Doch!“
„Neonazis in Wernigerode?“, frage ich, um das wirklich Erstaunliche hier zu klären.
Diese heute so biedere Fachwerkstadt
Eigentlich sollte ich nicht überrascht sein. Dass es im Osten Deutschlands haufenweise Rechtsextreme gab und gibt, ist nun wirklich nichts Neues. Gerade in den neunziger Jahren. Genauso wenig verblüffend ist es, dass sich damals überall Linksautonome als politisches Gegengewicht mobilisierten. Aber in Wernigerode? Dieser heute so biederen Fachwerkstadt, die, seit ich denken kann, vor allem von Tourist:innen und Rentner:innen bevölkert ist?
„Aron, früher war hier jeden Tag 1. Mai“, sagt mein Vater aufgeregt und erzählt von rechten Jugendlichen mit Baseballschlägern, von Linken, die diese bekämpften und in einem besetzten Haus lebten – dem Schlachthof, den es heute nicht mehr gibt.
Warum wusste ich so gar nichts davon?
Der Geschichtsunterricht meiner Schulzeit endete mit dem Mauerfall und Bildern von Menschen, die mit Deutschlandfahnen durch DDR-Städte liefen. Danach war Schluss. Kein Wort über Neonazis im wiedervereinigten Deutschland. Ich will mehr über die Rechtsextremen in Wernigerode und dieses gut 30 Jahre zurückliegende Neonazikonzert wissen.
Alles geht auf einen Mann und Veranstalter zurück, der nach dem Konzert häufiger Gast der Stadt sein wird: Thorsten Heise. Ein immer noch aktiver militanter Neonazi, Veranstalter von Rechtsrockkonzerten in Thüringen und Freund von Björn Höcke. Damals ist Heise 23 Jahre alt und einer der Köpfe der 1995 verbotenen rechtsextremen Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP). So erzählt es mir Rechtsextremismusexperte David Begrich.
Über 600 Neonazis aus unterschiedlichen Städten folgen an diesem Tag seiner Einladung. Sie treffen sich im Gasthof Salzbergtal, grölen Songzeilen der Bands Tonstörung („Blut muss fließen knüppeldick“) und Kraftschlag („Scheiß Punks“). Und laufen, angestachelt durch Musik und Alkohol, auf den Schlachthof zu. Sie wollen ihn stürmen. Doch um das besetzte Haus hat sich eine Polizeikette gebildet, die die Nazis abhält.
Dieses Konzert ist nicht irgendein Konzert. Vielmehr ist es der Beginn einer Zeit, in der Wernigerode zu einer Hochburg der FAP wird, wie der Soziologe und Publizist Eberhard Seidel 1995 in „Stinos, Glatzen und Trinker: Jugend auf der Suche nach neuen Normen und Umgangsformen“ schreibt. Allein im Jahr 1992 werden mehr als zehn Anschläge auf Asylbewerber:innen im Umkreis der Stadt verübt.
Bücher zu den Neunzigern
Mein Vater, damals gelegentlich Besucher des besetzten Hauses, versucht Kontakte für mich herzustellen. Er verließ Wernigerode nach dem Abitur im Jahr 1990, wie auch meine Mutter, kehrte jedoch Anfang der 2000er mit der Familie – mit mir – zurück. Er lebt bis heute dort, während ich seit 2016 in Berlin lebe. Erst seit Kurzem erforsche ich, wie so viele Nachwendekinder, welche Rolle der Osten in meinem Leben spielt.
Meist beschränkt sich das auf die DDR-Zeit. Von der Zeit danach habe ich kaum eine Vorstellung. Meine Eltern können dazu nichts sagen, sie waren in den Neunzigern nicht vor Ort. Klar, da sind Bücher, die ich gelesen habe, „Wir waren wie Brüder“ von Daniel Schulz oder „Aus unseren Feuern“ von Domenico Müllensiefen. Doch Wernigerode kommt darin nicht vor.
Die meisten Zeitzeug:innen aber leben ja noch hier. Ich will mit ihnen sprechen. Wie fühlte es sich an, in diesem komplett umgekrempelten Land erwachsen zu werden? Was hat im Osten vor und während meiner Kindheit stattgefunden? Wie konnte es zu den Gewaltexzessen kommen?
Über die Linksautonomen finde ich recht schnell heraus, wer früher zu den Neonazis der Stadt gehörte. Ich rufe diese an. Es fühlt sich komisch an, bei ehemaligen Neonazis anzurufen. Die meisten seien „selbstverständlich“ auf dem Konzert gewesen, könnten aber nicht darüber reden, sagen sie mir. Nicht einmal anonymisiert.
Irgendwann schickt mir mein Vater eine Nummer aus seiner Kontaktliste: Maik – einer der Urbesetzer des Schlachthofs. Er sei nicht nur bereit zu sprechen, sondern habe darüber hinaus auch Kalle zu sich eingeladen, um mir etwas über die Zeit vor 30 Jahren zu berichten. Der große Vorteil: Kalle und er seien heute gute Bekannte, damals aber sei Kalle bei den Rechten gewesen. Beide heißen in Wirklichkeit anders, sie wollen nicht mit ihrem Namen genannt werden.
Auch alle anderen Personen wollen nur mit mir sprechen, wenn sie in dieser Geschichte anonym bleiben. Ich willige trotzdem ein. Vieles, was sie mir erzählen, lässt sich durch das Stadtarchiv, durch Zeitungsberichte oder Ausgaben des Antifaschistischen Infoblatts prüfen. Andere Darstellungen bleiben Behauptung – vollständig verifizieren kann ich sie nicht.
Ein drahtiger Mann mit langem braunem Haar
An Maiks Haustür hängt heute ein Schild, auf dem eine Persiflage der Antifa-Flagge zu sehen ist. „Prokrastinistische Aktion“, steht darauf. Als ich klingele, öffnet mir ein drahtiger Mann mit langem braunem Haar und Trainingsanzug.
Hinter ihm steht eine weitere Person, die sich nicht als Kalle, sondern Anja vorstellt – eine mittelgroße Frau mit blonden Locken. Maik hatte auch sie eingeladen. Vor 30 Jahren war auch sie Stammgast im besetzten Haus. Wer nicht da ist: Kalle. „Er musste absagen, sein Sohn ist krank“, sagt Maik.
Maik arbeitet seit einiger Zeit im Tourismusbereich. Anja ist Sozialpädagogin. Beide sind Anfang 50. Es riecht nach Räucherstäbchen, überall im Haus stehen Buddhafiguren. „Meinen Baseballschläger habe ich noch“, erzählt er, als wir über die Kämpfe zwischen Punks und Nazis sprechen.
Wir reden über das Konzert.
„Wir waren gewohnt, dass Nazis in der Stadt waren. Aber so viele auf einem Haufen wie an dem Tag hatten wir noch nicht gesehen.“ – „Ich weiß noch, was für eine scheiß Angst ich damals hatte“, sagt Anja leise.
Die Regierung hat keine Ahnung
Als ich ins Behördenarchiv schaue, sehe ich, dass Faschismusbekämpfung schon damals nicht zu den Stärken der Regierung Sachsen-Anhalts gehörte. In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage des Landtagsabgeordneten Gerd Schuster von der PDS im September 1992, ob der Regierung erstens klar wäre, dass die FAP gerade dabei wäre, ein echtes neonazistisches Zentrum in Wernigerode aufzubauen, was man zweitens jetzt tun müsste und ob es drittens noch weitere Problemherde dieser Art gäbe, erklärte die Landesregierung zu Punkt eins, nichts zu wissen, verwies zu Punkt zwei auf Punkt eins und erklärte überdies, keine Ahnung von weiteren Neonazizentren zu haben.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Aber als das Konzert im April 1992 stattfindet, hat die Polizei wohl eine Vorahnung. Jedenfalls will sie die Neonazis vom Schlachthof fernhalten. „In dem Moment haben wir uns gut mit den Cops verstanden. ‚Wenn ihr uns schützt, benehmen wir uns natürlich‘, haben wir ihnen gesagt“, erklärt Maik. Und weiter: „Wir haben auch mal als Erste zugeschlagen, klar. Wenn du immer wieder von Faschos angegriffen wirst, dann wirst du irgendwann aggressiv.“
„Krass, dass sich dieses Links-gegen-rechts überhaupt wieder beruhigt hatte“, sagt Anja.
Aber wie kam es dazu?
Irgendwann wären eben alle älter geworden. Irgendwann hätte es Technopartys im Schlachthof gegeben, irgendwann hätten alle Ecstasy entdeckt, und irgendwann hätten die Neonazis unter diesen Umständen gern mit den Linksautonomen gefeiert.
„Wie bitte?“, frage ich.
„Nur wenn die Rechten friedlich waren, durften sie auch mitfeiern“, sagt Maik.
Bis zu ihrem Verbot 1995 kann die FAP in Wernigerode weiter Fuß fassen. Durch die Partei radikalisieren sich viele Jugendliche. Die Stadt immerhin merkt, dass sie etwas tun muss. Die „Lösung“: Sie gibt den linksautonomen Hausbesetzer:innen feste Wohnungen. Und den Rechtsextremen einen Jugendclub zum Musikmachen und als Freizeittreff: den Harzblick.
Vielerorts wird die sogenannte akzeptierende Jugendarbeit praktiziert – dieses Modell war schon für die Sozialarbeit mit Suchtmittelabhängigen anerkannt, in den Neunzigern wird es im Osten auch bei Rechtsextremen angewendet. Manche Kids kommen erst in den Jugendtreffs in Berührung mit der Naziszene.
Der Schlachthof fungiert nur noch als linkes Veranstaltungszentrum. 1994 zünden Neonazis das Gebäude an, es brennt nieder. Es ist niemand im Haus, Verletzte gibt es nicht. Die Täter bezeichnen es als Racheakt an den Linken.
Über meinen Vater lerne ich auch Fabian kennen. Fabian lebt bis 1994 in Wernigerode, ehe er zum Studium nach Berlin geht. Wir treffen uns in einer Kneipe in Leipzig, wo Fabian heute lebt. Er trägt ein Jackett, sein Haar ist adrett kurz geschnitten und gegelt. Damals habe er zerfranstes Haar gehabt, Jeansjacke getragen, einen Aufnäher mit durchgestrichenem Hakenkreuz darauf.
Der schnellste Sprint
Am Tag des Konzerts im Salzbergtal ist er 16 Jahre alt. Eigentlich will er an dem Tag ein anderes Konzert – das eines Schulchors – besuchen. „Als die Faschos mich an dem Tag entdeckt haben, habe ich den schnellsten Sprint meines Lebens hingelegt“, sagt er. „Wir waren nur blasse, dünne Gymnasiasten. Ich bin aber irgendwann nur noch mit meiner Schreckschusspistole und einem Butterflymesser aus dem Haus gegangen.“
Am Tag des Konzerts hätten die Nazis ihn überfallen. „Als ich dann Anzeige bei der Polizei gestellt habe, hat mich der Polizist, der die Anzeige aufnahm, angeschaut und fast väterlich zu mir gesagt, dass ich mich doch besser unauffälliger kleiden solle; so sei es doch kein Wunder, dass so etwas passiere.“ Fabian erzählt von der Überforderung der Erwachsenen damals. Die Ausschreitungen „der Jugend“ bekommen sie zwar mit, doch sie können sich kaum in deren Lebenswelten hineinversetzen.
„Insgesamt war das einfach auch die Folge eines gewaltigen Staatsversagens“, sagt er, als wir die Kneipe verlassen.
In der Zeit, als Fabian und ich uns zum ersten Mal treffen, erscheinen kurz nacheinander drei Bücher zu den sogenannten Baseballschlägerjahren, darunter jene von Schulz und Müllensiefen. Schon zwei Jahre zuvor zeigt die Journalistin und Soziologin Katharina Warda in ihrem Essay „Der Ort, aus dem ich komme, heißt Dunkeldeutschland“ auf, wie es war, als Schwarze Person in der ostdeutschen Provinz groß zu werden. Sie wurde 1985 in Wernigerode geboren, sie war früher Punk.
Mir erzählt sie, wie sie so gut wie keinen Schutzraum gehabt und sich jeden Tag potenziell in Lebensgefahr gebracht hätte, sobald sie das Haus verlassen hätte. Als Ecstasy angeblich die Baseballschlägerjahre beendet haben soll, lebte sie nicht mehr in Wernigerode. „Die Neonazis können einfach über all das sprechen, weil sie keine großen Konsequenzen zu befürchten haben“, sagt sie mir am Telefon. Und: Wer nicht entschlossen und dezidiert aussteige, sei für sie auch „nicht richtig raus“.
Ende 2019 kursiert der Hashtag #baseballschlägerjahre erstmals im Netz. Zahlreiche Erfahrungsberichte folgen, in denen über rechten Terror im Osten berichtet wird. Für mich bleibt die Gewalt immer noch schwer zu greifen. Ihre Selbstverständlichkeit, ihre Allgegenwart. Wieso manifestierte sich der Hass in kleinen, scheinbar idyllischen Städten wie Wernigerode, wo jede:r jede:n kennt? Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, wie ein paar Leute, die ihr ganzes Leben in der gleichen kleinen Stadt verbringen, sich auf einmal dazu entscheiden, jene Menschen, mit denen sie noch ein paar Jahre zuvor die Schulbank gedrückt haben, zu verprügeln.
Hakenkreuzflaggen und Bomberjacke
Sommer 2023, die Recherche zieht sich. Ich rufe Kalle wieder an. Wieder vereinbaren wir ein Treffen. Und wieder sagt er kurzfristig ab. Maik ist nicht erstaunt, als ich ihm davon erzähle. Er schlägt mir jemand anderen vor, mit dem ich mich treffen könne: Sven. Der war damals bei den Faschos, dann regelmäßiger Gast auf Technopartys.
Ich treffe Sven in seinem Haus in Wernigerode, auch Maik ist dabei. Sven ist spindeldürr, trägt ein weißes-T-Shirt, Shorts und Badelatschen. An seinen Wänden hängen Sauerteigrezepte, Sinnsprüche wie: „Alles ist verbunden. Trage die Botschaft weiter“, und wieder stehen Buddhafiguren rum.
Sven ist 13, als er beim Salzbergtal sein erstes „Glatzenkonzert“ besucht. Wie es dann weiterging? „Ziemlich wild“, sagt er, sieht zu Maik. Beide beginnen zu lachen. Sven war immer dabei, wenn es zu Schlägereien zwischen links und rechts in der Stadt kam, aber eher in der zweiten Reihe. Auch habe er keine echte Faschoideologie verfolgt – dass ihm in der DDR nicht alles über den Zweiten Weltkrieg erzählt wurde, dass sein Opa der liebste Mensch war und so weiter, das habe er schon geglaubt. Sven rasiert sich zu dieser Zeit den Kopf, hat Hakenkreuzflaggen und Bomberjacken im Kinderzimmer. Mehr als Provokation, wie er sagt.
Mir fällt es schwer, das zu glauben. Aber seinen Nazilifestyle beschreibt Sven ausführlich und genau. Natürlich habe er auch den Hitlergruß gemacht, der habe dazugehört. „Die Polizei hier in Wernigerode war aber von allem überfordert“, sagt Sven. Maik nickt: „Ja, das haben wir alle ausgenutzt. Auch wenn wir uns von unserer Seite so einen politischen Anstrich gaben, ging es da auch um das Adrenalin – das war schon ’ne geile Droge“, sagt er. Die beiden lachen.
Ich konfrontiere sie mit den rassistischen, gewaltgeilen Texten, die da auf den Konzerten gesungen wurden. „Man ist da irgendwie reingerutscht. Das darfst du nicht so engstirnig sehen. Du hattest hier nur die Wahl, links oder rechts zu sein, wenn du irgendwie anders sein wolltest.“
„Wieso wolltest du anders sein?“
„Na, das will doch jeder, oder nicht?“, sagt er, sieht mich an und beginnt zu grinsen. „Oder willst du so der grobe Durchschnitt sein?“
Sven hatte damals noch ein anderes soziales Umfeld als die Rechtsextremen. „Zum Glück!“, sagt er heute. Er sei nur bei den „gemäßigteren“ Rechten im Jugendclub Center gewesen.
Immer wieder beginne ich einen Satz, bringe ihn nicht zu Ende, entschuldige mich für die Fragen, bevor ich sie überhaupt stelle. Dann frage ich ihn, ob er auch Ausländer:innen gejagt habe. Er schüttelt den Kopf. So sei es nur bei den „richtigen Faschos“ zugegangen.
Ich weiß nicht, was die Unterscheidung zwischen „richtigem Fascho“ und „gemäßigt“ überhaupt bedeuten soll. Und vor allem, wieso man als Jugendlicher mit den Neonazis rumhängen wollte, von denen jeder wusste, dass sie herumzogen und Menschen verdroschen, weil sie anders aussahen.
Eine Spiegel-TV-Reportage aus dem Jahr 1993, die über die ständigen Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten in Wernigerode berichtet, zeigt einen speziellen Fall. Ein Mann, völlig normal und unauffällig gekleidet, läuft durch die nächtliche Stadt und berichtet davon, wie er von zwei Faschohorden angegriffen wurde.
Der Moderator sagt, ein Verbot des Sonderparteitags der FAP durch das Ordnungsamt sei der Grund für die Krawalle gewesen. Ein Video wird eingeblendet: Die Faschos stürmen auf den Typen los, schlagen und treten auf ihn ein, brechen ihm den Schädel. Einfach so.
Einen Tag später klingelt mein Handy. Es ist Kalle. Sven hat ihm von unserem Treffen erzählt. Will er doch reden?
Noch am gleichen Tag fahre ich nach Wernigerode und stehe vor Kalles Wohnung in der Innenstadt. Er wartet vor seiner Tür. Scheiße, denke ich. Da steht dieser Schrank mit Glatze, voll tätowiertem Kopf und einem bulligen Kampfhund. Kalle winkt mich fröhlich heran. „Lass uns vielleicht doch lieber zu mir zum Reden gehen, was?“
„Ein kleiner Skinny, zwischen solchen Typen“
Kalle sagt, er sei Oi!-Skin geblieben, das sei ein Lifestyle, und er schäme sich auch nicht dafür. Heute besuche er Hardcore- und eben Oi!-Punk-Konzerte. Unpolitisch, sagt er. Aber wenn jemand „Nazis raus!“ rufe, gehe ihm das auch auf die Nerven. „Aus beiden Richtungen“ möge er keine Phrasen.
Wählen gehe er nicht, sei er nie, werde er auch nie, sagt er. Er werde sich nie einem System anpassen. Was ihm wichtig ist zu sagen: Diese ganze Faschoideologie liege hinter ihm, er habe sich davon gelöst. Meine Recherchen ergeben, dass Kalle bis in die nuller Jahre noch mit Nazis zu tun hatte, danach aber nicht mehr.
Für ihn ist das Konzert im April 1992 das erste Skinheadkonzert. „Musst dir vorstellen, ich als 14-Jähriger, überleg dir das mal – so ein kleiner Skinny, zwischen solchen Typen.“ Er sei aber an dem Tag nicht mehr zum besetzten Haus gegangen. „Damals wollte ich noch nicht bei den großen Jungs mitspielen.“
Angefangen hat für Kalle alles kurz nach der Wende. Da sei er noch mit Anarchiezeichen auf den Klamotten mit seinen Freunden durch die Straßen gezogen. Dann habe sich sein Freundeskreis verändert, seine neuen Kumpels hätten Faschomusik gehört. Es sei immer ums „Anderssein“ gegangen.
Als die FAP immer intensiver daran arbeitet in Wernigerode stärker zu werden, kommt Kalle in Kontakt mit Parteileuten. Einmal war er mit Sven auch auf einer Geburtstagsfeier von Thorsten Heise. Heise ist militanter Neonazi und heute Bundesvorstandsmitglied der NPD.
„Die Leute von der FAP waren aber ’ne ganz andere Nummer“, sagt Kalle und verzieht das Gesicht. Er und seine Leute wollten mit deren Politik und Stil nichts zu tun haben, sehr zum Unmut der Parteileute.
Davon hat mir auch David Begrich erzählt. Die Neonaziführer aus dem Westen wie Thorsten Heise aus Northeim seien damals zum Teil sogar überfordert gewesen von diesem unbändigen Gewaltpotenzial.
Die Exzesse der jungen Neonazis seien zu dem Zeitpunkt gar nicht im politischen Hauptinteresse der FAP gewesen, das war Parteiaufbau. Kalle erzählt, wie ihm die FAPler mit ihrem Saubermann-, Reiterhosen- und Seitenscheitelnazitum auf die Nerven gegangen seien. Seine Jungs hätten Action gewollt. Heißt: in Discos und Jugendclubs Terrorstimmung verbreiten.
Erst jetzt wird mir wirklich klar, dass die Nazis sich in den 90ern überall in der Stadt aufgehalten haben. Ich hatte es mir so vorgestellt, dass sie ihre einschlägigen Treffpunkte gehabt hätten. Irgendwie fühlt sich das schrecklich naiv an.
Mit über 2.000 Neonazis beim Rudolf-Heß-Marsch
„Ich war ja mit Sven auch aufm Rudolf-Heß-Gedenkmarsch“, sagt Kalle und beginnt zu grinsen. „Hat dir Sven das auch erzählt?“ Am 17. August 1992, dem 15. Todestag von Hitlers Stellvertreter, reisen über 2.000 Neonazis aus ganz Deutschland und Europa nach Rudolstadt in Thüringen. Darunter seien auch sie gewesen. Die Polizei riegelt damals die Stadt ab. Eigentlich um zu deeskalieren, gibt die Polizei die Zahl der angereisten Gegendemonstrant:innen an die Organisatoren der Nazidemo durch. 2.500 sind es.
„Da haben wir alle gejubelt und gedacht, jetzt raucht’s richtig – wir haben nur drauf gewartet. Wir wollten es. Auch ich. Ich ließ mich schnell anstacheln“, sagt Kalle.
„Wolltest du dich beweisen?“
„Man hatte halt das Gefühl, dass man der Blöde ist, wenn man nicht mitmacht“, sagt er. „Du wolltest dazugehören – nur wozu genau, weiß ich nicht mehr, so im Nachhinein.“
Ende der 90er habe er zwei Jahre Jugendknast abgesessen, sagt er. Körperverletzung, unter anderem. Es ging aber nicht nur gegen Punks, auch gegen „ganz normale Leute“.
„Aber wie war das mit Ausländern?“
„Die gab’s hier doch gar nicht“, antwortet er und lacht.
Vietnames:innen mit Steinen angegriffen
Ich denke an die damalige Unterkunft für Vietnames:innen in Wernigerode. Sven hat mir erzählt, er sei einmal dabei gewesen, als sie mit Steinen angegriffen worden sei. Doch Maik und seine Jungs, so sagen sie, hätten die Rechten damals vertrieben.
„Hattest du Hass in dir?“, frage ich Kalle, inzwischen etwas unsicher, und erinnere mich, was Fabian mir über Kalle erzählt hat. Kalle war damals stadtbekannt, auch Fabian kannte ihn. Viele haben sich über ihn lustig gemacht, weil er immer gebeugt ging und nicht als der Schlaueste galt. „Ich hatte das Gefühl, dass er das alles mit besonderer Brutalität kompensieren musste“, hatte Fabian gesagt und von einem Ereignis erzählt, das ich auch im Antifaschistischen Infoblatt von 1996/97 nachlesen konnte: Ein Nazi überfährt vorsätzlich mit einem Auto einen Antifa vor einem Wernigeroder Jugendclub und verletzt ihn dabei schwer.
Als ich ihn darauf anspreche, bestreitet Kalle nichts. „Das war ich höchstpersönlich“, sagt er und lacht wieder dieses eigenartig vergnügte Lachen, das sich auch bei Sven findet.
Er sei damals in Richtung eines linken Clubs in der Umgebung gefahren, und ein Punk, das könnten Gerichtsunterlagen bestätigen, sei mit 1,6 Promille selbst gegen seinen Seitenspiegel gelaufen. Kalle flieht, doch am nächsten Tag wird er verhaftet. Er habe eine Bewährungsstrafe wegen versuchten Mordes und eine Geldstrafe über 40.000 D-Mark bekommen.
„Ob ich gehasst habe? Schon …“, antwortet er zögerlich. Als 14- oder 15-Jähriger habe er dann immer von Älteren „die Jacke voll“ gekriegt. „Das nimmst du dann mit, wenn du älter bist.“
Eines Tages habe an der Wand der Schulturnhalle Kalles voller Name mit dem Zusatz „Nazischwein“ gestanden, da sei er in der achten Klasse gewesen. Damals habe er das mit einem Lächeln hingenommen, aber die Sache habe ihn weiter beschäftigt. Wut habe sich angestaut.
„Hast du jemals das Gefühl gehabt, dich nach all der Zeit bei jemandem entschuldigen zu müssen?“– „Nee, das nicht“, sagt er.
Wie die „Aktionen“ abliefen? „Wir sind mit dem Auto so lange rumgefahren, bis wir einen gesehen haben, und dann gab’s vor die Fresse. Ich weiß aber auch, dass es umgekehrt genauso war.“ Kalle macht immer wieder Pausen. Eigentlich perfekt, um die Fragen loszuwerden, die ich stellen wollte. Etwa: „Wie war es, zu Liedern zu tanzen, in denen es um den Tod von Juden oder Schwarzen geht?“ Aber irgendwie kann ich nicht. Vielleicht liegt es daran, dass dieser Wahnsinn, von dem er erzählt, nicht dazu passt, wie klar und engagiert, geradezu freundlich er sich bemüht, mir bei meinen Recherchen zu helfen, um „das Ganze mal einzuordnen“.
„Du kannst dir das alles nicht vorstellen. Was bist du für ’n Baujahr?“
„1997.“
„Siehst du, da hatte ich mit 14 schon so ein Ding durch mit dem Konzert. Das kannst du überhaupt nicht vergleichen, sehe ich ja jetzt auch, heute ist das eine ganz andere Zeit.“ Er denkt kurz nach. „Das war damals wie ein Selbstläufer. Ich wollte einfach nur anders sein, immer gegen den Strom schwimmen, und so war es bei den anderen auch.“
Maik, Sven, Kalle, die Aussagen gleichen sich alle, denke ich. Als hätten die „Aktionen“ im luftleeren politischen Raum stattgefunden. Als hätte es keine Opfer gegeben, wird vonseiten der ehemaligen Rechten das Geschehen verharmlost. Während überall im Harz Asylbewerber:innenheime angegriffen wurden, ereignete sich im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen der schwerste rechtsextreme Angriff in Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkrieges gegen Migrant:innen.
Sven hatte lediglich von „Bedenken“ gesprochen, die er damals gehabt habe, als er davon erfuhr. Kalle sagt, er habe die Bilder im Fernsehen gesehen. „Das hat man cool aufgenommen, fand man gut, hat man sympathisiert mit, aber, äh … ich versuche mich gerade zu rechtfertigen. Ich weiß gar nicht, wieso man das überhaupt cool finden sollte, deswegen überlege ich gerade, wie ich das formulieren sollte. Ich würde es dir gerne beantworten. Aber ich kann es nicht.“ Er habe sich auch schon gefragt, „was man damals eigentlich darstellen wollte“.
Am wichtigsten sei ihm die Musik gewesen, „dieses Netzwerken“, wie er sagt. Wie es dazu kam, dass er aus der Szene ausstieg, will er nicht sagen. Aber es sei im Jahr 2004 gewesen. Da habe er sich „um andere Sachen kümmern“ müssen.
„Maik und die Leute im Haus werden dir nicht viel anderes erzählen. Manches war vielleicht anders, aber vieles eben nicht“, sagt er und beginnt wieder zu lachen. „Vielleicht haben wir auch … ein anderes Verständnis dafür …“
„Wie meinst du das?“
„Na ja, unsere Generation – für dich ist das ja alles total unfassbar. Ich weiß gar nicht, wie man das sagen soll: Das waren die 90er Jahre, ja?“
Immer wieder dieser Satz, denke ich. Als wäre das eine Erklärung für alles.
Der Thrill, echte Feinde zu haben
Wieder denke ich: Maik, Anja, Sven, Kalle, Antifas und Neonazis, sie alle reden davon, erzählen von dieser krassen Gewalt, dem Thrill, sich in einer Stadt für einen Spaziergang zu bewaffnen und echte Feinde zu haben, die sie bekämpfen. Wie diese Gewalt sich eingeebnet hat, bleibt ein Stück weit unklar. Wenn man in der gleichen kleinen Stadt bleibt wie der ehemalige „Feind“, muss man sich wohl miteinander arrangieren, wenn man sich nicht sein Leben lang bekämpfen will.
Die Generation, die in den Neunzigern jung war, ist in dem Chaos der Nachwendejahre sich selbst überlassen geblieben. Es gab kaum positive Angebote für sie innerhalb dieses Vakuums. Die akzeptierende Jugendarbeit ist krachend gescheitert, hat in Teilen die radikale Rechte erst stark gemacht.
Vermutlich gibt es noch viel mehr Wunden, die die Baseballschläger in dieser Stadt gerissen haben. Ich habe in Werningerode nur zehn Jahre später eine völlig behütete Kindheit und Jugend verbracht. Vielleicht verstehe ich auch deshalb noch nicht, wie sich die Gewalt dort derart durchsetzen konnte.
Doch ich will nicht hinnehmen, dass dieses Kapitel der Stadtgeschichte abgeschlossen ist oder sein soll. Das ist es erst, wenn niemand mehr danach fragt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Bodycams bei Polizei und Feuerwehr
Ungeliebte Spielzeuge
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus