Tagebuch von der Frankfurter Buchmesse: Red mal über Ostdeutschland!

Die deutsche Literatur schaut gern gen Osten, damals wie heute. Auch unser Autor tut das, obwohl – oder gerade weil – er nach der Wende geboren wurde.

Blick in eine Halle der Frankfurter Buchmesse.

Für den Publikumsverkehr geffnet: Blick in eine Halle der Frankfurter Buchmesse Foto: Hannelore Foerster/imago

Heute startet die Messe für den Publikumsverkehr. Gleich soll ich auf einer Bühne als Nachwendekind aus dem Osten über den Osten reden. Und jetzt geht mir eine Frage der letzten Tage nicht aus dem Kopf: „Das sollte für Sie doch eigentlich kein Thema mehr sein, oder?“

Dazu kam es so: Am Mittwoch bin ich beim Suhrkamp-Empfang in der Unseld-Villa. Im Haus stehen überall Au­to­r:in­nen und Jour­na­lis­t:in­nen und an jeder Ecke stehen Kell­ne­r:in­nen mit weißen Blusen, grauen Schürzen und vollen Getränketabletts umher. Draußen wird geraucht. An einer Wand hängt ein Goethe-Gemälde von Andy Warhol und alle Wände sind voll mit Büchern von Hermann Hesse, Bertolt Brecht und in einem Regal: die berühmten bunten Taschenbuchreihen. Im Nebenraum: eine Bar und ein riesiger Tisch mit gefühlt 80 verschiedenen Käsesorten, Weintrauben und Brot.

Als ich draußen auf der Treppe vor dem Garten der Villa rauche, zeigt eine Autorin auf die Treppe und sagt: „Aron, hier stehst du richtig, hier passieren jedes Jahr die tollsten und unerwartetsten Dinge.“

Bevor ich etwas sagen kann, gehen alle rein und auf einmal sitzt da einfach Didier Eribon, der mit einer deutschen Übersetzerin sein kommendes Buch bei Suhrkamp vorstellt. Die Person, die netterweise dafür gesorgt hat, dass ich hier sein darf, hat davon nichts erzählt, und ich notiere in mein Handy unter eine selbstzweifelnde Nebennotiz vom Messealltag: 
„Korrektur, ich finde alles geil hier!“

Das Mysterium der Treppe

Als ich später auf der Messe einem Verleger von dem Empfang erzähle, erklärte er mir neben der Treppe ein weiteres Mysterium dieses Hauses: Man stehe da und wie durch Zauberhand und ohne etwas zu merken, wird einem das Weinglas immer wieder neu aufgefüllt. Jedenfalls stehe ich eine Weile vor einer Schlange Leute vor dem Bereich, wo Eribon steht, weil ich ihm gern einfach sagen will, dass ich ihn super finde.

Nach zwei Minuten prostet mir eine Frau ungefähr Mitte 50, mit Mantel, Brille und Rotweinglas zu und fragt mich fröhlich, wer ich bin und was ich hier mache. Zigarette?

Dann reden wir auf besagter berühmter Treppe und tatsächlich erfüllt die ihren Zauber und zack, stecken wir genau hier in Frankfurt, nach einer Lesung von Didier Eribon, mittendrin in einem Gespräch über den Osten: „Wenn ich mit Leuten in meiner Heimatstadt Hamburg spreche, die aus der DDR hierhergekommen sind, dann sagen die mir, dass das für die gar kein Thema mehr ist!“, sagt sie interessiert. „Und das sollte dann ja für Ihre Generation auch gar kein Thema mehr sein, oder nicht?“

Gleichzeitig schreiben aber super viele in meiner Generation jetzt darüber. Und damit zurück ins Jetzt: Im Gespräch auf der Messe geht es gleich um das Buch „Gittersee“ von Charlotte Gneuß. Ein Buch über eine junge Frau, die Mitte der Siebzigerjahre 16 Jahre alt ist, deren Partner Republikflucht begeht und die dadurch in die Maschinerie der Stasi gerät.

Neuer Vibe in der Ost-West-Thematik

Charlotte Gneuß ist 1992, zwar fünf Jahre vor mir, aber auch nach der Wende geboren. Sie hat die Teilung nicht miterlebt. Aber wie sie über die Alltagsmenschen, die Nach­ba­r:in­nen und Leh­re­r:in­nen schreibt, holt mich das sofort in meine Schulzeit zurück. Mit den Gebäuden aus der DDR-Zeit und den Lehrer:innen, die noch in diesem Land ausgebildet worden.

Ich denke wieder an die Frage der Journalistin. Das Thema Ost und West wird doch jetzt gerade richtig spannend, denke ich. Gerade jetzt, wo eine von älteren Bun­des­re­pu­bli­ka­ne­r:in­nen und älteren DDR-Bürger:innnen sozialisierte und schreibende gesamtdeutsche Generation immer mehr Bücher vorlegt, bildet sich ein ganz neuer Diskurs. Einer, der einen ganz neuen Vibe in die Ost-West-Thematik bringen könnte.

Denn jetzt sprechen mehr und mehr Menschen, die keine Sekunde ihres Lebens selbst in einer Hälfte des geteilten Deutschlands verbracht und die den Kalten Krieg nicht miterlebt haben. Leute, die sich ein Land rekonstruieren, das es nicht mehr gibt – mit der Betrachtung der heute Älteren und damals Jungen und sich selbst in der Gegenwart. So wie Charlotte Gneuß das macht, denke ich.


Aber kurz vor der Besprechung kurze Panik, wegen zu später Recherche: 
Gneuß' Großmütter haben zwar in der DDR gelebt, aber sie ist im Westen geboren. Das nahm ein älterer ostdeutscher Schriftsteller dann zum Anlass, auf „Fehler“ in ihrem Buch hinzuweisen. Zum Beispiel wäre es damals im Osten extrem unüblich gewesen, „lecker“ zu sagen. Die Folge: der Anflug einer Debatte, wer über die DDR schreiben solle und wer nicht. Ich rufe meine Oma an. Sie war zum Handlungszeitpunkt von Gneuß' Romanheldin Mitte 20.

Lecker oder was?

„Habt ihr damals das Wort lecker in der DDR benutzt?“


„Aron, es ist acht Uhr morgens …“

„Oma, es geht hier um was!“, sage ich und erzähle ihr alles. „Doch, wir haben damals lecker gesagt“, sagt sie schließlich und erzählt mit Hingabe vom ersten Quarkdessert der DDR – dem „Leckermäulchen“ – als ginge es dabei um ihre erste Jugendliebe.

Parallel google ich den ganzen Debattenkomplex, und mir fällt auf, dass der kritische, ältere Schriftsteller Gneuß' Buch trotz allem sehr gelobt hat und dass das „Leckermäulchen“ erst 1977 auf den Markt kam – Gneuß' Roman spielt aber 1976. Der Diskurs um das Wort „lecker“ bleibt ungeklärt, denke ich. Dann lese ich, dass sich Charlotte Gneuß in einem Interview mit der FAZ selbst zu der Sache äußert.

Dort wird auch klar, dass sie zwar nicht im Osten geboren ist, ihre Eltern aber eben schon. Diese durften in der DDR nicht studieren, sind ausgereist, ihre Onkel saßen in Haft und zudem gab es in ihrer Familie eine Republikflucht mit einem Todesfall, der in diesem Zusammenhang, der noch immer ungeklärt ist. Und von ihren Eltern habe sie erfahren, dass das Leben in Dresdner Vororten (wie dem titelgebenden Gittersee), anders war als in der Stadt des Kritikers und man da eben „lecker“ gesagt habe und drüber hinaus würde sie für ihren Roman nicht zwingend ausschließlich Worte aus der damaligen Zeit benutzen – einfach um auf die Gegenwärtigkeit ihres Stoffes zu verweisen.

„Natürlich war das personenabhängig, lecker zu sagen, was weiß ich denn, aber dass man sich jetzt an so einem Scheiß hochzieht“, unterbricht meine Oma meine Gedanken. „Es gibt doch bei dem Thema viel wichtigere Dinge zu besprechen!“

Auf dem Weg zu den Messehallen fällt mir ein, dass ich ganz vergessen habe zu fragen, was das alles für Dinge sein könnten. Aber am besten schreiben einfach möglichst viele darüber.

Aron Boks, 1997 geboren, lebt als Autor in Berlin. Er schreibt für diverse Zeitungen und Magazine. Zuletzt erschien das Buch „Nackt in der DDR“ über seinen Urgroßonkel, den Maler Willi Sitte (Verlag HarperCollins). Das Messetagebuch wird finanziert von der taz Panterstiftung.

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