Baden-Württemberg vor der Wahl: Der Versöhner
Der Ministerpräsident ist nicht deshalb so populär, weil er ein Grüner ist – sondern weil sich das Land dank ihm nun selbst wieder mag.
Der Ministerpräsident sei ja ein netter Kerl und habe auch durchaus vernünftige Ansichten, brummt Reinhard Löffler. Aber Kretschmann sei halt kein Grüner. Darüber kommen sie bei der CDU Baden-Württemberg nicht hinweg. Dass die regierenden Grünen und speziell ihr Ministerpräsident nicht so sind, wie sie die Grünen gern hätten: grell, laut, radikal, weltfremd, eifernd, besserwisserisch – also so, wie man es in Baden-Württemberg überhaupt nicht mag.
Löffler, 61, ist wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion und im Landtag der schärfste Kritiker der Grünen. Er spitzt seine Aussagen gerne so zu, dass es pikst. Das liegt daran, dass es ihm Spaß macht, aber auch daran, dass die CDU in der Opposition ist. Und wer in der Opposition ist – auch wenn es sich um die baden-württembergische CDU handelt – weiß, wie das ist: Man muss schon einen Nackthandstand machen, damit es irgendeiner mitkriegt.
Jetzt sitzt Löffler, der Brille und Jeans trägt, in einem Besprechungsraum im vierten Stock des Stuttgarter Abgeordnetenhauses und schüttelt den Kopf. „Die Grünen sind die Chinesen der Politik“, ruft er. „Sie kopieren uns.“ Und dass man ihn gern so zitieren könne.
Und jetzt, das ist das andere Problem der Union, gibt es auch noch die AfD.
Baden-Württemberg wählt am 13. März. Es ist ein Votum auch über den Kurs der Kanzlerin in der Flüchtlingsfrage und möglicherweise das endgültige Aus der einstigen CDU-Dominanz im Land. Die Grünen könnten laut Umfragen stärkste Kraft werden. Die Wochenzeitung kontext aus Stuttgart und die taz.am Wochenende berichten in der Ausgabe vom 5./6. März auf neun Seiten gemeinsam vom Spätzle-Spektakel im Südwesten. Das Online-Magazin kontext feiert im April seinen fünften Geburtstag und liegt seit Gründung auch gedruckt der taz.am Wochenende bei.
Noch hoffen sie bei der CDU weiter, die historische Abwahl von 2011 sei ein Versehen der Geschichte gewesen. CDU und FDP kamen auf knapp 44 Prozent, Grüne und SPD auf 47. Dass die Werte der Grünen in den jüngsten Stimmungsumfragen von damals 24 auf heute um die 30 Prozent gestiegen sind und die der CDU von 39 auf um die 30 Prozent gesunken? Um mindestens 5 Prozentpunkte würden sie am Ende vorn liegen, sagen sie jetzt ständig bei der baden-württembergischen Union, wenn auch mehr zu sich als zu anderen. Kann so kommen.
Sollte aber der Ministerpräsident am 13. März, 18 Uhr, wenn die Wahllokale schließen, auch noch die stärkste Partei repräsentieren, gehen noch mehr Direktmandate verloren als beim letzten Mal schon. Wenn der CDU auch das Land in weiten Teilen weiter gehört (Landräte, Rathäuser, Verbände) – die Landtagsfraktion wäre vollends abgemeldet.
Doch die wahlentscheidende Frage lautet nicht „Grün oder CDU?“, auch nicht „Grün-Rot oder nicht?“. Sondern: Kretschmann oder nicht mehr Kretschmann? Wie konnte es so weit kommen, dass sich ein Land, das quasi im Besitz der CDU war, so eins mit einem grünen Ministerpräsidenten fühlt? 65 Prozent der Wähler sind, einer ARD-Umfrage vom März zufolge, mit der Arbeit seiner Regierung zufrieden oder sehr zufrieden; eine Direktwahl würde Kretschmann haushoch gewinnen, selbst bei den CDU-Anhängern läge er momentan vorne. Was ist in den vergangenen fünf Jahren passiert?
Bernd Riexinger betritt ein Café an der Hauptstätter Straße im Stuttgarter Westen. Vorne Stadthighway-Feinstaubhorror, dahinter liegt das Heusteigviertel, Gründerzeit- und Jugendstilarchitektur, viele Cafés, Habitat von Regierungs-Grünen und ihren Wählern.
Riexinger, 60, ist Bundesvorsitzender der Linkspartei und ihr Spitzenkandidat in Baden-Württemberg. Er stammt aus der Nähe von Stuttgart, sieht aus und redet wie ein sympathischer Gewerkschafter. Falls „sympathisch und Gewerkschafter“ nicht ein Widerspruch in sich sein sollte. Blaues Hemd, kein Schmuck, kein rhetorischer Schnickschnack.
Man könne das Land nicht mehr vergleichen mit dem Baden-Württemberg von vor dreißig Jahren, sagt er. Damals bestand die Kultur noch darin, nicht zum Italiener essen zu gehen, weil es da keinen Rostbraten gab. Sein Vater war so drauf. Damals sagte man „Mischehe“, wenn ein Katholik eine Evangelische heiratete.
Eine Revolution war nie gewollt und nie möglich
Heute gebe sich Stuttgart weltoffen. Und grüne Hegemonie sei der Ausdruck dieser Entwicklung. Die aber nicht das Verdienst der Grünen sei. Einerseits seien die Grünen in eine Modernisierungslücke gesprungen, andererseits gebe Winfried Kretschmann den konservativen Landesvater, der über den Parteien schwebe. „Und das mögen die Leut’“, sagt Riexinger.
Bundespolitisch habe der Ministerpräsident durch seine Zustimmung zu den Asylrechtseinschränkungen „die Grünen als Menschenrechtspartei aufgegeben“. Die Bilanz der grün-roten Jahre im Land sei „okay, wenn man keine großen Erwartungen hat“. Den versprochenen Politikwechsel – sozial, ökologisch und bürgerdemokratisch – habe es nicht gegeben.
Riexinger zählt die niedrig verdienenden oder prekär beschäftigten Teile der Gesellschaft auf, um die sich die Grünen und die SPD aus seiner Sicht nicht kümmern, etwa Verkäuferinnen und Alleinerziehende. Seine Strategie besteht darin, zu sagen: Nur wir von der Linkspartei sorgen dafür, dass das Land nicht noch weiter nach rechts rutscht. Aber er weiß auch, dass die sozialen Verwerfungen hier im Vergleich zu anderen Bundesländern gering sind. Auch die Integration der klassischen Zuwanderer des 20. Jahrhunderts hat in Baden-Württemberg relativ gut geklappt, weil sich das Wohlstandsversprechen für viele von ihnen erfüllt hat – ohne dass die anderen das Gefühl hatten, das gehe auf ihre Kosten.
Die, die dieses Gefühl in diesen Tagen haben, sammeln sich bei der AfD. Weil Kretschmann eine Koalition mit Riexingers Partei kategorisch ausgeschlossen hat, kann diese auch niemanden, egal ob linke Grüne oder SPD-Anhänger, damit locken, dass sie das soziale Gewissen zu Grün-Rot addiere.
Wenn man die Menschen in Baden-Württemberg kennt, die Geschichte des Landes und die Möglichkeiten der Landespolitik, dann war von Anfang an klar, dass eine Revolution weder gewünscht noch möglich war.
„Die Grünen haben bewiesen, dass sie ein Bundesland regieren können, das noch dazu ein führendes Industrieland ist“, lobte die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Aber ein bisschen mehr hätte es schon sein können, brummen auch wohlmeinende linke Kritiker. Die Ausgaben sind gestiegen, neue Schulden hat man nicht gemacht, weil die Steuereinnahmen glänzend waren. Wie weit die vor Grün-Rot stets verschobenen Reformen gehen, wie gut sie sind, ist eine Frage der Perspektive.
Die Einführung der Gemeinschaftsschulen hat den größten Widerstand ausgelöst. Erstens weil das Thema die Leute zu allen Zeiten erregt, zweitens weil auch Winfried Kretschmann heute sagt, dass es zu viel in zu kurzer Zeit war. In seiner Logik ist daher das Gute an der Windenergiewende, dass es so lange gedauert hat, bis sie losging.
Aber Landespolitik beschäftigt relativ wenige Menschen. Die bevorstehende Landtagswahl wird sogar komplett dominiert von einem Thema, auf das auch ein mächtiger Ministerpräsident nur geringen Einfluss hat – dem der Flüchtlingsbewegung in die EU und nach Deutschland.
Auch hier haben Kretschmann und seine Spindoktoren festgestellt, dass man mit grüner Programmatik die Mehrheitsgesellschaft nicht vertreten kann. Seine Zustimmung zu bisher zwei Asylrechtsverschärfungen hat die Bundespartei durchgeschüttelt.
Kretschmann hält das Asylrecht nicht für zeitgemäß, um mit den Fluchtbewegungen des 21. Jahrhunderts klarzukommen. „Man muss kucken, was in der Welt passiert, und sich dann im Zweifel auch mal von dem verabschieden, was man bisher für richtig gehalten hat“, sagt er. „Ohne seine grundlegenden Prinzipien aufzugeben.“ Ein Grüner, der der Realität Priorität vor dem Prinzip einräumt! Jetzt halten die einen ihn für einen machtgeilen Opportunisten. Die anderen aber, und das ist entscheidend für den Respekt, den Kretschmann genießt, sehen in ihm nicht mehr einen Parteivertreter. Sie sehen ihn ihm den Ministerpräsidenten.
Dann ist da die Sache mit Kanzlerin Angela Merkel. Kretschmann gilt als wichtiger Unterstützer ihrer Flüchtlingspolitik. Ob bei Wahlveranstaltungen, im persönlichen Gespräch in der Stuttgarter Staatskanzlei oder bei der Frage, wie es ihm geht: Der Ausgangspunkt allen Handelns ist für ihn nicht, dass sie bei der CDU ist. Sondern die gemeinsame Sorge, „dass Europa an der Flüchtlingsfrage zerbrechen könnte“.
Das ist der Kern seines politischen Denkens: Keine Zukunft ohne EU, Konsens in der Krise, Demokratie verteidigen, Mitte zusammenhalten. Und die beinhaltet auch den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer. „Die AfD dämonisiert man zu Recht, die ist von allen guten Geistern im wahrsten Sinne des Wortes verlassen“, sagt er im klassischen Kretschmann-Krächzen, dem immer der Griff zum Wasserglas folgt. Seehofer in deren Nähe zu rücken hält er für abwegig.
Einen „großen Kanzlerinnenversteher“ hat ihn der CDU-Spitzenkandidat Guido Wolf genannt. Kretschmann „stalke“ Merkel geradezu, hieß es in der CDU-Landtagsfraktion. Durchaus pointiert. Den Begriff prägte selbstverständlich Reinhard Löffler, der Mann, der sich auf Zuspitzungen so hervorragend versteht. Das Problem der Union ist nur, dass solche Einordnungen dem Ministerpräsidenten weitere Wähler zutreiben: Nach Lage der Dinge gibt es moderne CDU-Wähler, die Wolfs jüngst hastig aufgeschriebenes Papier mit „Tageskontingent“-Forderungen, mit dem er sich von Merkel absetzte, überhaupt nicht schätzen. Den antimodernen CDU-Wählern aber, die in Richtung AfD tendieren, ist das zu halbgar. „Westentaschen-Seehofer“, höhnten sie in der Partei über Guido Wolf.
Das alles stützt den grassierenden Verdacht in Partei und Wählerschaft, der Spitzenkandidat und seine Berater hätten es einfach nicht drauf. Jedenfalls nicht annähernd so, wie die Profis aus Kretschmanns Staatsministerium.
Ein Hauptgrund für Kretschmanns Aufstieg ist die CDU
Reinhard Löffler sagt: „Du musst als CDU da jetzt mit der Kanzlerin durch.“ Er ist „Last CDUler Standing“. Der Einzige, der in Stuttgart 2011 seinen Wahlkreis gewonnen hat, den einkommensschwächsten. Drei der vier Wahlkreise der Stadt gingen an die Grünen. Doch jetzt, 2016, ringt Löffler mit dem populären Grünen Umweltminister Franz Untersteller und rechts nicht nur mit der AfD, sondern auch mit der FDP, die ihren Aufschwung auch auf flüchtlingskritische Politik aufbaut. „Rechtspopulismus light“, nennt Löffler das.
Es ist kompliziert. Eine starke AfD kann eine grün-rote Regierung verhindern, weil sie SPD-Wähler abzieht. Andererseits schwächt sie die CDU und gibt Kretschmann die Chance auf den ganz großen Sieg. Und sie gefährdet manches Direktmandat der CDU.
Das ist ein Hauptgrund, warum die einen den Fraktionskollegen Wolf verfluchen – ein Spitzenkandidat, der verliert, war immer der falsche.
Und die anderen verfluchen Merkel. Bitte, noch kann alles gut gehen. Wenn die Bundeskanzlerin Anfang nächster Woche ein gut vermittelbares Ergebnis aus Brüssel mitbringt, denkt Löffler, läuft die CDU am Ende tatsächlich noch bei 35 Prozent ein, und das könnte ausreichen. Für die Macht und für das eigene Mandat.
Alle kurzfristig denkbaren Launen ändern aber nichts: Ein Hauptgrund für den unglaublichen Aufstieg des Winfried Kretschmann sind die Protagonisten von der CDU. Günther Oettinger, der heutige EU-Kommissar, personifizierte als Ministerpräsident den Modernisierungsstau der Partei. Erst brauchte er ewig, bis er 2005 seinen Old-School-Vorgänger Erwin Teufel ablöste. Dann konnte er die Moderne intern nicht durchsetzen und nicht nach außen repräsentieren.
Es kam sogar zum Rollback – mit dem Atomkraftsuperfan und Grünenfresser Stefan Mappus. Moderne Politiker wie der frühere CDU-Sozialminister Andreas Renner wurden abgewickelt. Jetzt stehen hauptsächlich Leute bereit, Minister zu werden, die „so schwarz sind, dass sie im Kohlenkeller einen Schatten werfen“, wie ein Insider sagt.
Aber Mappus wurde nicht abgewählt, weil die Mehrheit einen Systemwechsel wollte oder inhaltliche Qualität. Sondern weil viele sich von ihm und seiner Partei nicht mehr repräsentiert sahen.
Die Union mag zwar auf Landesebene durch das jahrzehntelange Verwalten von Posten und Macht schon lange vorher inhaltlich hohl gewesen sein. Aber, ja Gott, solange das den Daimler nicht bremste, war das offenbar kein Problem. Die Emotionen des Streits um das Infrastruktur- und Immobilienprojekt „Stuttgart 21“ allerdings beförderten an die Oberfläche, was bis dahin nur geschwelt hatte: Die Gesellschaft hatte sich im Gegensatz zur CDU längst modernisiert. Nun wurde deutlich, wie weit man auseinandergedriftet war. Im Streit über den Bahnhof nahm eine Mehrheit die CDU und ihren Ministerpräsidenten Stefan Mappus so wahr: autoritär, antiintellektuell, nur noch in Klischees sprechend, hilflos. Und da dachten viele: Das sind wir nicht.
Es steckt aber noch mehr hinter der Entwicklung. Der preisgekrönte Baden-Württemberg-Spruch „Wir können alles – außer Hochdeutsch“ galt manchen als pfiffig. In Wahrheit verstärkte Sebastian Turners Slogan den tief sitzenden kulturellen Minderwertigkeitskomplex der Bürger: dass sie zwar Autos und Schrauben global verkaufen könnten, aber sonst nicht viel los sei. Die ganzen Klischees hatten sich schwerer über das Land gelegt als heute der Feinstaub. Und die Landes-CDU hielt und hält sie am Leben, weil sie denkt, das hielte auch sie am Leben.
Und nun hat Winfried Kretschmann viele Bürger mit dem Land und mit sich selbst versöhnt. Es ist daher ein großes Missverständnis, Kretschmanns Identifikationspotenzial zu reduzieren auf seine konservativen Traditionalismen wie den katholischen Glauben, das Wandern, das Heimwerken oder das „Froschkuttelfressen“, wie er zu sagen beliebt. In Wahrheit steht er für den nachvollzogenen Modernitätssprung. Dafür, dass viele nicht mehr die Sorge plagt, Baden-Württemberg sei kulturloser Dumpfkapitalismus und sie selbst seien radebrechende Hinterwäldler mit Arbeitswahn und Putzfimmel.
Weil er ein überzeugter Provinzpolitiker ist, aber auch wie ein Weltpolitiker reden kann. Weil weiter Autos gebaut werden, aber jetzt auch Windräder. Das ist die Formel, aus der die erste grüne Volkspartei gebaut worden ist. Das hat den kulturellen Minderwertigkeitskomplex verkleinert, auch dafür steht Kretschmann. Wir können alles – ohne Hochdeutsch.
Die Grünen haben die SPD als Alternative zur CDU abgelöst, weil sie eben nicht sozialdemokratisch daherkommen, sondern wirtschaftsökologisch. Besser wirtschaften, BW, das sind die Initialen dieses Bundeslandes. Und nun sogar mit Stil und Moral.
Das ist auch ein Grund, warum die Linkspartei nicht davon profitiert, dass Kretschmann keine Politik macht, die linker Theorie verpflichtet ist.
Bernd Riexinger, ihr Spitzenkandidat, sitzt im Café nahe dem Heusteigviertel, und erinnert noch einmal daran, dass seine Partei eine andere Politik mache. Der Protest gegen „Stuttgart 21“, der die CDU stürzte und die Grünen an die Macht brachte? Dessen Unterstützung hat die Linkspartei übernommen. Aber Massen sind das nicht mehr.
Da fast alle Umfragen die Linkspartei klar unter 5 Prozent sehen, hält sich auch die Zahl der ansonsten schwer Enttäuschten offenbar in engen Grenzen.
Was für die Enttäuschen Verrat war, wurde zur Grundlage des erstaunlichen Vertrauens der Mehrheitsgesellschaft: dass Kretschmann das Votum des Bürgerentscheids pro Tiefbahnhof demokratisch akzeptierte, obwohl es nicht seiner Position entsprach. Auch deshalb gilt er heute als „Der Ministerpräsident“ und hat, auch im Ländervergleich, so überragende Zustimmungswerte, dass alles neben ihm verblasst, der Herausforderer von der CDU genauso wie der Koalitionspartner SPD.
Reinhard Löfflers Ansicht, dass Kretschmann kein Grüner sei, dass er auch CDU sein könnte, wird ja von einigen geteilt. Was richtig ist: Er arbeitet auf der Grundlage, dass Politik nicht richtig oder falsch ist, sondern eine Mehrheitsfrage. Inhaltlich lässt sich das gerade im ureigensten grünen Bereich überhaupt nicht verifizieren.
Er ist, auch wenn er nur auf Nachfrage darüber spricht, in seinem Denken ein sehr ernsthafter Öko. Er hat mit Franz Untersteller (Energie, Umwelt) und Winfried Hermann (Verkehr) grüne Fachpolitiker zu Ministern gemacht, die darauf brannten, ihre Konzepte umzusetzen. Das kommt selten vor. Als er Baden-Württemberg als Ort für ein Castorlager ins Spiel brachte, löste er die Blockade der Atomendlagerpolitik. Wer Atomkraftwerke hat, muss auch für den Müll Verantwortung übernehmen: diese simple Logik hat noch kein anderer angewandt.
Eine fundierte Staatsrede über grünes Wirtschaften, die Versöhnung von Ökologie und Wohlstand ist bis auf Weiteres von einem CDU-Politiker schlicht nicht zu erwarten. Und von einem SPD-Politiker auch nicht. Kretschmann hat sie letzten Mai an der Universität von Berkeley, Kalifornien gehalten. Es war spektakulär. Die baden-württembergischen Wirtschaftsfunktionäre nickten brav. Und die amerikanischen Wirtschaftsexperten im Publikum nickten auch. Ah. So läuft das bei denen.
So läuft es noch nicht. Nein. Aber das ist die Macht des Wortes und des Amtes. Selbstverständlich stehen die regierenden Grünen auch für die illusionäre Vorstellung, dass Veränderung geht, ohne dass sich groß was ändert. Aber Kretschmann hat die Grünen eben nicht einfach opportunistisch dem angeblich konservativen Baden-Württemberg und seiner Wirtschaft angepasst. Er passt das sich biologisch und kulturell erneuernde Land sozialökologischen Werten an. Und das Land kommt ihm dabei entgegen, weil es ihm vertraut. Das ist die subversive Kraft, die von diesem Politiker ausgeht, dem ein taz-Interviewer schon in den frühen 80ern entgegenschmetterte, er sei „das Öl, das die Maschine am Laufen hält“. Worauf Kretschmann entgegnete: „Ich mache Realpolitik in fundamentaler Absicht.“
Winfried Kretschmann kann eine Episode bleiben und nächsten Sonntag nach Hause fahren, um in seiner Werkstatt erst mal ein Schaukelpferd für seinen Enkel zu basteln. Aber er könnte auch der Mann sein, der in seiner vermeintlichen Betulichkeit tatsächlich einen fundamentalen Übergang moderiert. In ein neues Baden-Württemberg. Und in eine neue grüne Partei. Ob das eine gute Nachricht ist, muss jeder selbst entscheiden.
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