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Autorin über Sprache und Identität„Den Zeugen war nicht zu trauen“

Die Autorin Claudia Durastanti spricht über ihren Roman „Die Fremde“ – und was es bedeutet, mit verschiedenen Identitäten zurechtkommen zu müssen.

Die Schriftstellerin und Übersetzerin Claudia Durastanti Foto: Alberto Cristofari/Contraso/laif
Marielle Kreienborg
Interview von Marielle Kreienborg

Claudia Durastanti erzählt in „Die Fremde“ ihre italo-amerikanische Familiengeschichte, vom Aufwachsen in Brooklyn, der Rückkehr als kleines Mädchen in die Basilicata und dem London der Gegenwart. Als Tochter gehörloser Eltern bringt sie sich selbst die Sprache(n) bei, die ihr die Eltern nicht geben können. Der dieses Jahr in deutscher Übersetzung erschienene Roman wurde vielfach ausgezeichnet und von der Kritik gefeiert.

taz: Frau Durastanti, „Die Fremde“ beginnt mit einem Zitat der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson, „after great pain, a formal feeling comes“. Warum haben Sie gerade dieses Zitat ausgewählt?

Claudia Durastanti: Ich bin zufällig darauf gestoßen, das Zitat hat das Buch gewissermaßen „geboren“. Ich hatte keine genaue Vorstellung, außer dass ich eine Art persönliches Essay über die Sprache meiner Familie schreiben wollte, und ich war mir über den Titel „Die Fremde“ im Klaren, inspiriert von dem Rapport zwischen Behinderung, Identität und Differenz.

Das Buch

Claudia Durastanti: „Die Fremde“. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. 304 Seiten, gebunden, 24 Euro, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2021.

„Behinderte“, schreiben Sie in Ihrem Roman, „jedes Wort zu ihrer Bezeichnung ist ungenügend.“ Welchen Wandel wünschten Sie sich in Betrachtung des inklusiven wie exklusiven Potenzials von Sprache?

Für mich war der Weg vom Begriff gehandicapt über behindert zu gehörlos dahin, von Menschen mit einer Behinderung zu sprechen, nicht immer linear, eben weil die Wörter, die wir verwenden, die Wörter sind, die uns in der Schule und in der Gesellschaft beigebracht werden. Ich denke und hoffe, dass die neuen Generationen darin viel fließender sein werden, indem sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten immer auf den Begriff „Person“ zurückführen.

Ihre Mutter spricht die Gebärdensprache mit anderen Gehörlosen, nicht jedoch mit Hörenden. Ihr Vater verweigert sie gänzlich. Beide rebellieren gegen die Rolle, die die Gesellschaft ihnen zuschreibt. Sie schreiben, Sie könnten Ihre Eltern gut verstehen, wenn diese lieber als „Fremde“ wahrgenommen werden wollten denn als „Behinderte“. Warum gelingt selbst in auf Pluralismus und Heterogenität ausgelegten Gesellschaften kein unbeschwerter Umgang mit Behinderungen und Alterungsprozessen?

Weil es in Ländern mit einer stark katholischen Kultur wie Italien immer die Idee gab, das Leben dieser „unglücklichen“ Menschen am Rande der Hilfe und des Mitgefühls abzulehnen, was Menschen mit Behinderungen oft eine politische Stimme und eine authentische Erfahrung der Emanzipation vorenthält.

Da meine Eltern Gehörlosigkeit nur als eine strafende und stigmatisierende Dimension sahen, hatten sie kulturell nicht wirklich die Möglichkeit, sich vorzustellen, dass sie auch innerhalb der Gehörlosigkeit und durch das Sprechen der Gebärdensprache frei und unabhängig sein könnten. Darin sind sie Sinnbild für ihre Generation und die rückwärtsgewandten Diskurse über die Idee der Normalität.

Im Interview: Claudia Durastanti

wurde 1984 in Brooklyn geboren und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin. Nach Stationen in Rom und in London, lebt sie heute in New York.

Kunst, schreiben Sie, könne ein Individuum von seiner Andersheit und die Andersheit von der Einsamkeit befreien. Welche Werke prägten dieses Gefühl?

Oft kommt diese Möglichkeit in avantgardistischen Werken zum Ausdruck. Es sind Werke, in denen Raum für Schräglauf geschaffen wird. Ich erkläre in dem Buch, dass die experimentelle Musik von Lucier oder Cage inklusiver sein kann als melodischer Pop, weil sie auch das Unzugängliche in sich beherbergt, die Fähigkeit, nicht zu hören, Klänge misszuverstehen. Das gilt bis zu einem gewissen Grad auch für die Literatur. Faulkner versuchte trotz aller historischen Einschränkungen der Behinderung, wie er sie sich vorstellte, durch eine experimentelle Sprache eine Stimme und eine Form zu geben.

Ihre Familiengeschichte hat mich daran erinnert, dass bereits die ersten Epen Migrationsgeschichten sind. Auch Teile Ihrer Verwandtschaft, seit Jahrzehnten von Migrationswellen durchdrungen, zählten zur Trump-Wählerschaft. Wie erklären Sie sich dieses Paradox und die wiedererstarkenden populistischen und nationalistischen Tendenzen in vielen Teilen der Welt?

Ich glaube, dass viele Antworten in der Polarisierung zwischen Identität und Gemeinschaft gefunden werden können. Wenn der Migrant in einem neuen Land ankommt, hat er die Vorstellung, sich selbst definieren zu müssen, eine Rolle zu finden, sich in die Gesellschaft zu integrieren, indem er eine neue Version seiner selbst annimmt.

Es gab, ich habe es in meiner Familie erlebt, eine sehr weit verbreitete Vorstellung, dass man es nur schaffen kann, wenn man eine sehr starke Identität wiedererlangt und die der Gemeinschaft, zu der man gehört, verteidigt. Und das bedeutete, dass wir die anderen Gemeinschaften, die anderen Migranten, die anderen Menschen, die in dasselbe Epos verwickelt waren, aus den Augen verloren.

Die Idee dieser Identität als einer Form der Selbstverteidigung und des Erfolgs ist immer noch weit verbreitet, und vielleicht wird es nicht einmal die Erfahrung der Pandemie schaffen, die Idee durchzusetzen, dass sie nicht funktioniert. Dass selbst beim Auswandern, bei der Suche nach einer neuen Zugehörigkeit, nie das überforderte Ich der Schlüssel ist, und auch nicht die kleine Gemeinschaft um einen herum, sondern die größere und chaotischere, die einen umgibt.

Können Sie uns am Entstehungsprozess Ihres autofiktionalen Romans teilhaben lassen? Haben Sie Gespräche mit Ihren Eltern und Verwandten geführt, Anekdoten verschriftlicht, das Archiv Ihrer Erinnerungen durchgegraben, Tagebücher durchforstet, Ihrer Fantasie freien Lauf gelassen?

Ich habe viel mit meiner Mutter gesprochen, ich habe ihre Brüder interviewt, ich habe meinem Vater ein paar Fragen gestellt, aber vor allem habe ich viel mit den überlieferten Quellen gearbeitet: mit all den Bildern, Worten und Gesprächen, die in meiner Erinnerung über die Zeit erhalten geblieben sind.

Also benutzte ich diese sehr schmutzigen und verunreinigten Quellen in dieser Art von Familienforschung: Ich konnte nicht nur den Zeugen nicht trauen – jeder in meiner Familie stellt sich als unzuverlässiger Romancier dar –, sondern nicht einmal meinen eigenen Erinnerungen, denn selbst ich änderte meine Meinung. Über Trauma, über Schmerz, über das Gefühl der Migration, über das Gefühl der Zugehörigkeit und darüber, wer meine Mutter für mich von Zeit zu Zeit war. In einem solch dynamischen Prozess zählte der Ton, die Sprache mehr als die Wahrheit und die Geschichte.

Ihr Roman gliedert sich in verschiedene Kapitel: Familie, Reisen mit den Stationen Amerika, Italien, England, Gesundheit, Arbeit & Geld und schließlich die Liebe. Welche Stellen stellten Sie vor die größten Herausforderungen?

Die letzten beiden Kapitel, die, die mehr viszeral und mehr wie eine Art persönliches Tagebuch sind. Denn zum Thema Geld und Liebe befand ich mich während des Schreibens noch in einer Art Übergangsphase: Ich verstand nicht ganz, wie ich die Schwelle des Hauses meiner Mutter überqueren sollte, untergeordnet und immer verschuldet, was würde aus mir werden? Würde ich innerlich immer arm bleiben, auch wenn meine Kaufkraft steigt?

Annie Ernauxs „Der Platz“ hat mich sehr zum Nachdenken gebracht, da sie sich vom subalternen Leben ihrer Eltern emanzipiert hat und über Klasse nachdenkt. Dasselbe bei der Liebe: Wie nennt man eine Beziehung, die sich über die Zeit erstreckt, die zwei Jugendliche von allem isoliert, in einem historischen Moment, in dem ich eine Art sentimentale „ethnische“ Minderheit repräsentierte? Ich wusste nicht, welchen Namen ich solchen intimen Erfahrungen geben sollte. Aber die Zerbrechlichkeit dieses Teils des Buches ist kostbar für mich.

Die Autorin und literarische Übersetzerin Anne Weber, die seit vielen Jahren in Frankreich lebt, verfasste ihre ersten Bücher zunächst auf Französisch, bevor sie sie eigenständig ins Deutsche brachte. Heute arbeitet sie umgekehrt. Wie sieht Ihr Schreibprozess aus? Werden Sie „Die Fremde“ ins Englische übersetzen?

Im Moment schreibe ich in meinem Kopf immer öfter in zwei Sprachen, aber ich übersetze mich ins Italienische, weil es die Sprache ist, in der ich immer noch am liebsten schreibe, zumindest Romane. Bei Non-Fiction bevorzuge ich Englisch, da fühle ich mich schärfer und klarer. Ich würde meine Bücher derzeit niemals übersetzen, die Versuchung, sie umzuschreiben und zu verändern, wäre endlos und würde Jahrzehnte dauern!

„Die Fremde“ wurde von Elizabeth Harris ins Englische übersetzt, ich stand ihr sehr nahe, aber es war mir wichtig, diese Geschichte der Stimme und der Interpretationskraft eines anderen anzuvertrauen. „Die Fremde“ ist in gewisser Weise auch ein Buch über Übersetzung, und ich mochte es, diese Idee zu verstärken, dass das Leben anderer Leute mein eigenes ergänzt.

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