Autorin Ursula Le Guin: Die Dinge im Beutel

Ein kleiner Essayband der amerikanischen Autorin Ursula K. Le Guin macht Lust auf mehr. Sie fragte nach Alternativen des Zusammenlebens.

Porträt von Ursula Le Guin

Die amerikanische Autorin Ursula Le Guin Foto: Euan Monaghan/Structo

Vor drei Jahren starb die amerikanische Autorin Ursula K. Le Guin. In Deutschland ist sie nur deshalb nicht so bekannt, wie ihr eigentlich gebührte, weil ihre Romane irgendwo im Genregebiet zwischen Fantasy und Science-Fiction angesiedelt sind und deshalb nach ungeschriebenen, also kaum reformierbaren deutschen Kategorisierungsregeln nicht zur „Literatur“ gehören.

Deshalb konnte es wohl auch passieren, dass Le Guins essayistische Arbeiten hierzulande unbekannt, das heißt weitgehend unübersetzt geblieben sind. Im kleinen Drachen Verlag ist ein Büchlein erschienen, das eine Handvoll zu verschiedenen Anlässen entstandene Texte enthält, herausgegeben und in ein schönes, schwungvolles Deutsch übertragen von Matthias Fersterer.

Ursula K. Le Guin: „Am Anfang war der Beutel. Warum uns Fortschritts-Utopien an den Rand des Abgrunds führen und wie Denken in Rundungen die Grundlage für gutes Leben schafft“. Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Matthias Fersterer. thinkOya, Drachen Verlag, Klein Jasedow 2020, 96 S., 10 Euro

Le Guin tritt darin als klarsichtige, unerschrockene, streitbare und humorvolle Denkerin auf – und man würde das Attribut „originell“ hinzufügen wollen, wenn sie sich in ihren Argumentationen nicht stets explizit auf andere beziehen würde. Nicht zuletzt muss sie eine große Leserin gewesen sein.

Der titelgebende Essay „Am Anfang war der Beutel“ greift eine These der feministischen Autorin Elizabeth Fisher auf, die in ihrem Buch „Woman’s Creation. Sexual Evolution and the Shaping of Society“ (1979) geschrieben hatte: „Das erste Werkzeug war wahrscheinlich ein Behältnis … Vielen Theorien zufolge handelte es sich bei den ältesten kulturellen Erfindungen um Behältnisse zum Transport von Gesammeltem und um eine Art Tragetuch oder Tragenetz.“

Bewahren oder aufspießen

Der Tragebeutel steht symbolisch für eine friedliche, selbstgenügsame Art von Gesellschaft, in der Subsistenz nicht durch Gewalt erreicht werden muss, sondern bedeutet zu sammeln, zu tragen und zu bewahren. Ganz anders etwa der Speer – oder auch der Knochen, mit dem in Kubricks „2001“ ein Urmensch einen anderen erschlägt.

Solche Werkzeuge allerdings, gibt Le Guin zu bedenken, bedeuten nicht nur Gewalt und Aggression, sondern gleichzeitig menschliches Drama sowie Entwicklung – also gute Geschichten. Im Vergleich dazu, schreibt sie, sei es „schwer, eine wirklich packende Geschichte davon zu erzählen, wie ich erst einer wilden Haferspelze ein Haferkorn abgerungen habe und dann noch einer und dann noch einer.“ Und doch sei sie Anhängerin einer „Tragetaschentheorie des Erzählens“.

Zwar habe im Roman traditionellerweise „der Held oft die Macht an sich gerissen“. Das gelte, so schreibt sie an anderer Stelle, auch für ihre eigene Literatur. Sie habe früher so geschrieben – und damit meint sie auch: männliche Helden in den Fokus ihrer Erzählungen gestellt. Im Vorwort zur aktuellen englischsprachigen Gesamtausgabe ihrer „Erdsee“-Saga beschreibt sie ihre gedankliche Emanzipation von dieser früheren Prägung mithilfe dessen, was „in unserer Gesellschaft Feminismus genannt werden muss“.

Sich zu allem anderen in Beziehung setzen

Eigentlich aber sei der Roman „im Kern eine unheroische Form des Erzählens“ – und im Prinzip so etwas Ähnliches wie ein großer Sack. Ein Beutel. Und so sei denn ihre eigene Science-Fiction „so wie jede ernstzunehmende erzählende Literatur […], ein Versuch, das zu beschreiben, was passiert, […] wie Menschen sich zu allem anderen in diesem riesigen Sack Befindlichen in Beziehung setzen.“

Das ist die friedfertige Beutelpoetik der Ursula K. Le Guin. Die Programmatik des ersten Textes in diesem Buch findet sich, auf eine je etwas andere Ebene gehoben, in den anderen Beiträgen des Essaybands wieder. Euklidisch und nichteuklidisch, Yin und Yang (Le Guin beschäftigte sich intensiv mit dem Taoismus), Utopie, Eutopie, Dystopie werden einander gegenübergestellt und gegeneinander aufgewogen; und nicht zuletzt wird das Erzählen über Haferkörner in sein Recht gesetzt. Le Guin wollte weder Fantasy noch Science-Fiction im herkömmlichen Sinn schaffen; ihre literarischen Visionen hatten eine andere Zielrichtung.

„Fantasy klammert am Feudalismus, Science-Fiction an militärischen und imperialen Hierarchien“, schreibt sie. Auch dem Utopiebegriff stand sie skeptisch gegenüber. In den Essays dieses Bändchens zeigt Ursula K. Le Guin sich als Autorin, deren Denken darum kreist, welche alternativen Möglichkeiten des Zusammenlebens der Menschheit zur Verfügung stünden – und auf welche Weise diese sich in der Literatur spiegeln können.

Vielleicht war Le Guin ja mit vielem, was sie schrieb, zu früh dran. Doch in der Populärkultur haben viele ihrer Ideen an anderer Stelle Wurzeln geschlagen. James Camerons Film „Avatar“ zum Beispiel basiert auf ihrem Roman „Das Wort für Welt ist Wald“ von 1976. Viele Elemente aus „Game of Thrones“ sollen auf Werke von Le Guin zurückgehen. Und wer weiß, ob es ohne die Zauberschule aus Le Guins erstem „Erdsee“-Roman je Hogwarts und Harry Potter gegeben hätte.

Bei der Verleihung des US-amerikanischen National Book Award an Ursula K. Le Guin im Jahr 2014 erzählte ihr Kollege Neil Gaiman in der Laudatio (es gibt den Ausschnitt auf Youtube), wie großartig er es sich als Elfjähriger nach der Lektüre von „Der Magier von Erdsee“ vorgestellt habe, auf eine Zaubererschule zu gehen. Da sei er wohl nicht der Einzige gewesen, fügt er vielsagend hinzu: „Andere hatten dazu dann ihre eigenen Ideen. Aber Ursula war die erste!“

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