Autorin Despentes über neuen Roman: „Wir sind alle Diven“
Sie ist Feministin und gefeierte Autorin. Virginie Despentes spricht über ihr neues Buch „Vernon Subutex“ und das Fehlen der Zweifler.
Paris, Rue de Belleville, Metro Jourdain, Virginie Despentes trägt ein T-Shirt, Jeans und Sneakers, sie hört Musik über Kopfhörer. Die Frau, die mit ihrem Debüt „Baise-moi“ einen Skandal in Frankreich ausgelöst hat, zu viel Sex und Gewalt, wirkt zurückgenommen. In dem Café, wo wir uns niederlassen, hören die jungen Betreiber Abba und R.E.M. Mit genügend generationellem Abstand wird der Mainstream zur Parole: „Rich Man’s World“ und „Losing my Religion“. Despentes aktueller Roman „Das Leben des Vernon Subutex“ ist furios und psychologisch genau. Eine Sensation. Die Geschichte des sozialen Abstiegs des Plattenladenbesitzers Vernon Subutex ist Porträt einer ganzen Generation und Dokument einer sozioökonomischen Zeitenwende. Despentes hält alles fest. Härte und Irrnis eines zutiefst verunsicherten Frankreich, Fronten und Mythen und vor allem, wie sie durcheinandergeraten. Immer mehr.
taz: Ein deutscher Kritiker sah in Ihrem Roman ein „Panoptikum der Loser“. Sehen Sie das auch so?
Virginie Despentes: Das sind keine Loser, sondern ganz normale Leute in ihren 40ern.
Dann kennt er solche Leute wohl nicht.
Mein Roman ist ein Roman über Frankreich und speziell über Paris. Als ich vor fünf Jahren aus Barcelona nach Paris zurückkam und mit der Arbeit an „Subutex“ begann, fiel mir auf, dass alle um mich herum irgendwie depressiv waren. Nicht klinisch, aber dennoch.
Warum?
Alle waren irgendwie fertig wegen ihrer Arbeit und der Frage, was man eigentlich dafür bekommt oder was man erreicht hat. Mir kam das alles wie eine kollektive Depression vor. Das hat nichts mit Losertum zu tun.
Loser klingt zu sehr nach Schuld?
Ja. Ich glaube nicht so sehr an das Individuelle. Die Dinge haben sich grundsätzlich geändert. Besonders die Leute, die in der Musikindustrie unterwegs waren und jetzt in ihren 40ern und 50ern sind, waren schlecht vorbereitet auf das, was kommen sollte. In den 1990ern haben sie alle große Partys geschmissen und dann sind innerhalb von fünf Jahren die meisten von ihnen in die Prekarität gewandert. Im Journalismus passiert Ähnliches.
Das Paradigma der 1990er war, kreativ sein zu müssen. Hat sich das erledigt?
Heute macht man sein Ding in YouTube oder in der Mode, das ist auch kreativ, aber es geht eher darum, ein SocialMedia-Star zu sein. Wir haben in den 1990ern an die Kunst als überlegene Form geglaubt, an die Kunst als etwas, das außerhalb des Marktes steht. Seltsam genug. An so etwas glaubt man heute nicht mehr. Kreativität ist viel mehr direkt mit Erfolg und Geld verlinkt.
Ist das ein neuer Nihilismus?
Es ist einfach anders.
Aber die Depression, von der Sie sprachen. Wann hat die begonnen?
Das ging Anfang des Jahrhunderts los und dann kam 9/11 und hat den Franzosen klargemacht, dass die Karriere der Nation zu Ende ist. Frankreich hat große Probleme mit dem Postkolonialismus, das wurde immer deutlicher. Gleichzeitig ging das Gefühl, eine wichtige Nation zu sein, verloren. Man kann das übrigens am besten an den jungen Männern in Paris sehen, egal welcher Herkunft, sie haben irgendetwas verloren, das ist physisch, sie wissen nicht, wie sie sich anziehen sollen, wie sie sich eigentlich verhalten sollen.
Sie beobachten sehr gut. In Ihrem Roman brauchen Sie oft nur zwei Sätze, um dem Leser den Habitus einer Figur vor Augen zu führen.
1969 geboren, sozialisiert im Punk, arbeitete als Prostituierte, ist Feministin und Schriftstellerin. Der Film zu ihrem ersten Roman „Baise-moi“ (2000) wurde in Frankreich verboten. Ihr aktueller Roman „Vernon Subutex“ (deutsch von Claudia Steinitz,) Verlag Kiepenheuer & Witsch) wurde mit dem Prix Anaïs Nin ausgezeichnet. 2016 wurde sie in die Académie Goncourt gewählt.
Paris ist fantastisch dafür.
Draußen in den Cafés sind die Stühle alle hintereinander zum Trottoir hin ausgerichtet. Es ist wichtiger, die Passanten zu sehen als die Augen seines Gegenübers. In Deutschland muss man sich immer für sein Gegenüber interessieren.
Das ist interessant. In St. Germain kann man so gut wie nirgends sonst Menschen beobachten. Ich sitze gerne stundenlang und beobachte die Körper.
Viele halten sie für den neuen Honoré de Balzac.
Ich weiß nicht, was die Kritiker mit Balzac haben. Aber den sehen sie jedenfalls nicht nur in mir. Seit vier, fünf Jahren geht das so. Sie entdecken ständig einen neuen Balzac. Auch Houellebecq halten sie für Balzac. Houellebecq – Balzac? Wirklich nicht. Die Franzosen lesen mein Buch wie einen Roman aus dem 19. Jahrhundert. Aber hey, das liegt nur daran, dass wir sehr 19. Jahrhundert sind.
In Deutschland entdecken die Kritiker alle halbe Jahr einen neuen Sartre, einen neuen ultimativen öffentlichen Intellektuellen, der aus Frankreich zu uns kommt. Wir haben Didier Eribon gesehen, Geoffroy de Lagasnerie und Tristan Garcia, alle sollen sie immer gleich neue Sartres sein.
Das ist sehr lustig. Verrückt.
A propos 19. Jahrhundert. Es gibt so viele verschiedene Realitäten in Paris. In St. Germain spielen sie 19. Jahrhundert, in Montmartre ist die Welt hübsch und an der Porte de la Chapelle denkt man, alles implodiert, oder?
Ja, in der Verlags- und intellektuellen Welt von St. Germain leben sie in einer Blase, aber leider gibt es in dieser Blase wahnsinnig viele Rechte. Es gibt nur noch ein Tabu für sie, das ist der Antisemitismus, aber dieses Tabu wird auch bald fallen. Das kann man im Internet gut beobachten. Das einzig Gute ist, dass diese Leute nicht besonders talentiert sind. Lächerlich, wenn man sie mit der Generation von Deleuze, Guattari und Foucault vergleicht. Auch für schlimme Dinge braucht man ein bisschen Talent. Und außerdem mögen sie Arbeit nicht.
Wie?
Sie mögen Dinners, sie wollen quatschen und so, aber sie wollen nicht arbeiten. Das ist gut für uns.
Ihr Buch fühlt sich irgendwie auch nach einer kommenden Implosion an. Auch wenn es im ersten Band, anders als in den Folgebänden, kaum direkte Gewalt gibt.
Darüber können wir nicht reden. Der zweite und der dritte Band sind noch nicht übersetzt.
Stimmt.
Aber es gibt in allen Bänden eine stumme Gewalt. Jedenfalls ist der erste Band am Tag der Attentate auf Charlie Hebdo erschienen, am 7. Januar.
Wie Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“?
Ja. Das verstärkte das Gefühl, dass alles implodiert. Andererseits sind wir doch die vermutlich sicherste Generation überhaupt, mehr als unsere Eltern. Das Schlimmste, was wir erfahren haben, ist Terrorismus. Als Frau oder als homosexueller Mensch sind wir Zeugen einer Revolution geworden. Wir erwarten das Schlimmste, aber andererseits gibt es Fortschritt. Und ich bin nicht sicher, ob die jungen Menschen bereit sind, in einen Krieg zu gehen. Sie werden stattdessen vielleicht etwas völlig anderes erfinden. Wir sollten nicht vergessen, dass in den letzten 40 Jahren eine Revolution stattgefunden hat. Klar, diese Revolution war auch mit dem Sieg des Neoliberalismus verbunden, aber so vieles hat sich zum Positiven verändert. Es sieht zwar so aus, als würde die menschliche Rasse verschwinden, weil sie gewalttätig und räuberisch ist, aber gleichzeitig haben wir eine neue Gesellschaft erfunden, in der wir nicht so unglücklich sind. Vielleicht können wir noch gewinnen. Der konservative Backlash der letzten 20 Jahre wiederum ist beunruhigend und er passierte schnell, aber alles ist offen. Es ist ein Kampf um den Fortgang der Geschichte und ein Kampf darum, wer sie erzählt.
Das klingt viel optimistischer als im Roman, der sehr melancholisch ist.
Ich hoffe, er ist auch ein bisschen lustig. Ich bin nicht pessimistisch.
Aber Sie schreiben, dass das Leben in den 40ern einer zerbombten Stadt gleicht.
Na ja, als ich aus Barcelona, wo ich eine Weile gelebt habe, nach Paris zurückkam, war ich schon auch deprimiert. Nicolas Sarkozy hatte die extreme Rechte an die Regierung gebracht. Und er hatte einen ganzen rechten Thinktank, das hat mich traurig gemacht und hat mich erschreckt. Und auch eine Menge Bobos (bourgeois-bohémiens) haben sich ganz plötzlich in rechte Arschlöcher verwandelt.
Mit Macron hat man zumindest erstmals einen anderen Typ Mann an der Spitze, einen, der ohne Mätresse regiert, scheint mir.
Das ist eine neue Männlichkeit. Und das ist gut. Er repräsentiert schon auch dieses Chefding, es ist eine Inszenierung, die zeigen soll, dass er alles im Griff hat. Ich sehe zwar mehr Probleme als Lösungen, aber er repräsentiert eine neue Männlichkeit. Es ist eine neue Art, ein weißer Mann zu sein. Im HipHop ist mir das Maskuline egal, in der Politik stört es mich.
Alles im Griff zu haben bedeutet, nicht zu zweifeln. Vernon Subutex mag es, wenn andere frei von Zweifel und Skepsis sind.
Wenn ich Dokumentationen aus den 1960ern oder 1970ern sehe, denke ich oft, dass die Menschen früher scheuer und nicht so sehr von sich selbst eingenommen waren. Heute mag man durchsetzungsschwache Menschen nicht. Man kriegt keinen Respekt, wenn man scheu ist, auch wenn darin eine Beobachtungsgabe und eine Form von Intelligenz liegen mag, wird dennoch nur Schwäche assoziiert. Schwäche ist das Schlimmste. Obwohl Schwäche Offenheit bedeuten kann. Wir sind alle Diven.
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