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Autonomiephase bei KindernAls Tiere wären wir ausgestorben

Kinder wollen manchmal weder Schuhe noch Jacke anziehen, obwohl es draußen kalt ist. Vielleicht müssen ihre Strumpfhosenfüße mal auf den kalten Asphalt.

Haben einen Selbsterhaltungstrieb: Entenküken würde nie demonstrativ von ihren Eltern wegschwimmen Foto: Patrick Pleul/dpa/picture alliance

Wenn sie sich anziehen würden, alles wäre so viel einfacher“, seufze ich der Erzieherin zu. Sie nickt und lacht. Seit einer halben Stunde versuche ich, die Kinder aus der Kita abzuholen. Der bald Zweijährige weigert sich. Er trägt Body, Strumpfhose, Hose und Hausschuhe, weil es im Kindergarten 823 Grad Celsius hat. Das ist für die Kinder schön mummelig den ganzen Tag. Für Eltern, die aus dem grauen Januar das Haus betreten, ist das wie zweimal täglich Bikram-Yoga in Winterjacke, während man mit kleinen Kindern diskutiert.

Der Fünfjährige zieht sich langsam, ohne die Hände zu benutzen, seine Stiefel an. Der bald Zweijährige lässt sich zumindest die Hausschuhe ausziehen. „Na Bravo“, denke ich, „jetzt hat er noch weniger an.“ Und als hätte er’s gehört, springt er auf, legt sich am anderen Ende der Garderobe bäuchlings auf den Boden und kaut an seinem Brötchen.

Wenn nur diese eine Sache klappen würde. Obwohl – genau genommen sind es zwei Dinge: das Anziehen und das Ausziehen. Denn die Sachen, die die Kinder erst ums Verrecken nicht anziehen wollen, wollen sie schon wenig später ums Verrecken nicht ausziehen.

Manchmal frage ich mich, wie die Menschheit überleben konnte, mit einer Autonomiephase, die bei Kindern so ab 20 Monaten einsetzt und vier Jahre dauern kann. Wenn Tierkinder die hätten, sie wären alle ausgestorben. Noch nie habe ich kleine Enten gesehen, die demonstrativ von ihrer Mutter wegschwimmen. Kleine Bergziegen, die lachend von der Klippe springen. Babygazellen, die sich trotzig auf den Boden legen, wenn alle anderen vor den Hyänen wegrennen. Was hat die Natur da verbockt? Wieso zieht sich dieses Menschenkind nichts an, wenn es draußen 2 Grad hat?

Kinder anziehen leichtgemacht

Die einfachste Erklärung ist, es zieht sich nicht an, weil es nicht weiß, was „Draußen ist es kalt“ bedeutet. Kinder körperlich zu etwas zu zwingen, sollte man dringend vermeiden, finde ich, sofern keine Gefahr besteht. Das gilt auch fürs Anziehen oder fürs Zähneputzen.

Auch wenn es alle Nerven kostet. Also gehen wir raus. Er sieht seine kleinen Strumpfhosenfüße an, die auf dem Asphalt stehen. „Hu“, ruft er, „kalt!“ Er sieht mich schockiert an. Dann lässt er sich Schuhe anziehen. Mehr nicht. Alle Leute auf dem Weg zur Straßenbahn sehen erst ihn an, dann mich. Ihre Blicke sagen viel, aber keiner sagt was. Ich bin genervt. Der Erste, der was sagt, darf selber versuchen, ihm die Jacke anzuziehen, denke ich.

Bei der Haltestelle schaffe ich, ihm den Pullover überzustülpen. Dann Mütze und Schal. Und die Jacke? „Nein!“, ruft er. In seinen Augen glitzert es. Er sagt, wo Schluss ist. Was mit seinem Körper passiert. Und genau das ist doch, was ich für ihn möchte? Also gut.

Auf dem Spielplatz frage ich regelmäßig, ob er die Jacke will. „Nein.“ Er rennt mit seinem Ball hin und her. Ich stehe rum und friere. Mir könnte jetzt auch keiner kommen und sagen, ich soll mal meine Jacke ausziehen.

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Saskia Hödl
Autorin
Jahrgang 1985, ist freie Autorin in Wien und schreibt über Politik, Medien und Gesellschaft. Ehemalige taz panter Volontärin, taz eins Redakteurin und taz2&Medien Ressortleiterin.
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7 Kommentare

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  • Ich weiß ja, was gemeint ist - wohl so etwas wie der sogenannte Naturzustand bzw. der Vergleich von Menschenkindern zum Nachwuchs bzw. zum Verhalten anderer Tiere. Womit klar ist, dass der Titel, wie hier formuliert, irreführend ist. Menschen (hier gemeint Homo Sapiens) sind Tiere. Sie stammen vom Affen (Anthropoidea) ab und gehören zur Familie der Menschenaffen (Hominidae), zur Art der Menschen (Homo). +++Homo Besserwesseris/Klugsch§%$eris Ende+++ ;-P



    Wie auch immer - ich wünsche den Kindern ne steiler werdende Lernkurve und den Elternteilen starke Nerven. :-)

  • Recht gut reagiert, die halbe Stunde vorher hätte ich aber nicht durchgehalten... Und auf die Schuhe hätte ich bestanden, zumindest bis das Kind die Strumpfhose selbst stopfen kann.

  • "Als Tiere wären wir ausgestorben." Genau. Deshalb haben wir das Fell abgelegt.

    Oh weh. Eigentlich kann ich sowieso nicht mitreden, weil ich keine eigenen Kinder habe (allerdings tolle Nichten, die sind jetzt "groß"). Und Anthropologie und so, hab ich auch nicht studiert...Was ich aufgeschnappt habe:

    Auf dem Weg durch die Evolution wurde der Mensch zum Jäger u. Sammler. Ein Jagtstrategie neben anderen war die Hetzjagt von Großwild. Viele Tiere sind viel schneller als wir. Auf kürzeren Strecken. Der Mensch entwickelte die Hetzjagd überlange Distanz u. Zeit. Auch vermittells eines hochqualifizierten Spuren lesens. Damit er das aber konnte, musste homo-sapiens zum (fast) nackten Affen werden und das Schwitzen lernen. Um beim frühsteinzeitlichen Marathon nicht zu überhitzen und somit zwar nicht so schnell aber ausdauernder als seine Jagdbeute zu werden. Hetzjäger wie der Wolf und seine Beutetiere können nicht schwitzen, die regeln die Körpertemperatur über die heraushängende Zunge u. Hecheln. Ihnen gegenüber hatte der Mensch jetzt einen Vorteil.

    Und nun? Tja Alter, da weißt du auch nicht weiter. Wie sagt man vierjährigen Knirpsen, dass sie mindestens in Herbst u. Winter besser nicht in Strumpfhosen "artgerecht auf" auf die Hetzjagt gehen sollen? Denn auf den evolutionsmäßigen Fellverlust folgte kulturmäßig die Erfindung der Kleidung.



    Lese ich ihnen eine Geschichte dazu vor, wie die Inuit auf Robbenjagt gehen? Und ihre Hunde dabei ein wärmendes Fellkleid tragen? Und wie praktisch es ist für uns Menschen, unser "Fell" bei gefühlt. 823 Grad Celisus Iglu-Innentemperatur abzulegen. Und wenn es dann nach draußen geht...

    Eltern haben es schwer. Soviel steht fest.

  • Ach was! ©️ Vagel Bülow -

    Mit Verlaub - Wie sanns dann Sie drauf? - Gnädigste!“

    “Als Tiere wären wir ausgestorben



    Kinder wollen manchmal weder Schuhe noch Jacke anziehen, obwohl es draußen kalt ist. Vielleicht müssen ihre Strumpfhosenfüße mal auf den kalten Asphalt.“

    kurz - “Kiek dir dit an! Die Olle uffjetakelt wie ne Frejatte!



    Und dett Bams barfuß!“



    Verrats ehna: auch winters! & dett Bams wird demnächst 84 - downunder!



    Von sommers wie winters kurze (gern Leder)Hose!



    Ein andermal & die Aufzählung - Zähne nicht putzen “ham die Steinzeitmenschen auch nicht!“ etc - ließe sich beliebig fortsetzen!



    Ja. Mit unserer alten Dame*04 konnteste so schräges Zeugs prima machen!



    Während ich da wesentlich weniger phantasiebegabt war!



    & auch gern anders aber doch -



    Eine Freundin „hatte ich ihr mühselig beigebracht - die Schuhe zuzubinden!



    Stolz wie Oskar! Zwei Tage & DÄH! NEEE! DUUU! Naja zweimal isse in Socken zum Kindergarten! Dann war das durch!“

    So geht‘s - doch auch! Woll.

    UND SELBST??? entre nous only -



    Tja - mit zwei Runden Kids & “the man with the dog and the two children!



    Weiß auch nicht - vllt geduldig nachsichtig wie ein Maulesel in combi mit “natürlicher Autorität“ - was immer das sein mag &!! Schonn: “Wenn dein Eisenbiegergriff kam! Wußte man - laß die Flünken hängen - jetzt hastes verkackt!“

    Ende der Werbeeinblendungen



    un nischt for unjut - wa!

  • Hm, ich habe die Kinder auf meinen Schoß gesetzt und erklärt was ich mache, oder mit Ihnen ein Gespräch geführt, über andere Dinge. Was heute war usw. Meistens hatten sie was zu erzählen und haben mitgemacht, meinem Gefühl nach ist es die Routine, kein Zwang, einfach handeln, das ist jetzt so und vermitteln das ist nicht schlimm, was geholfen hat . Und jedesmal der gleiche Ablauf. Bei Dingen die ich nicht routiniert eingeführt habe und mal so mal so, oder gefragt habe klappte es oft nicht so gut.



    Ich denke es ist ein Drahtseilakt, keinen direkten Zwang auszuüben und gleichzeitig Grenzen zu setzen und zu vermitteln was jetzt sein muß, das klappt nicht immer und war oft auch anstrengend, sehr sogar.



    Ich habe mich aber immer innerlich gesträubt unsere Kinder zu fragen, was sie wollen, wenn ich die Entscheidung schon im Vornherein nicht mittragen wollte. Das ersparte mir Frust und die Kinder hätten auch gemerkt, dass etwas nicht im Lot ist. Konkrete Fragen, willst Du trinken, wollen wir auf den Spielplatz etc. sind kindgerecht, weil Kinder die Entscheidung überblicken können.



    Aber manchmal bin ich an meine Grenzen gestoßen, wenn beim Abholen Eltern mit ihren Kindern diskutiert haben, ob sie die verkehrt herum angezogenen Schuhe nicht doch lieber richtig rum anziehen wollen. Wollten die nämlich meistens nicht, die Eltern wollten aber auch nicht akzeptieren, dass das Kind nicht will, was die Eltern wollen, aber in eine Frage verpackt haben...



    Und manchmal nicht ohne Neid habe ich andere Eltern erlebt, die ihre Kinder fragen konnten und eine Entscheidung als Antwort bekommen haben und alles geklärt war, das hat mir sehr imponiert und ich dachte, das will ich auch hinbekommen... Es ist ein Drahtseilakt und ein richtig oder falsch gibt es meist nicht. Aber ehrlich muß es sein. Wenn ich ein Kind frage muß ich auch bereit sein die Entscheidung zu akzeptieren oder eben nicht fragen... und: Skit på de andra, skit på dem som tittar :)

    • @nutzer:

      Würde ich unterschreiben.

      Wer eine Frage stellt oder eine Bitte ausspricht, muss mit einem Nein rechnen und es akzeptieren.

      Will ich es nicht, muss ich eine Anweisung formulieren.

      Alles andere ist unehrlich. Mit Unehrlichkeit können Kinder schlecht umgehen.

      Ich fand, das Geheimnis liegt darin, möglichst wenig anzuweisen.

      Und Routine hilft enorm.

  • "weil es im Kindergarten 823 Grad Celsius hat" - also noch deutlich unter der durchschnittlichen Ausziehgrenze :D