Ausstellung über Marcel Reich-Ranicki: Beheimatet in der Literatur
Pointiert und diszipliniert: Die Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt widmet dem Literaturkritiker Reich-Ranicki eine Ausstellung.
Eigentlich für den 100. Geburtstag von Marcel Reich-Ranicki geplant, eröffnete sie nun pünktlich zu seinem 102. Geburtstag am 2. Juni: eine Ausstellung zu Leben und Werk des Literaturkritikers in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Exilarchiv. Die Ausstellung, pandemiebedingt verschoben, ist nicht chronologisch aufgebaut, sondern folgt den Rollen, die Reich-Ranicki im Laufe seines Lebens in unterschiedlichen Funktionen gespielt hat.
Er war nicht nur Literaturkritiker, sondern von der Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägter Zeitzeuge als Verfolgter, Agent und Konsul, Heimatsuchender und Außenseiter als agnostischer Jude, Ruhestörer, leidenschaftlicher Polemiker und Provokateur, Kritiker ebenso wie heftig Kritisierter, Literaturchef und Literaturvermittler, Freund und Widersacher, zuletzt schließlich Autobiograf und Medienstar, zu dem ihn das von ihm nicht besonders geschätzte Medium Fernsehen machte.
Das erzählen und belegen in der Ausstellung Dokumente aus öffentlichem und privatem Besitz, Fotografien und Hörstationen mit Originaltönen.
Das Literarische Quartett
Zu Reich-Ranickis Rolle als Medienstar trug vor allem das Fernsehen bei, für das er im ZDF von 1988 bis 2001 die Sendung „Das Literarische Quartett“ präsentierte. Selbst erfunden hatte er das Format freilich nicht, wie er später in seiner Autobiografie suggerierte.
„Marcel Reich-Ranicki. Ein Leben, viele Rollen“: Frankfurt, Deutsche Nationalbibliothek, bis 14.01.2023, Katalog 15 EUR
Die damaligen „Aspekte“-Redakteure Johannes Willms und Dieter Schwarzenau vermochten Dieter Stolte, den Chef des Senders, für den Reich-Ranicki eher ein Nobody war, von ihrem Vorschlag zu überzeugen und die personelle Besetzung des Quartetts durchzusetzen. In den Sendungen wurden insgesamt rund 400 Bücher diskutiert, von denen viele zu Bestsellern wurden.
Das wiederum war nicht die Absicht Reich-Ranickis, sondern eher ein Nebeneffekt, der die Sendung für die Verlage interessant machte und den Fernseh-Oberen die gewünschten Zuschauerquoten bescherte. Reich-Ranicki lag erklärtermaßen viel an der Popularisierung von Literaturkritik, wofür er dabei unvermeidliche Trivialisierungen explizit billigend in Kauf nahm.
200 Bücher von Reich-Ranicki
Als Literaturvermittler hat Reich-Ranicki gut 200 Bücher verfasst, herausgegeben oder mitherausgegeben. Er war ein sehr disziplinierter Arbeiter am Schreibtisch – eine Tugend, die ihm bleibende Verdienste um Literatur und Literaturkritik sichert.
Meinungsstärke und Meinungsurteile gehörten immer zu Reich-Ranickis Markenzeichen, die er hegte und pflegte. Die Frankfurter Schriftstellerin Eva Demski, die den Kritiker seit 1967 kennt, erzählte anlässlich der Ausstellungseröffnung von periodischen Treffen mit ihm, bei denen er bedenkenlos deklamierte: „Frauen können kein Romane schreiben.“
Mit gleicher Vehemenz betätigte sich der Literaturkritiker zumindest im familiären Umfeld als Modekritiker, wie seine Schwiegertochter Ida Thompson erzählte. Sie schickte er bei Besuchen regelmäßig zurück ins Hotel, um etwas Passenderes anzuziehen, bis das aus London angereiste Ehepaar damit drohte, die Besuche in Frankfurt einzustellen, falls sich derlei Zumutungen wiederholen sollten.
Als Literaturchef einer großen Zeitung war der Kritiker nachsichtiger und spielte sich nicht als Diktator auf, obwohl er einen starken Hang zur Perfektion hatte. Jürgen Kaube, Mitherausgeber der FAZ, berichtete von einem Frankfurter Taxifahrer, der den Kritiker oft fuhr und als,„cool“ erlebte und bezeichnete. Wie auch immer man Reich-Ranicki privat erlebte, Kaube lernte ihn als einen kennen und schätzen, „der keine Angst“ hat, was angesichts der Lebensgeschichte des Zeitzeugen Reich-Ranicki überrascht.
Kurz nach dem Abitur 1938 wurde der junge Reich-Ranicki aus Berlin nach Polen deportiert und nach dem Überfall Polens durch die deutsche Wehrmacht im Warschauer Getto interniert. Im Getto lernte er seine spätere Frau Theofila Langnas, eine polnisch-deutsche Künstlerin und Übersetzerin kennen, mit der ihm im Februar 1943 die Flucht gelang. Im Getto hatte Reich-Ranicki als Übersetzer für den von den Nazis eingesetzten Judenrat gearbeitet.
Berlin und London
Nach der gelungenen Flucht lebten die beiden fortan illegal in einer Kellerwohnung und waren auf die Unterstützung humaner polnischer Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Nach Kriegsende suchte das Ehepaar zunächst Zuflucht in Berlin, wo Reich-Ranicki für die polnische Militärmission in den Auslandsnachrichtendienst eintrat. 1948 emigrierten die Reich-Ranickis nach London.
Hier wurde er zum Vizekonsul und Hauptmann ernannt, aber nach kurzer Zeit abberufen, aus dem Geheimdienst entlassen und aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen sowie mit einem Publikationsverbot belegt. Nach der Aufhebung dieses Verbots emigrierte Reich-Ranicki 1957 in die BRD, wo er zuerst in Frankfurt und dann in Hamburg lebte, bevor die Familie 1973 definitiv nach Frankfurt zog.
Seine Tätigkeit für den polnischen Geheimdienst blieb jedoch bis 1994 unbekannt, als Tilman Jens, der Sohn seines Freundes Walter Jens, einen Bericht darüber publizierte, was die Freundschaft mit dem Vater arg lädierte. In Frankfurt wurde Reich-Ranicki Redakteur bei der FAZ.
Im Nachkriegsdeutschland blieb er fremd und ein Außenseiter, denn hier standen politische Antiquitäten wie nationale Homogenität und Leitkultur noch immer bei vielen hoch im Kurs, wenn auch nicht mehr lange in einer politisch relevanten Mehrheit. Noch 1997 bekannte er: „Ich bin kein Deutscher. Ich liebe Frankfurt nicht.“ „Ich liebe Petra Roth (die langjährige Frankfurter Oberbürgermeisterin; RW) … Dass ich heimatlos bin, stimmt nicht, meine Heimat ist die deutsche Literatur. Punkt. Schluss.“
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