Ausstellung über Expressionistin: Intuitiv das Ganze erfasst
Mehr als Kandinskys Muse: Anhand ihrer Porträts zeichnet eine Ausstellung in Hamburg die stilistische Entwicklung der Malerin Gabriele Münter nach.
Sie hat unglaublich scharf hingesehen, die Malerin Gabriele Münter, als sie von 1898 bis 1900 mit ihrer Schwester durch den Süden der USA reiste, um ausgewanderte Verwandte zu besuchen. Wobei das Besondere und Emanzipierte nicht nur die Reise selbst war; möglich aufgrund des elterlichen Erbes, so wie Münters unabhängiges Künstlerinnenleben insgesamt.
Künstlerisch wichtig war daran auch, dass sie die Fotografie entdeckte, dort schon viel weiter verbreitet als in Europa. Münter nutzte die Kamera, die ihr Verwandte geschenkt hatten, hoch professionell: Über 400 Aufnahmen hat sie gemacht, von denen einige – bis heute selten gezeigt – nun in Hamburg zu sehen sind. Was sie fotografierte? Menschen in deren Umgebung: auf einer Wiese, im Zimmer, auf der Straße. Und was zunächst nach touristischen Gruppenfotos aussieht, entpuppt sich als Spiegel zwischenmenschlicher Beziehungen und gesellschaftlicher Verhältnisse.
Das fängt damit an, das die Frauen mit streng zurückgezwungenen Haaren, hochgeschlossen Blusen und langen Röcken erscheinen, wie man sie Pfingstlern und anderen Erweckungsbewegungen zuschreibt, die unter deutschen Auswanderern des 19. Jahrhunderts verbreitet waren. Es geht damit weiter, dass die Kamera wie zufällig den gewölbten Bauch einer jungen, vermutlich schwangeren Frau fokussiert. Der Leib einer gestrengen Alten auf einem anderen Gruppenfoto ist ähnlich gewölbt – Relikt etlicher Geburten? Die jüngere Frau daneben trägt als einzige kein Korsett, sondern ein verdächtig weites Gewand. Und das kleine Mädchen an ihrer Seite schaut eingeschüchtert auf den Bauch der Alten, als ahne es, dass auch ihr mal die Rolle der Gebärerin zufallen wird.
Neugierig, nicht voyeuristisch
Auf anderen Fotos reiten Männer oder lungern entspannt auf Bänken herum. „Willie“ kippelt mit dem Stuhl – eine Szene, die Münter auch gezeichnet hat: aus der Perspektive eines Kindes, dem Willies Beine riesengroß erscheinen. Anderswo durchschneidet eine Frauengruppe im Gänsemarsch diagonal das Bild; sie laufen auf ein Ausflugsschiff zu wie auf ein unabwendbares Schicksal, keine tanzt aus der Reihe. Kommentare Münters zum eng gerahmten Leben dieser Frauen sind nicht überliefert. Vorurteilsfrei hat sie vielmehr fotografiert, was sie vorfand: weiße und schwarze Erwachsene und Kinder, neugierig, aber nie voyeuristisch.
Das gilt auch für ihre gezeichneten Porträts, die zu ihren stärksten Arbeiten zählen. Eine Wand mit 20 von ihr selbst kommentierten Porträts zählt zu den Höhepunkten der Ausstellung „Gabriele Münter. Menschenbilder“. Linien umreißen Raum, modellieren ein Gesicht aus dem Weiß – und lassen es, wenn genug angedeutet ist, wieder zurücksinken: Da genügt es, wenn vom „Lesenden Dichter“ nur der halbe Kopf und die Hände erscheinen, sofort erfasst man das selbstzufriedene Lächeln und das selbstverliebte Gestikulieren eines Narziss, der immer neu entzückt ist von sich selbst.
Gabriele Münter. Menschenbilder: bis 21. 5. 23, Hamburg, Bucerius Kunst Forum
Scharf beobachtet auch die einen Brief lesende rauchende Frau – ein schon im 17. Jahrhundert gemaltes Sujet, damals ohne Zigarette. Genau die aber macht Münters Modell zu einer emanzipierten Frau der 1920er-Jahre – eigentlich. Denn man spürt auch die angestrengt hinarrangierte Haltung, mit der die Porträtierte dem Klischee zu entsprechen sucht. „Ich habe die Aufgabe niemals darin gesehen, ‚den Menschen unserer Zeit‘ zu malen“schrieb Münter. „Nirgends habe ich jemanden gefunden, der mir als Typus des Heutigen gegolten hätte.“ Und sie sei nicht gewillt, „einem Vorurteil zuliebe alle gleich zu frisieren“.
Die Zeichnung blieb Münters Elixier, auch später, als sie neue Maltechniken lernte – in einer Privatakademie, weil Frauen hierzulande erst ab 1919 staatliche Kunstakademien besuchen durften. Ob Landschaften oder Porträts, zunächst spätimpressionistisch, später expressionistisch, nur selten neosachlich: Fast immer hat sie zuerst gezeichnet und die Bilder danach um Farbe bereichert.
Nicht nur Gesichter erfasste sie intuitiv als Ganzes, auch Szenen wie den „Mann im Sessel (Paul Klee)“ malte sie als Komposition aus Formen, gleichberechtigt nebeneinander stehend. So ist der Kopf des Mannes kaum von den Bildern an der Wand des gemalten Raums zu unterscheiden; das gemalte eckige Konterfei wird selbst zum Gemälde.
Völlig zu Recht gilt Münter neben Paula Modersohn-Becker als bedeutendste deutsche Expressionistin. Sie war kein so passives Anhängsel wie oft kolportiert: Während der Zeit im oberbayerischen Murnau mit Wassiliy Kandinsky – dessen Geliebte sie von 1903 bis 1916 war –, Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin war sie Mitbegründerin der Neuen Münchner Künstlervereinigung und des Blauen Reiters. Früher als andere entdeckte sie die bayerische Hinterglasmalerei und integrierte deren schwarze Konturen in ihre Bilder. Wie anderswo etwa die „afrikanische“ Kunst, symbolisierte auch die bayerische Volkskunst die „Ursprünglichkeit“, nach der viele Expressionisten suchten.
Ambivalent im NS-Staat agiert
Recht flüchtig gehen Ausstellung und Katalog indes über Münters ambivalentes Agieren im NS-Staat hinweg. Dabei trat sie 1934 der Reichskammer der bildenden Künste bei und eröffnete 1935 eine Wanderausstellung. Auch steuerte sie, dem Vernehmen nach „auf Anraten“ ihres neuen Lebenspartners Johannes Eichner, mehrere Gemälde zur Ausstellung „Die Straßen Adolf Hitlers in der Kunst“ bei.
In diesen Kontext passt das in Hamburg präsentierte, sehr gegenständliche Porträt der „urdeutsch“ wirkenden Käte Wölfel mit brav geflochtenen Zöpfen von 1940. Nach dem Besuch der Ausstellung „Entartete Kunst“ dann stellte Münter bis 1949 nicht mehr aus – und versteckte stattdessen Arbeiten des „Blauen Reiters“.
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