Ausstellung in Lüttich: Kunst im Kontext
Das Museum La Boverie im belgischen Lüttich zeigt mit „21 rue la Boétie“ Kunst-, Sozial- und Politikgeschichte. Warum das spannend und wichtig ist.
Im dieses Jahr wiedereröffneten Museum La Boverie in Lüttich sind bis Ende Januar unter dem Titel „21 rue la Boétie“ noch rund sechzig hochkarätige Gemälde der Moderne zu sehen, darunter bedeutende Arbeiten von Picasso, Georges Braque, Fernand Léger, Henri Matisse und Marie Laurencin, um nur einige zu nennen. Doch „21 rue la Boétie“ ist nicht einfach nur eine sehenswerte Kunstausstellung. Der Ehrgeiz der Ausstellungsmacher (es handelt sich um die private Agentur Tempora, die auf die Entwicklung und Organisation von Kunst- und Kulturausstellungen spezialisiert ist) ging darüber hinaus.
Grund dafür ist der Gegenstand der Schau. Die im Titel genannte Adresse gehörte einmal einem der wichtigsten Vermittler der künstlerischen Moderne, dem Pariser Kunsthändler Paul Rosenberg, der dort seine Galerie betrieb. Unweigerlich kommt somit die politische Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ins Spiel; besonders der Aufstieg des Nationalsozialismus, mit dessen Kultur- und Kriegspolitik Paul Rosenberg gleich zweimal existenziell in Schwierigkeiten kam; einmal als prominenter Vertreter der verfemten künstlerischen Moderne und dann als Jude.
Die Ausstellung beleuchtet also nicht nur Paul Rosenbergs Vermittlungsleistungen als Kunsthändler der Avantgarde, sein Schicksal und das seiner Bilder, angefangen im Jahr 1910, als er an der genannten Pariser Adresse seine erste Galerie eröffnete, bis zu seinem Todesjahr 1959 – sie berührt ebenso sehr die Sozial-, Politik- und Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Es geht um die Kunst- und Kulturpolitik der Besatzungsmacht, besonders um das Kapitel „entartete Kunst“, wobei in diesem Zusammenhang selbstreflexiv ein Stück Geschichte des ausstellenden Museums in Lüttich aufgearbeitet wird.
Denn gemeinsam mit einer Gruppe von Geldgebern ersteigerte die Stadt Lüttich am 30. Juni 1939 beim Auktionshaus Theodor Fischer in Luzern neun Gemälde für ihr Museum für Schöne Künste. Theodor Fischer, dessen Haus in dieser Zeit ein wichtiger Umschlagplatz für gestohlene Kulturgüter war, arbeitete mit den Kunsthändlern der Nazis, unter anderen Hildebrand Gurlitt, zusammen und hatte an diesem Tag rund 125 Gemälde und Plastiken, die als „entartet“ aus deutschen Museen entfernt worden waren, zur Auktion gebracht.
Das Netzwerk der Sammler
Doch zunächst ist die Stimmung in der Ausstellung, der das Buch der bekannten französischen Journalistin und heutigen Herausgeberin der französischen Huffington Post, Anne Sinclair, über ihren Großvater Paul Rosenberg, zugrunde liegt, hell und heiter, denn die Avantgarde tanzt. 1920 entwirft Pablo Picasso den Vorhang und die Kostüme für das Ballett „Le Tricorne“ der Diaghilev-Truppe, das Léonide Massine zur Musik von Manuel de Falla choreografiert hat.
Paul Rosenberg druckt ein limitiertes Portfolio mit den Picasso-Zeichnungen der Kostüme, die nun zusammen mit einer Bolerojacke und Gemälden von Picasso und Braque die Ausstellung eröffnen. Danach trifft man auf Bilder von Alfred Sisley, Camille Pissarro, Degas und Cézanne, deren Handel es Paul Rosenberg erlaubten, seine wesentlich kostengünstiger gehandelten jungen Künstler gut zu betreuen und zu präsentieren.
Großfotos zeigen die Anlage seiner Galerie, und ein wunderbares Stereoskop ermöglicht es, quasi räumlich durch deren riesige Säle mit monografischen Ausstellungen von Léger oder Braque zu schlendern. Rosenberg druckte nicht nur aufwändige Kataloge für seine Künstler, sondern arbeitete auch mit Zeitungsanzeigen, dazu kamen Salons und Wohltätigkeitsveranstaltungen, um das Netzwerk der Sammler und Museumsleute zu pflegen. Rosenberg war bekannt dafür, dass er eher teuer verkaufte. „Es schadet niemandem und es ist gut für alle Künstler“, lautete seine Begründung.
Hitler kauft gern
Günstig waren die Bilder, die die Stadt Lüttich 1939 bei Fischer erwarb: Der Raum, der den Angriff der Nazis auf die zeitgenössische Kunst behandelt, unterbricht die Erzählung zu Paul Rosenberg, indem er sie kontextualisiert. In den neuen Räumen, mit denen der Architekt Rudy Ricciotti das 1905 zur Weltausstellung erbaute Haus des Lütticher Kunstmuseums erweitert hat, stellen Tempora das ursprünglich aus der Kunsthalle Mannheim stammende Bild „La maison bleue“ (1920) von Marc Chagall kommentarlos dem „Alten Stadtturm aus Gmund in Kärnten“ (1938) von Robert Streit gegenüber, einem der Bilder, die Adolf Hitler regelmäßig in der Großen Deutschen Kunstausstellung erwarb.
Genauso verfahren sie mit Marie Laurencins „Portrait de jeune femme“ (1924) aus dem Städtischen Museum Ulm, und Alfred Höhns „Junge Frau“ (1939), einem Hitler-Ankauf, oder Max Liebermanns „Reiter am Strand“ (1904) aus der Bayerischen Staatsgemäldesammlung München, mit dem Paul Junghanns’ „Sommerabend“ (1939) konkurriert. Der Anblick dieser Paarungen ist niederschmetternd. Hier intelligente, lebendige Malerei, dort steife, bemühte Illustration.
Nach dem Einmarsch der Deutschen floh Paul Rosenberg mit seiner Familie 1940 aus Paris in die Nähe von Bordeaux. Ein Gutteil seiner Bilder war schon im Ausland, besonders die Picassos, aufgrund dessen großer Retrospektive im New Yorker Museum of Modern Art 1939. Aber über 300 Kunstwerke blieben in Paris und der Gegend von Bordeaux, 162 von ihnen brachten die Nazis schließlich in ihren Besitz. Die Besatzung war ein einziger riesiger Raubzug auf jüdisches Vermögen und Kunstbesitz.
In den besetzten Ländern sollen am Ende 22.000 Kunstwerke aus über 200 Sammlungen in die Hände der Nazis gefallen sein. 21, rue la Boétie beherbergte ab 1941 ausgerechnet das „Institut zur Erforschung der Judenfrage“, das die antisemitische Propaganda in Frankreich organisierte. Schon im September 1940 traf Paul Rosenberg mit seiner Familie in New York ein. Die Stadt war ihm vertraut, mehrere seiner Sammler lebten hier, und über die Jahre hatte er sich mit dem Direktor des MoMA, Alfred Barr, befreundet. Sofort eröffnete er eine Galerie in der 16 East 57th Street.
Das Gericht entscheidet
Fünf Leihgaben, ein Corot, ein Braque, zwei Degas und ein Pissarro aus der Stiftung Sammlung E. G. Bührle leiten dann das Drama der Nachkriegsgeschichte ein. Schon im Exil hatte Paul Rosenberg gemutmaßt, der Großteil seiner ihm entwendeten Kunstwerke gehe in die Schweiz. Einer, dessen Geschäfte in der Zeit des Zweiten Weltkriegs prächtig gediehen und bei dem sich sechs dieser Gemälde fanden, war der Waffenfabrikant Emil Georg Bührle. Paul Rosenberg suchte Bührle im September 1945 denn auch persönlich auf und forderte seine Bilder zurück.
Bührle bestand auf einer gerichtlichen Klärung. 1948 befand das Schweizer Bundesgericht, dass alle in der Schweiz befindlichen Kunstwerke Rosenbergs an ihn zurückzugeben seien. Bührle lies diesen daraufhin durch seinen Rechtsanwalt wissen, dass er „La Liseuse“ von Camille Corot nicht verlieren und deshalb noch einmal von ihm kaufen möchte. Rosenberg stimmte der Transaktion zu. Letztlich kaufte Bührle fünf Bilder noch einmal zurück. Heute vielleicht irritierend, sah Paul Rosenberg im unrühmlichen Beginn ihres Kennenlernens kein Hindernis, in Folge Bührles wichtigster Partner beim Aufbau seiner ehrgeizigen Kunstsammlung zu werden.
„21 rue la Boétie“, bis 29. Januar, La Boverie, Lüttich, Katalog (Éditions Grasset & Fasquelle) 30 Euro; Anne Sinclair: „Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine? Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg“. btb Verlag, München 2016, Taschenbuch, 10,99 Euro.
Natürlich sucht man im Ausstellungskapitel Restitution die „Sitzende Frau“ von Henri Matisse, 2013 mit dem Fund der berühmt-berüchtigten Sammlung Gurlitt in die Schlagzeilen gekommen. Und wirklich hängt sie da – nur handelt es sich um ein anderes Gemälde im Besitz Paul Rosenbergs, das Henri Matisse von seiner Muse Lydia Delectorskaya malte.
Exemplarisch wird der Weg von „Robe bleue dans un fauteuil ocre“ (1937) in Lüttich untersucht, das geraubt zunächst in Hermann Görings Privatsammlung wanderte, nach dem Krieg vom norwegischen Schiffsmagnaten Niels Onstad beim Pariser Kunsthändler Henri Bénézit erworben und im Henie Onstad Kunstsenter in Oslo jahrelang ausgestellt wurde, bevor das Bild 2012 zu einer Ausstellung nach Paris reiste, wo es die Erben Paul Rosenbergs entdeckten. 2014 wurde es an die Familie restituiert. Auch die „Sitzende Frau“ wurde restituiert, konnte aber aufgrund des ungeklärten Erbfalls Gurlitt nicht in Lüttich gezeigt werden.
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