Ausstellung Schweine und Tierwohl: Sichtbare Nahrungsmittel
Tiere denken und fühlen. Doch wie steht es um ihr Wohl in der Gegenwartskunst? Dem widmet sich die Ausstellung „Ocular Witness: Schweinebewusstsein“.
Es hat sich herumgesprochen: Wer schon immer mal mit Schweinen um die Wette schwimmen wollte, ist auf den Bahamas genau richtig. Längst ist der Pig Beach von Big Major Cay ein Hotspot des globalen Massentourismus; angeblich wird er jedes Jahr von mehreren Millionen Touristen besucht.
Was wohl die Schweine über diesen Rummel denken? Dass diese Frage so absurd gar nicht ist, dafür setzt sich eine Ausstellung ein, die nun im Sprengel Museum in Hannover zu sehen ist. In ihrem Mittelpunkt steht ein Begriff, der sich bislang in keinem Wörterbuch nachschlagen lässt: Schweinebewusstsein.
Man muss sich nicht unbedingt in Critical Animal Studies eingelesen haben, um zu wissen: Auch Tiere denken, fühlen und haben ein Gedächtnis. Wer wirklich noch überzeugt werden muss, kann sich ja auf Tiktok oder Instagram orientieren. Dort sind Fischotter, Katzen oder eben Schweine schon lange die gar nicht so heimlichen Stars. Was in den Social-Media-Kanälen wahlweise rührend, komisch oder absurd ist, wird am Sprengel Museum aber deutlich ernster genommen: Tierwohl als eine Aufgabe der Gegenwartskunst.
Verhältnis Mensch und Schwein
Sprengel Museum Hannover. Bis zum 5. November 2023. Katalog 22 Euro; bis September 2024 werden Satelliten der Ausstellung in Kemlitz, Gladau, Schortewitz, Ahrenshoop und auf der Burg Klempenow gezeigt. www.schweinebewusstsein.de
Inka Schube, Kuratorin für Fotografie, hat 16 Künstlerinnen und Künstler eingeladen, über das Verhältnis der Menschen zum Schwein nachzudenken und kritische Fragen zu stellen. Heraus kam eine ungewöhnliche und überraschende Kunstausstellung, die aber gerade in Hannover eine wirklich gute Idee ist. Immerhin leben in Niedersachsen nicht nur 8 Millionen Menschen, sondern auch gerade so viele Schweine. Neben dem Autobau in Wolfsburg sind die Mast- und Schlachtbetriebe der wichtigste Industriesektor des Bundeslands.
Doch während man die Dimensionen des Volkswagenwerks wenigstens im Vorüberfahren erahnen kann, wird Massentierhaltung eigentlich erst dann sichtbar, wenn sie portioniert auf den Tellern liegt. In einer Art Küchentisch-Serie ist Maria Sewcz solchen Würsten wortwörtlich auf die Pelle gerückt. Unter der Hand erinnert sie daran, dass jede eingenommene Mahlzeit auch eine Art Selbstporträt ist.
Beim Warten an der Supermarktkasse ist es ja ein alltägliches Spiel: Die auf dem Kassenband ausgebreiteten Einkäufe der anderen sehen aus wie eine One-Minute-Sculpture, die nur darauf wartet, als Selbstbildnis interpretiert zu werden.
Ende der Verwertungskette
Für die Lebensmittelindustrie bedeutet solcher Zeitvertreib das Ende der Verwertungskette. Wie wenig dabei die Nahrungsmittel selbst sichtbar werden, treibt Andrzej Steinbach in den Stillleben seiner Serie „Mögliche Ordnungen“ hervor: Die hier versammelten Produkte sind immer schon von den Zeichen der Marketingabteilungen verhüllt.
Erst recht bleibt aber der Beginn dieser Verwertungskette im Unsichtbaren. Anhand einer ausgedehnten Recherche hat Arne Schmitt versucht, sämtliche Industriehallen eines norddeutschen Lebensmittelkonzerns zu fotografieren. Doch wie könnten die Aufnahmen solcher unspezifischen Architekturen zum Sprechen gebracht werden, wenn es um die viel abstrakteren Zusammenhänge kapitalistischer Ausbeutung geht?
Brecht hatte recht
Mit Blick auf Krupp und die AEG wollte das bereits Bertolt Brecht wissen. „Schweinebewusstsein“ führt vor Augen, dass seine Frage aktuell geblieben ist. Sehenswert ist die Ausstellung gerade deshalb, da sie mit großer Sachlichkeit unser merkwürdig widersprüchliches Verhältnis zum Schwein umkreist. Wir sollten uns dabei nicht unbeobachtet fühlen. In sensiblen Schwarz-Weiß-Fotografien deutet es Jochen Lempert unter der Hand an: In seinen Bildern schauen die Tiere auf uns zurück; und sie tun dies mit Blicken, denen man sich unmöglich entziehen kann.
Wenigstens am Eröffnungsabend bekamen solche Beobachtungsordnungen in Hannover eine weitere Wendung. Vor dem Museum demonstrierte eine Gruppe von Tierschutz-Aktivist:innen, um die Thesen der Ausstellung zurück auf die Straße zu tragen. Ihr Ruf wird nicht ungehört bleiben: Im Lauf des nächsten Jahres wird „Schweinebewusstsein“ als eine vagabundierende Ausstellung an insgesamt fünf Orten im ländlichen Raum zu sehen sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen