Ausstellung Lyonel Feininger in Berlin: Mit Volldampf gezeichnet
Berlin ist ein Witzblatt, Berlin ist ein stiller Hinterhof. Lyonel Feininger hatte ein Auge für beides. Eine Ausstellung im Prenzlauer Berg.
Schwer was los auf dieser Kreuzung: Straßenkehrer nehmen die Beine in die Hand, drei Herren klettern einen Laternenmast hoch, andere liegen schon plattgewalzt auf dem Pflaster. Der Grund für all die Panik? Ein Paar, das sich küsst in einem Automobil und das Lenken dabei vergisst.
Das Wimmelbild „Die Hochzeitsreise im Automobil“ stammt von Lyonel Feininger und erschien 1899 in den Lustigen Blättern. Der Verkehr und die Beschleunigung haben es Feininger angetan. Im Ulk erschien 1906 „Am Potsdamer Platz“: Da werden Passanten mit Kanonen von Krupp über die Kreuzung geschossen. Das ist witzig, aber auch ein bisschen unheimlich. Lokomotiven mit scheinwerfergroßen Augen rasen durch Feiningers Comic „Wee Willie Winkie’s World“, Häuser reißen erschreckt die Fensteraugen auf, Hasen jagen davon. Das war 1906 ein Spaß für Kinder, den Feininger für die Chicago Sunday Tribune entworfen hatte.
Aber es gibt auch Züge, die sehr symbolisch gemeint sind: In „Politische Hochbahn“, 1903 in den Lustigen Blättern, rasen auf der Kreuzung zweier Hochbahntrassen drei Züge aufeinander und einen Mann in der Mitte zu. Dies soll Reichskanzler Bernhard von Bülow sein, bald zermalmt zwischen Zügen der SPD, der katholischen Zentrumspartei und der Deutschkonservativen. Die ausweglose Situation des Männchens in der Mitte erkennt jeder; für die weitere Deutung braucht man schon die Erklärungen, die in der Galerie Parterre ausliegen.
Karikatur braucht Klischee
„Lyonel Feininger in Berlin mit einem Exkurs zu Heinrich Zille“ heißt die Ausstellung, die viele der Auftragsarbeiten von Feininger zeigt. Die begleiten lange den Werdegang des Künstlers, bringen ihm Erfahrungen, eine schnelle Produktionsweise und finanzielle Unabhängigkeit.
Die ausgestellten Witzblätter und Karikaturen, meist aus der Sammlung des Kunsthistorikers Roland März stammend, sind reich an narrativen und ästhetischen Formen. Teils wimmeln sie von Figuren, teils sind sie elegant und dekorativ stilisiert: Wie im unten abgebildeten Blatt, das vier vor Neid auf die deutsche Marine (im Hintergrund) gelbe Briten in grünen Tweedanzügen zeigt. Ohne Klischee keine Karikatur.
Lyonel Feininger war ein Amerikaner in Berlin. Mit Unterbrechungen lebte er drei Jahrzehnte hier, zwischen 1887 und 1937. Mit Stetson, Pfeife und in Tweedanzügen pflegte der große Mann das Bild des Amerikaners. Als 16-Jähriger war er seinen Musikereltern nach Deutschland gefolgt und blieb, bis er, inzwischen Bauhauslehrer (1919–1932), von den Nazis vertrieben wurde.
Er selbst war ein begeisterter Radfahrer, ein Foto zeigt ihn mit Rad der Marke Cleveland vor einem Radladen am Kurfürstendamm. Kein Wunder, dass auch Radrennen zu seinen Motiven gehören.
Ein anderer Feininger als in den Karikaturen zeigt sich in den meist kleinen Zeichnungen und Grafiken der Ausstellung, freie Arbeiten des Künstlers, die dem Stadtbild von Berlin und Umgebung gelten: die Brandwände hoher Wohnhäuser, ein Kirchturm in Teltow.
Es sind stille Bilder, fast beschaulich, von einer ganz anderen Atmosphäre als die von Beschleunigung geprägten Karikaturen. Oft kündigt sich da der spätere Feininger an, den man mit seinen großen, expressiv-kubistischen Stadtansichten aus den Museen kennt. Ein Holzschnitt von einer „Windmühle in Werder“ von 1918 ist schon von der prismatischen Zersplitterung der Flächen, der Simultanität mehrerer Perspektiven geprägt, die den klassischen Feininger ausmachen.
Wenig Raum für freie Kunst
Seine Zeit in Berlin und seine Arbeit als Karikaturist waren auch Lehrjahre. Die Themen, manchmal selbst die Farben der Karikaturen bestimmten die Redakteure. Die Arbeit half dem Künstler zwar, seine Familie – zwei Töchter aus erster, drei Söhne aus zweiter Ehe – zu ernähren, aber ließ ihm auch nicht viel Raum für die freie Kunst.
Lyonel Feininger in Berlin, Galerie Parterre in Kooperation mit Moeller Fine Art Projects/The Lyonel Feininger Project. Galerie Parterre, Danziger Straße 101, 10405 Berlin, Mi.-So. 13–21 Uhr, Do 10–22 Uhr. Bis 12. September.
Publikation „Lyonel Feininger in Berlin“ mit Beiträgen von Kathleen Krenzlin, Roland März, Sebastian Ehlert, Achim Moeller, 136 Seiten, zahlreiche Abbildungen, erschienen als Arbeitsheft XXIX der Galerie, 25 Euro.
Podiumsgespräch „Kolonialrassismus in Feiningers Karikaturen?“ mit dem Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha, der Sinologin Mechthild Leutner, dem Kunsthistoriker Ulrich Luckhardt und der Kulturhistorikerin Adama Ulrich, 12. August, 19 Uhr. Die Veranstaltung findet möglichst im Freien statt.
Der Kunsthistoriker Roland März, der 1998 eine große Feininger-Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie eingerichtet hatte, war ein Sammler seiner Karikaturen. Er starb 2020. Zusammen mit Sebastian Ehlert, Mitarbeiter im Moeller Fine Art Project/The Lyonel Feininger Project, New York – Berlin, hat er an einer Publikation über Feiningers Jahre in Berlin gearbeitet.
In einem Vorabdruck in der Publikation zur jetzigen Ausstellung berichten sie detailliert von Feiningers Freundschaften und Kontakten, Aufträgen – 250 Etiketten für Zigarren gezeichnet, um einen Parisaufenthalt zu finanzieren – und auch von seiner Selbsteinschätzung: Später, als Bauhauslehrer, betrachtete er seine Zeit als Karikaturist als harte Schule, bei der er viel gelernt habe.
Die Karikaturen, die meisten aus der Zeit des Kaiserreichs, sind nicht immer einfach zu entschlüsseln, begleitende Erläuterungen braucht es da schon. Wo sie sich auf die internationale Politik beziehen, kommen die Kolonialmächte und deren Interessen ins Spiel. Die Karikaturen sind dort oft nicht frei von Klischees, die heute als rassistisch zu erkennen sind. Deshalb hat die Galerie Parterre Kunsthistoriker und Politikwissenschaftler zu einem Gespräch über „Kolonialrassismus in Feiningers Karikaturen?“ eingeladen, am 12. August.
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