Ausstellung „Klasse Gesellschaft“: Der lange Arm der Alten Meister
In der Ausstellung „Klasse Gesellschaft“ kombiniert die Hamburger Kunsthalle Alte Meister mit heutigen Promis. Das ist mitunter verblüffend plausibel.
Aus der Not eine Tugend machen: Ist das eigentlich typisch flämisch? In der Hamburger Kunsthalle, beinahe schon traditionell unterfinanziert durch die öffentliche, also lange Zeit Kaufleute-Hand, kennen die Verantwortlichen sich damit jedenfalls aus. Und setzen seit Jahren, wo immer es geht, auf die eigenen Bestände beim Konzipieren von Ausstellungen. Was aber heißen kann, dass sie trotzdem beträchtlichen Aufwand betreiben, um kuratorisch gebotene Leihgaben zu beschaffen in Nah oder auch mal Fern: Die dann nahezu komplett von der Pandemie und ihrer Bekämpfung torpedierte De-Chirico-Ausstellung im ersten Halbjahr 2021 war so ein Fall.
„Gemälde des holländischen und flämischen 17. Jahrhunderts bilden einen, wenn nicht den Schwerpunkt innerhalb des Sammlungsbereichs Alter Meister“, schreibt nun Kunsthallendirektor Alexander Klar im Katalog zur Ausstellung „Klasse Gesellschaft“, die noch bis Ende März am Glockengießerwall zu sehen ist. Aber um rund 180 Gemälde, Zeichnungen und Druckgraphiken des 17. Jahrhunderts zeigen zu können, waren eben trotzdem auch die Kontakte zu anderen Häusern zu bemühen.
Allein: Die Laufzeit in Hamburg überschnitt sich mit der einer anderen, thematisch verwandten Ausstellung ein ganzes Stück die Elbe rauf, in Dresden: Dort wurden seit September und bis zum Jahresanfang Johannes – Jan – Vermeers „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ gezeigt, mithin „eines der weltweit bekanntesten Werke der holländischen Malerei des Goldenen Zeitalters“; dazu neun weitere Arbeiten Vermeers sowie etwa „50 Werke der holländischen Genremalerei“.
Klasse Gesellschaft. Alltag im Blick niederländischer Meister. Mit Lars Eidinger und Stefan Marx:
verlängert bis 24. 4., Hamburg, Kunsthalle
Und diese – ein letztes Mal in eigenen Worten – „bislang größte Vermeer-Ausstellung in Deutschland“ machte es nicht einfacher, einschlägige Stücke auszuleihen. So hängt nun in Hamburg nicht ein einziger Vermeer. Aber das schmälert die von Sandra Pisot kuratierte Ausstellung nur dann, wenn eine*n nur möglichst große Namen ins Museum locken. Und in der üppigen Begleitpublikation hat er dann sehr wohl auch seinen Auftritt.
Zugegeben: Ganz auf große Namen, aber andere, verzichtet auch die Kunsthalle nun nicht. Aber es ist nun gerade keine bloß zur Tugend umgelabelte Not, wenn „Klasse Gesellschaft“ dieses Problem durch eine Öffnung umgeht: hin zur Gegenwart, hin zu anderen Techniken als der einst in Flandern und umzu so verfeinerten Ölmalerei – und hin auch zu Leuten, die streng genommen, talentierte Laien sind in dem, was sie nun da ausstellen.
Denn in Beziehung gesetzt werden die Adriaen Brouwers und Pieter de Hoochs und David Teniers (der Jüngere) mit Arbeiten zweier heute noch höchst lebendiger Kollegen im sehr weiten Sinne: Stefan Marx und Lars Eidinger.
Marx, Jahrgang 1979, ist dabei nicht der Quereinsteiger in die Bildenden Künste. Er arbeitet gerne mit Schrift und interessiert sich für die Gestaltung von Gebrauchsgütern, das waren früher etwa die Plattencover des Hamburger House-Labels Smallville oder auch Plakate und Flyer für den Golden Pudel Club. Inzwischen lebt er in Berlin und gestaltet auch mal Produkte für die Königliche Porzellan-Manufaktur.
Im Wunsch, „fast ein Abbild der Zeit zu schaffen, in der ich und wir leben“, so Marx im Gespräch mit Kuratorin Pisot, erkenne er das Verbindende mit den Alten Meistern. Bloß wohnt seinen Arbeiten mindestens ein Schritt mehr Übersetzung inne als den zwar inszenierten, aber eben immer auch dem Realismus verbundenen Alltags-Ölbildern daneben.
Aber – Eidinger? Der Schauspieler? Aus dem Tatort? Ja (und nicht nur einem), auch von der Salzburger Festspiel-Bühne, im „Jedermann“. Er fotografiere schon viel länger, als er Schauspieler sei, ließ der 46-Jährige zur Ausstellungseröffnung die ungewöhnlich zahlreich erschienene Presse wissen.
Und natürlich haben zumindest im globalen Norden und Westen heute viele Menschen derart leistungsfähige Kameras bei sich, dass wenigstens rein technisch etwas Brauchbares herauskommt, wenn sie irgendwo draufhalten. Das hat, ein wenig verkürzt gesagt, Eidinger getan, und weil er ziemlich herumkommt, hängen da nun Fotos – etwas Bewegtbild gibt es auch – aus Baden-Baden und Berlin, Berkeley und Mexiko-Stadt: Menschen in zumeist ganz alltäglichen Situationen, wartend, irgendwas auf ihrem Handy machend, schlafend oder auch bettelnd.
Die Ethik des Zustandekommens ist eine genauere Betrachtung wert: Gefragt hat er die Gezeigten nicht, auch das ließ Eidinger wissen, mit einer einzigen Ausnahme. Aber zu erkennen sind sie eben auch nicht in ihren so trivialen, mitunter ja auch sehr verletzlichen Situationen.
Eben das Alltägliche an den Motiven, sagen die Verantwortlichen, verbindet diese so heutigen Momentaufnahmen im charakteristischen Hochformat mit den Jahrhunderte alten Bildern aus den nördlichen Niederlanden – bei allen und nicht ganz wenigen Unterschieden, versteht sich: Die Gemälde waren Auftragsarbeiten, deren bloße Existenz etwas erzählt über den sozialen Wandel in der Region, über Kunden, die zu Geld gekommen waren, zu einem eigenen Stolz entwickelnden Bürgertum; im Übergang von einer Stände- zu einer Klassengesellschaft begründet sich ja auch eine Lesart des Hamburger Ausstellungstitels; die andere will hinaus aufs Zusammentreffen nicht ohne Weiteres zueinander Gehöriger, also der Alten Meister und der beiden jungen.
Aber eine Folge war eben: Gemalt wurden nun auch ganz normale Menschen, Dinge tuend, die zuvor kaum für kunstwürdig erachtet wurden. Neben solchen inhaltlichen Qualitäten zeichnet sich diese niederländische Malerei im „Goldenen Zeitalter“ – grob gesagt dem 17. Jahrhundert – auch aus durch ein Interesse am Spiel mit den Techniken, an der Verschachtelung von Bildebenen, am Einbau auch von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen.
Das wiederzufinden in den – im Kern ja doch Schnappschüssen – aus Berliner Kaufhaus-Umkleiden oder ostasiatischen Flughäfen, dazu braucht es schon etwas Fantasie seitens der Betrachtenden. „Viele meiner Motive sind unerklärlich“, so Eidinger nun im Katalog, und dass ihn „das Unsichtbare“ interessiere. Aber dann wieder ist es doch verblüffend, wie kurz nur der Weg zu sein scheint, wie leicht zu überbrücken der mehrere Jahrhunderte währende Abstand zwischen den roten Stühlen auf mehreren niederländischen Gemälden und, eben, einem Eidinger’schen Bild aus dem KaDeWe.