Ausschreitungen in Chemnitz: Kampf um die Stadt
Zwei Chemnitzer Stadträte trauern gemeinsam um den erstochenen Daniel H. Das ist aber auch das Einzige, was sie verbindet.
Sie stehen auf dem hellbraunen Holzparkett des Stadtparlaments in Chemnitz und plötzlich ist alles ganz still. Die Abgeordneten von der AfD schweigen, die von der CDU schweigen, SPD, Linke, Grüne, die Frau von der NPD, alle schweigen. Lars Fassmann schweigt, der Mann mit den blonden Locken. Und auch Martin Kohlmann, der Mann mit der Halbglatze.
Es ist Mittwochnachmittag, der Stadtrat ist zu einer Schweigeminute zusammengekommen, und auf einmal wirkt alles wie ruhig in Chemnitz, nach dem Gegröle vom Sonntag und dem Geschubse vom Montag und der Rennerei und der Hetzerei und den Hitlergrüßen und, natürlich, nach der Messerstecherei von Sonntagnacht, die all die Gewalt und die Gegenproteste ausgelöst hat. Nur vom Marktplatz draußen tönt Musik herein.
Ganz hinten rechts, in der letzten Reihe des Plenums, steht der Stadtrat und Rechtsanwalt Martin Kohlmann, 41, ein strammer Nationalist. Sechs Stühle weiter, mittig links, auch in der letzten Reihe, steht der Stadtrat und Unternehmer Lars Fassmann, ebenfalls 41. Kohlmann kämpft für Pro Chemnitz und Fassmann kämpft auch – für das weltoffene Chemnitz. Beide kämpfen derzeit, nein: eigentlich schon seit Jahren, um diese Stadt mit ihren 247.000 Einwohnern; und unterschiedlicher könnten ihre Vorstellungen von der Zukunft der Stadt wahrscheinlich nicht sein.
Stadtrat organisiert rechten Protest
Wie Kohlmanns Bild von der Stadt aussieht, davon konnten die Chemnitzer am Montagabend eine Ahnung erhalten. Es war seine „Bürgerbewegung Pro Chemnitz“, die nach den Ausschreitungen von Sonntagabend gleich die nächste Demonstration in Sachsens drittgrößter Stadt anmeldete. Etwa 6.000 Menschen folgten dem Aufruf – einschließlich hunderter Hooligans, Rechtsextremer, Nazikader aus ganz Deutschland. Sie skandierten „Ausländer raus“, zeigten unverhohlen den Hitlergruß und liefen, vermummt, in Kleingruppen durch die Stadt, so als wären sie hier die neue Bürgerwehr. In Wahrheit jagten sie Menschen.
Vor dem Stadtrat redet SPD-Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig vom Tod des Chemnitzers Daniel H., wie er am Wochenende zuvor am Rande eines Stadtfestes erstochen worden ist. Ludwig spricht im Namen der Stadt ihr Beileid aus, mahnt zu Vernunft und Besonnenheit. Als sie endet, dürfen nach und nach die anderen Fraktionen sprechen. Schließlich tritt Martin Kohlmann vom Pro Chemnitz nach vorne ans Mikrofon.
Er trägt ein blau-weißes, grob kariertes Hemd und ein dunkles Sakko. Und dann schimpft er: „Bei so einem bestialischen Mord ist der Ruf nach Konsequenzen verständlich und richtig.“ Kohlmann redet langsam, in vorwurfsvollem Ton, beide Hände auf das Rednerpult gestützt. In der ersten Reihe blicken die meisten Abgeordneten auf ihr Handy. „Zehntausend Menschen, die größte Demonstration nach der Wende – und Sie behaupten allen Ernstes, das sind alles Neonazis?“, fährt er fort. Dann richtet sich Kohlmann an die Oberbürgermeisterin: „Sie sind eine Schande für diese Stadt. Treten Sie zurück!“
Applaus nur für den Rechten
Es ist das erste Mal in dieser Ratssitzung, dass geklatscht wird. Bei der SPD-Oberbürgermeisterin zuvor hat niemand applaudiert, nicht bei der CDU, nicht bei der Linkspartei, aber dann bei Kohlmann, da klatschen zumindest eine Handvoll der gut zwei Dutzend Zuschauer plötzlich laut auf. Sie klopfen mit ihren Fäusten auf die Holzarmaturen, die vor ihnen sind. Einer von denen, die auf der Zuschauerempore oberhalb der Stadtverordnetenversammlung sitzen, wird später bei Facebook aus der Sitzung berichten; für „Pro Chemnitz“. Martin Kohlmann – Jurist, Burschenschafter, zwei Jahre Wehrdienst, gute Russischkenntnisse – hat bei ihnen wieder einen Punkt gemacht, er versucht das bereits seit 1999, seit er im Stadtrat von Chemnitz ist. Und er wird damit immer erfolgreicher.
Damals, das waren noch andere Zeiten, da saß der gebürtige Chemnitzer, damals Karl-Marx-Stadt, noch für die „Republikaner“ im Parlament. Die Partei wurde vom Verfassungsschutz beobachtet, bis sie sich alle zerstritten hatten und Kohlmann sein eigenes Projekt aufmachte: Die „Bürgerbewegung Pro Chemnitz“. Heute ist er das Gesicht dieser Truppe und Sprecher der Fraktion, die aus drei Männern besteht. Im Stadtrat führt Kohlmann, der rechte Ideologe, den Kampf fort, den er auf der Straße und im Gericht führt. Zuletzt vertrat er als Rechtsanwalt die rechte Terrorgruppe aus Freital, davor „Kameraden“ von der NPD. Nun bündelt er die Kräfte gegen Ausländer, egal woher sie kommen.
Als am Sonntag in dieser Woche die ersten Aufrufe zu einer Spontandemonstration im Netz kursieren, ist Kohlmanns „Pro Chemnitz“ dabei. Einen Tag später ist der rechte Stadtrat der Veranstalter. Alle seien auf seiner Demonstration willkommen, hatte Kohlmann öffentlich angekündigt, gesagt, auch die NPD. „Wir kanalisieren den Volkszorn hoffentlich.“ Die Teilnehmer sollten nur auf Parteifahnen verzichten.
Am Montag dann, als NPD-Kader, freie Kameradschaften, vorbestrafte Hooligans und Rechtsextreme aus ganz Deutschland seinem Aufruf gefolgt sind, spricht Kohlmann am Karl-Marx-Monument im Chemnitz zu den Menschen. Die Stimmung ist aggressiv. Viele der Anwesenden haben Deutschlandfahnen dabei. „Einen Fuchs kann man nicht in den Hühnerstall integrieren“, sagt Kohlmann etwa. Oder: Diejenigen, die sich nicht „an unsere Regeln“ halten, müssten dieses Land verlassen. Nach Osten, damit meint er das Morgenland.
Hass auf alle, die nicht deutsch aussehen
Aber auch in den Westen wolle er manche Leute zurückschicken: Politiker, Journalisten, Polizeipräsidenten, Richter „und sonst was“, die da oben eben. In seiner Erzählung vereinen sich die Kernelemente des zeitgenössischen Rechtsextremismus. Der Tritt nach unten, der Hass auf all die, die nicht deutsch sind oder so aussehen. Und ein Hass auf die vermeintlichen Eliten und die Globalisierung und wohl auch jene triste Moderne, der er, tragischerweise, selbst angehört.
Es ist Kohlmanns Bewegung, die am Dienstag, als bundesweit die Schlagzeilen über die Schande von Chemnitz und die überforderte Polizei zu lesen sind, auf Facebook postet: „Wir haben gestern in Chemnitz eine Stimmung erlebt wie seit 1989 nicht mehr. Auch damals ahnte keiner, wie schnell sich die Zeiten ändern können. Die massiven Lügen der Presse zeigen nur deren Hilflosigkeit.“ Und am Dienstagabend, als offenbar aus Polizeikreisen der Haftbefehl gegen einen der beschuldigten Täter an Rechtsextreme durchgestochen wird, veröffentlicht seine Bürgerbewegung „Pro Chemnitz“ das Dokument auf seiner Facebook-Seite, bis es später gelöscht wird.
Einem Reporterteam der ARD sagt Kohlmann, die Veröffentlichung halte er für vom Presserecht gedeckt. „Die Weitergabe an uns ist natürlich problematisch. Aber die haben wir nicht zu verantworten.“ Ob das wirklich so ist, prüft nun die Staatsanwaltschaft. Fest steht: Kohlmann hat offensichtlich keine Skrupel, eine Straftat für seine politischen Ziele zu nutzen.
Für Donnerstag schließlich ruft Kohlmann erneut zu Protesten auf. Dann wird der Ministerpräsident von Sachsen, Michael Kretschmer (CDU), in Chemnitz erwartet. Nationalisten und selbst erklärte Nationalsozialisten, von denen es in Chemnitz einige gibt, wollen Kretschmer einen ungemütlichen Empfang bereiten. Und dann am Samstag erst: Kohlmann ruft zu Protesten auf, die AfD ruft zu Protesten auf. Das wird der nächste Schaulauf von Rechtsaußen. Es läuft wieder, für Kohlmann und das Chemnitz, das er sich wünscht. Es läuft.
Konzept gegen Nazis: Gentrifizieren
1.900 Meter vom Ratssaal der Stadt entfernt und 1.500 Meter entfernt von Martin Kohlmanns Anwaltsbüro, hinten in der Augustusburger Straße 102, liegt ein Ameisenköder am Fuße einer weißen Kunstinstallation aus Plastik. Dies ist das Lokomov, ein Laden mit gelben, niedrigen Retrosesseln, an dessen Wänden Häkelarbeiten hängen: Eine schwarz-blaue Klitoris, eine braun-weiße Klitoris, eine Klitoris in Türkis und Grau; alle aus Wolle. Das ist die Bar von Lars Fassmann, einem Unternehmer mit 53 Mitarbeitern, der inzwischen 25 Häuser besitzt und aus dem Sonnenberg, dem einstiegen Naziviertel der Stadt, ein Vorzeigeviertel machen will, im Prinzip im Alleingang. Auch Lars Fassmann kämpft für Chemnitz.
Was seit Sonntag in seiner Stadt los ist, bezeichnet Fassmann als „eine ganz neue Qualität“. Den Rechten sei es um eine Machtdemonstration gegangen. Und die Stadt hätte sie zugelassen. Wahrscheinlich können das wenige so gut einschätzen wie er. Fassmann beobachtet als Stadtrat nicht nur die rechten Umtriebe von Pro Chemnitz. Er selbst hat sich mit den Nazis angelegt.
Hier, Stadtteil Sonnenberg, wo heute noch zahlreiche Fenster verhängt sind, weil niemand in den Wohnungen wohnt, hatte er zunächst mal ein Haus gekauft, als ganze Mehrfamilienhäuser hier nur das kosteten, was das Grundstück so gerade noch wert war: 10.000 oder 20.000 Euro, mal auch 30.000 Euro. Das ist noch nicht lange her, das war vor einigen Jahren. Lars Fassmann begann zu kaufen. Erst war es ein Haus und dann waren es ein paar, und heute, sagt er, hat er 25 Immobilien, und was das Besondere an diesem Immobilienbesitzer ist: Er sitzt für die „Volkssolidarität“ im Stadtrat, ein Wählerbündnis, das sich mit den Piraten zusammengetan hat, um überhaupt eine Fraktion bilden zu können. Insgesamt sind auch sie zu dritt, wie die „Bürgerbewegung Pro Chemnitz“.
Ziel: „Räume besetzen“
Wenn es so weitergeht, wird Lars Fassmann den Stadtteil Sonnenberg ganz allein gentrifizieren. Er hat ja schon angefangen. Er macht das extra, auch wenn das unter Linken nicht unumstritten ist. Fassmann sagt dazu: „Für uns gilt das Gleiche wie für die: Wir müssen die Räume besetzen.“ Erst war es das Lokomov, dann das Haus gegenüber, der Musikclub Nikola Tesla, später das Off-Theater Komplex in der Zietenstraße. Fassmann und seine Partnerin Mandy Knospe kauften. Und dann luden sie Künstlerinnen und Künstler ein, die Räume zu beziehen, zu bespielen, zu benutzen. Mal zahlten die etwas Miete, mal durften sie so hinein.
Und so ist in wenigen Jahren etwas entstanden, das aus einem heruntergekommen Viertel, aus dem Problembezirk der Stadt, etwas gemacht hat, das inzwischen Rendite verspricht. Finanzielle, aber wichtiger wohl: gesellschaftliche Rendite. Denn vor Kurzem war der Sonnenberg nur eines: ein an Altbauten reiches Viertel in einer ansonsten im Weltkrieg zerbombten Stadt. Dieses Viertel allerdings war leer.
„Der Mover und Shaker vom Sonnenberg“
Es geht rasch nach der Wende, zwischen 1990 und 2010, als der Bezirk fast ein Drittel seiner Bewohner verliert. Die Leerstände füllen rechtsextreme Kader, erst nationale Sozialisten und Neonazis aus der Kameradschaftsszene, später eine Gruppe namens „Rechtes Plenum“, die den Stadtteil zu einem „Angstraum“ für Nicht-Rechte, einer „National befreiten Zone“ machen will. Was Dortmund in Westdeutschland, wird Chemnitz-Sonnenberg schließlich für den Osten: ein Versuchsprojekt, um Raum für das „deutsche Volk“ zu schaffen, für Neonazis, die an die Scheiben von Parteibüros spucken – und diese schließlich auch zertrümmern, immer wieder.
Dann, natürlich, trifft es auch Fassmann.
2014, 2015 greifen sie seinen Laden an. Auch im November 2016 verüben Unbekannte einen Sprengstoffanschlag auf das Lokomov. Die Scheiben zerbersten. Kurze Zeit später wird der Laden erneut attackiert. Die Gründe liegen auf der Hand: Fassmann hat Künstler zu Gast. Sie wollen ein Theaterstück aufführen. Es geht um den rechts-terroristischen NSU und sein Wirken in der Region.
Später, in der Nacht auf den 2. März 2017, gehen erneut Scheiben zu Bruch. Fassmann ist das inzwischen gewöhnt; er würde sich nur freuen, sagt er, als er an einem Dienstagabend in dieser Woche zum Gespräch auf einem der gelben Stühle in seiner Bar sitzt, wenn sie vielleicht im Stadtrat nicht immer so tun würden, als sei das nur eine Bagatelle. „Das war nicht einfach nur ein Böller, das war ein Sprengstoffanschlag. Da war hier alles kaputt.“
Dann lächelt er, etwas beklemmt, denn er lächelt oft.
Lars Fassmann, der Stadtrat der Volkssolidarität, den das Wirtschaftsmagazin brandeins einmal als „den Mover und Shaker vom Sonnenberg“ bezeichnete, „den Mann, der sich aufgemacht hat, Licht in eine der dunkelsten Ecken der Stadt zu bringen“, und seine Partnerin, Mandy Knospe, haben schon einiges erreicht in ihrem Kampf für Chemnitz. Sie wollen nicht weg aus Chemnitz, im Gegenteil. Sie sagen: „Wir haben hier tolle Freiräume, wir müssen sie nur besetzen.“ Knospe, die sich im Programmrat der Stadt Chemnitz dafür engagiert, eine überzeugende Bewerbung zu erarbeiten, damit Chemnitz im Jahr 2025 Kulturhauptstadt Europas wird, will die Kreativen der Stadt sichtbar machen, die Vielfalt. Chemnitz, die Stadt der Moderne; Chemnitz, die Stadt des Umbruchs; Chemnitz, die Stadt des – Aufbruchs?
Was bricht hier auf?
So jedenfalls hat die Stadt ihr Konzept für die Bewerbung genannt: „AUFbruch“. Nur ist, gerade in diesen Tagen, die Frage: Wer bricht hier auf? Was bricht hier auf?
Fassmann ist nachdenklich. Bei den Protesten am Montag seien zwar viele Leute gegen Rassismus und rechte Hetze auf die Straße gegangen. Nicht die nur die Linke. Er befürchtet jetzt, dass viele, die sich nicht klar positionieren wollen, wie auch einige Stadträte, in den Auseinandersetzungen nun nur einen Konflikt zwischen Links und Rechts sehen wollen. Die Causa Chemnitz betreffe aber alle, so Fassmann. Deshalb werde er weiter zu den Gegenprotesten gehen. Am Samstag, wenn die Rechten erneut durch die Stadt ziehen wollen. Am Montag, wenn die Toten Hosen und weitere Bands ein spontanes Solidaritätskonzert gegen rechts veranstalten. So lange eben, wie es nötig ist.
„Chemnitz“, heißt es auf der Internetseite, auf der die „Kulturstrategie“ der Stadt vorgestellt wird, „bietet jenen Raum, in dem Träume wahr werden können.“
Um diesen Raum kämpft Martin Kohlmann, derzeit sehr erfolgreich. Lars Fassmann hält dagegen. Und er braucht Unterstützung.
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