Ausblick auf das Superwahljahr 2024: Matchball für die Demokratie
2024 ist beinahe die Hälfte der Menschheit zu den Urnen gerufen. Was es braucht, ist eine friedliche Massenbewegung für die Prinzipien der Demokratie.
I m kommenden Jahr finden gleich mehrere Endspiele der Demokratie statt. Fast die Hälfte der wahlberechtigten Weltbevölkerung wird 2024 zu den Urnen gerufen, nicht nur in der ostdeutschen Provinz, auch in Indien, der bevölkerungsstärksten Demokratie der Welt, in den USA, einer der ältesten Demokratien, und, nicht zu vergessen, in der Europäischen Union. Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen stehen unter anderem in Pakistan und Bangladesch, in Namibia und Mali, Peru und El Salvador, Belgien und Österreich, Kroatien und Rumänien, Georgien und Litauen an, Kommunal- und Regionalwahlen gar nicht mitgezählt.
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Diese Häufung ist einerseits eine sehr gute Nachricht, denn die Demokratie hat sich weltweit als Standard durchgesetzt. Dass sich selbst Diktatoren wie Russlands Wladimir Putin, Syriens Baschar al-Assad und Nordkoreas Kim Jong Un Scheinwahlen stellen, bestätigt indirekt die Legitimationsfunktion von Wahlen, die unter fairen Bedingungen einen friedlichen Machtwechsel bewirken. Auch Donald Trumps Anrufe beim Gouverneur von Georgia im US-Präsidentschaftswahlkampf 2020, er möge ihm fehlende Stimmen „besorgen“, belegen die normative Kraft elektoraler Mehrheiten.
Andererseits verzeichnet man seit der Jahrtausendwende einen markanten Rückgang der Zahl der freien Länder, in denen allgemeine, gleiche, geheime und faire Wahlen abgehalten werden. Die repräsentative Demokratie steht fünffach unter Stress: In den postkommunistischen Staaten Russland und China, genau wie in den meisten Ländern des „arabisch-islamischen Gürtels“, ist sie fast komplett gescheitert. In klassischen Demokratien wie den USA, Frankreich und Großbritannien steht sie unter dem starken Druck von rechts. Multikulturelle Demokratien wie Indien vereinseitigen sich. Neue Demokratien wie Ungarn machen auf dem gerade begonnenen Weg wieder kehrt. Und in der Sahelzone reißen Militärs die Macht an sich.
Populistische Kritik von rechts und links hat Wahlen abgewertet, und Rechtsradikale nutzten sie, um im Fall der Machtübernahme demokratische Werte und Regeln außer Kraft zu setzen. Ungarn hat sich durch Wahlsiege Viktor Orbáns Schritt für Schritt in eine legitimierte „Zustimmungsautokratie“ verwandelt, und im November 2024 droht die erneute Wahl Donald Trumps. Diese Wahl macht einen Unterschied ums Ganze, nicht nur für die USA. Trump hat nicht nur einen Rachefeldzug gegen vergangene und künftige Gegner angekündigt, er will auch die Nato auflösen, die Ukraine teilen, Taiwan aufgeben und die Vereinigten Staaten gegen Menschen und Waren aus dem Ausland einbunkern.
Das ist nicht die einzige Wahl, die weltweit ins Gewicht fallen wird im kommenden Jahr. In Indien, derzeit Nummer fünf der Weltwirtschaft, befürchten dortige Oppositionelle und ausländische Beobachter, ein Sieg des Premierministers Narendra Modi könnte die prekäre multireligiöse Balance zerstören. Es wäre der Sieg einer aggressiven Identitätspolitik über einen farben- und glaubensblinden Universalismus, ein Kernstück demokratischer Verfassungen, und ein neuer Beweis für die schwindende Attraktivität liberaler Grundlagen im sogenannten Globalen Süden.
Das muss alles nicht so kommen. Nicht Joe Biden und Donald Trump, nicht Narendra Modi, und erst recht nicht der rechtsextreme AfD-Mann Björn Höcke oder der linke Ministerpräsident von Thüringen, Bodo Ramelow, entscheiden das Spiel – sondern die Wählerinnen und Wähler haben es in der Hand, ob 2024 ein nur quantitativ außergewöhnliches Wahljahr oder ein Endzeitdrama für die Demokratie wird, wie es der irische Schriftsteller Samuel Beckett in seinem Theaterstück „Endzeit“ verfasst hat.
Nicht der Putsch ist das erste Mittel der Entdemokratisierung, sondern Wahlmanipulationen und -fälschungen, die einen Sieg der Opposition ausschließen, flankiert durch die Gleichschaltung der Medien, die Behinderung einer rechtsstaatlichen Justiz und die Beschneidung finanzieller Mittel. Wo populäre Rivalen wie Alexander Nawalny in Russland oder Khaleda Zia in Bangladesch den Potentaten gefährlich werden, sperrt man sie weg. Am Wahlabend ist dann alles nach Plan gelaufen, aber nichts korrekt.
Doch das Wahlvolk kann – wie der Ausgang der polnischen Wahl im Oktober dieses Jahres zeigt – autokratische Abwege auch beenden, und ganz Unerschrockene geben selbst Russland noch nicht ganz verloren.
Es kommt auf die Wähler an
Da es letztlich auf die Wählerinnen und Wähler ankommt, muss man nicht allein auf den gegnerischen Sturm starren, sondern die eigene Verteidigung stärken und zum Gegenangriff „umschalten“. Demokratien sind in der Geschichte nicht dem „Zangengriff“ der Extremisten erlegen, auch keiner beiderseits betriebenen „Polarisierung“ der Meinungen und Milieus, sondern dem Einknicken der politischen Mitte. Das war die exemplarische Erfahrung der Weimarer Republik, die gewiss Feinde ganz links und ganz rechts hatte, doch erst durch die Implosion der Mitte zu einer Demokratie ohne Demokraten regredierte.
Dass es rechtsradikale Einstellungen, Verhaltensweisen und Organisationen gibt, ist für parlamentarische Demokratien Normalität und an sich kein Problem. Problematisch wird es, wenn die viel zitierte Brandmauer fällt, wenn also formelle Koalitionen geschlossen und informelle Absprachen zwischen den gemäßigten und radikalen Rechten getroffen werden. Und wenn sich auf dem Weg dahin Vokabular und Inhalte der rechten Mitte schließlich nur noch nuancenweise von denen der Ultras unterscheiden – so, dass gewissermaßen der Schwanz mit dem Hund wackelt und die Wählerschaft dann gleich das „Original“ wählt, wovor moderne Konservative wie Heiner Geißler stets gewarnt haben.
Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hatte versprochen, die AfD zu „halbieren“, doch in seiner Zeit hat sie landesweit Mandate errungen und in einigen Regionen die Meinungsführerschaft gewonnen. Gleichzeitig haben Merz und CSU-Chef Markus Söder die Grünen zum „Hauptgegner“ erklärt, und Migration zum Superthema dramatisiert.
Programmatik und Rhetorik der französischen, britischen und österreichischen Konservativen unterscheiden sich kaum noch von der weiter rechts stehenden Konkurrenz. Bei den Make-America-Great-Again-Republikanern ist die Fusion weitgehend vollzogen, und in vielen europäischen Ländern sind Christdemokraten und traditionelle Konservative auf dem absteigenden Ast. Ihnen ist dringend zu raten, sich nicht weiter auf diese abschüssige Bahn zu begeben. Und Wählern der radikalen Rechten müsste klar werden, dass sie nicht länger „Denkzettel“ austeilen, sondern radikale Kräfte stark machen.
Wir wissen, wie Demokratien sterben – Experten besprechen wortreich ihre Schwächen. Doch während die rechten Minderheiten sich weit über ihre reale Stärke hinaus in Szene zu setzen vermögen, kommt die Mobilisierung der Mehrheit nur schwer in Gang. Mutige Richterinnen und Richter und vor allem Frauenbewegungen haben sich quergestellt und eindrucksvolle Massendemonstrationen organisiert; dass sie in Hongkong, Belarus, Myanmar und andernorts in brutaler Repression endeten, hat sie nicht endgültig kapitulieren lassen.
Das Beispiel Polen
An Beispielen wie dem Wahlsieg der Opposition in Polen muss sich eine wehrhafte Demokratie orientieren, die noch alle Ressourcen ihrer Verteidigung in der Hand hat. Gegen die allgemeine Krisenmüdigkeit und die schrecklichen Vereinfacher müssen sich die nach vorn blickenden Kräfte sammeln, etwa mit einer überparteilichen Parlamentariergruppe in Land- und Bundestagen und im Europaparlament. Vereinte Kräfte, um sich endlich der größten Herausforderung der Demokratie, dem Klimawandel und Artensterben, zu widmen.
Projekte zur Förderung der Demokratie bleiben oft bei antifaschistischer Nabelschau stehen, die Stärkung der Demokratie muss, wie etwa Michel Friedman gerade angesichts eines wieder offen artikulierten Antisemitismus fordert, die Alltagskultur erreichen, und das heißt: im kontroversen Gespräch mit Kolleginnen, Nachbarn, Freunden. Entschiedener Widerspruch und ziviler Widerstand gegen die Feinde der Demokratie sind gefragt.
Für 2024 braucht es eine regelrechte levée en masse, eine friedliche Massenerhebung für die Prinzipien und Prozeduren der Demokratie. Flankiert werden muss das durch die selbstbewusste Affirmation der Werte der westlich-liberalen Demokratie, die auch durch narzisstische Identitätspolitik und eine kritiklose Parteinahme für den „Globalen Süden“ geschwächt wird. Demokratische Experimente wie wirkungsvolle Bürgerräte und gut dosierte Volksentscheide auf kommunaler Ebene verkleinern den Graben zwischen dem Staatsvolk und den Volksvertretungen.
Das Team Demokratie liegt zurück, aber wer ein Spiel nicht von vornherein verloren gibt, kann grandiose Siege einfahren.
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