Ausbildungsplätze im Norden: Was kommt nach der Coronaschule?
Eltern sorgen sich um das Ausbildungsjahr 2020. Die Kammern melden weniger Verträge als im Vorjahr. Mehr Jugendarbeitslosigkeit wird befürchtet.
Nur hat Hamburg hier gerade einen „Fehlstart“ hinter sich, wie Die Linke kritisiert. Sie deckte durch eine Anfrage auf, dass 2019 44,7 Prozent der Zehntklässler nach Schulende in eine Warteschleife kamen. Die heißt „AV Dual“ und schickt Schüler drei Tage pro Woche ins Praktikum, in der Hoffnung, dass die Betriebe sie als Azubis nehmen.
„Auf dem Hamburger Ausbildungsmarkt gibt es eine Verdrängung. Fast die Hälfte der Azubis kommt aus dem Umland, viele haben Abitur“, sagt Kay Beiderwieden, Berufsbildungsexperte der Linken. Der Staat müsse wie 1980 im großen Stil Plätze bei Trägern schaffen. „Sonst verlieren wir eine Generation.“
„Wir werden das Ausbildungsjahr 2020 nicht verloren geben“, sagt indes Ingo Schlüter, Vize-Chef des DGB Nord in Schwerin. „Ich appelliere an Betriebe, stellen Sie Ihre Angebote ins Netz, und an die Bewerber, bewerbt Euch. Nutzt die Online-Angebote der Berufsberatung.“ Nach der Coronakrise blieben das Demografieproblem und der Fachkräftemangel bestehen. Da müsse sich das duale System „im Wettbewerb mit den Hochschulen als krisenfest beweisen“. Mecklenburg-Vorpommern verliere bis 2030 ein Sechstel der Erwerbstätigen. Deshalb müssten Arbeitgeber für beruflichen Nachwuchs sorgen. Es sei falsch, jetzt in Alarmismus zu verfallen.
Kaum Lehrstellen im Norden
Das Land sticht allerdings heraus auf einer Karte des im jüngsten Ausbildungsbericht Bundesinstituts für berufliche Bildung (Bibb). Die zeigt den Norden gelb und rot. Nur Nordwestmecklenburg und drei seiner Nachbarkreise sind so tiefgrün wie Bayern. Heißt: Es gibt mehr Lehrstellen als Bewerber. Gelb deutet Mangel an, in den tiefroten Gebieten wie Hamburg fehlt sogar für zehn bis 20 Prozent ein Angebot. Das Bibb zählte für die Grafik zum Stichtag Ende September auch Bewerber mit, die ohne Lehrstelle erst mal etwas anderes tun.
„Das Angebot reicht schon im Normalfall nicht“, sagt auch Ingo Schierenbeck von der Arbeitnehmerkammer Bremen. Ihn besorgt, dass die Jugendarbeitslosigkeit steigt. Jene, die jetzt von der Schule kommen, bräuchten „ganz dringend“ Perspektiven.
Die Sorge teilt auch Annette Düring, DGB-Chefin der Region Bremen-Elbe-Weser: „Manche Betriebe sagen, dass wir das kommende Ausbildungsjahr vergessen können.“ Das höre sie aus Gastronomie und Tourismus. Seit Oktober registrierte die Arbeitsagentur Bremen-Bremerhaven 3,6 Prozent weniger Bewerber und 15 Prozent weniger Plätze. „Diese Zahlen besorgen mich sehr“, sagt die Bremer Wirtschaftssenatorin Kristina Vogt (Linke). Vergangene Woche traf sie sich daher erstmals mit Gewerkschaften, Kammern, Bildungsträgern und Berufsschulen, um „mögliche Förderszenarien“ zu entwickeln.
Die Handelskammer Bremen ist indes zuversichtlich, dass sich die Betriebe dank der Soforthilfen und der ersten Lockerungen für den Einzelhandel nun „weiteren Ausbildungsneuverträgen widmen können“, wie Ausbildungsreferent Malte Graf-Christoph sagt.
Doch wie groß die Unsicherheit ist, zeigt eine Mitteilung der Industrie- und Handelskammer Schleswig-Holstein (IHK), die rund 20 Prozent weniger Ausbildungsverträge zählt als Ende April im Vorjahr. Besonders betroffen seien der Einzelhandel, Hotels, Gaststätten und Veranstalter. Dagegen können „Bau, Handwerk, alles, was draußen passiert“, normal arbeiten. So rechnet auch die Landwirtschaftskammer mit stabilen Zahlen. Und am Uniklinikum Schleswig-Holstein ist die Nachwuchsakademie belegt.
Annette Düring, DGB-Chefin Bremen-Elbe-Weser
Vorhersagen seien schwierig, sagt Sebastian Schulze vom Unternehmensverband Nord. Die Bewerbungsfristen laufen noch, aber gerade Gastronomie und Tourismus könnten kaum planen. Die Firmen seien in der Zwickmühle. „Sie wissen nicht, wie sich die Lage entwickelt – aber wenn der Betrieb wieder losgeht, brauchen sie dringend Fachkräfte.“
Generell sei „ein Rückgang der Ausbildungsbereitschaft“ nicht zu erkennen, erklärt Wirtschaftsminister Bernd Buchholz (FDP). Erschwerend sei, dass Praktika und Schnuppertage gerade nicht möglich sind. Das Land bemühe sich aktiv um einen „reibungslosen Übergang“ der Abgangsklassen in die Ausbildung, verspricht Buchholz – genauer wird er dabei nicht.
Auch Volker Linde von der IHK Niedersachsen gibt das Ausbildungsjahr nicht verloren. Die Kammer rate den Betrieben, Bewerbungen digital abzuwickeln und zu bedenken, „dass der Ausbildungsvertrag ja nicht unbedingt am 1. August beginnen muss. Der 1. September oder sogar der 15. oder 20. September reichen auch noch.“ Man müsse eben sehen, dass man noch in das Berufsschuljahr hineinkommt.
Weniger Ausbildungsverträge
Wie groß das Minus sein wird, sei noch nicht ganz abzusehen, sagt Linde. Aber auch in Niedersachsen waren bis Ende April 18 Prozent weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen. Mit einem gewissen Minus hätte man allerdings auch ohne Corona gerechnet: Niedersachsen hat aufgrund der Abkehr vom Turbo-Abi ja weniger Schulabgänger als sonst. Und noch gebe es ja die Möglichkeit aufzuholen: Ende April sei immer erst etwa ein Drittel der Ausbildungen in trockenen Tüchern.
„Die starken Monate kommen erst noch“, sagt auch Thomas Schierbecker von der Hamburger Handelskammer. Die dort vertretenen Unternehmen schlossen bis Ende April rund 19 Prozent weniger Verträge ab als im Vorjahresmonat. „Man merkt, dass der Markt sich verlangsamt“, sagt Schierbecker. Einige führten Bewerbungen online durch, andere wollten die Menschen persönlich sehen. Dabei sind Bewerbungsgespräche nicht untersagt.
Die Hamburger Arbeitsagentur ist optimistisch
Auch die Arbeitsagentur Hamburg ist optimistisch. Die Berufswahl könne durch Hilfen im Netz vorankommen. Hamburg habe zusammen mit den schulischen Ausbildungsgängen über 14.000 Plätze, da sei für jeden etwas dabei.
Allerdings sind Hamburgs Lehrstellen begehrt, nur 1,9 Prozent blieben 2019 unbesetzt, der kleinste Wert bundesweit. Die Konkurrenz durch die Nachbarländer führe dazu, dass „vermeintlich leistungsschwächere“ Jugendliche verdrängt werden, kritisierte die DGB-Jugend kurz vor der Coronakrise in ihrem Ausbildungsreport und rechnet gar vor, jährlich stünden rund 4.500 Schulabgänger ohne Ausbildungsplatz da.
Nur was tun? Ingo Schlüter rät, um die betriebliche Ausbildung zu sichern, sollten die Länder dem Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns folgen, das Betrieben in Kurzarbeit anbietet, 80 Prozent der Azubi-Vergütung kurzfristig zu übernehmen. „So kann Kurzarbeit bei Azubis vermieden werden“.
Anette Düring schlägt für Bremen vor, um den Ausfall eines ganzen Ausbildungsjahres zu verhindern, könnte man eine schulische Grundausbildung für Azubis anbieten, sodass diese auch ohne geöffnete Betriebe starten könnten. „Das setzt voraus, dass die trotzdem bereit sind, einzustellen.“
Modell Grundausbildung
In Hamburg, wo die regierende SPD bereits 2011 jedem Jugendlichen eine Ausbildung versprach, gibt es so ein ähnliches Modell schon. Jene, die einen festen Berufswunsch haben, können die „Berufsqualifizierung“ (BQ) beim Staat beginnen und in einen Betrieb wechseln, wenn der sich findet. Nur ist das dem Senat untergeordnete „Hamburger Institut für berufliche Bildung“, kurz Hibb, sparsam bei der Vergabe solcher Plätze. Waren mal 1.000 geplant, sind nur 175 besetzt.
Sprecherin Angela Homfeld sagt, es würden Plätze an Berufsfachschulen „bedarfsgerecht angeboten“, etwa für Screen Designer, Hauswirtschaft oder Uhrmacher. Die Bewerbungsfrist sei bis Mitte Juni verlängert. Außerdem könnte die Platzzahl für die Berufsqualifizierung erhöht werden. Ein fehlender Nachweis erfolgloser Bewerbungen werde anders als sonst „in diesem Jahr keine Hürde sein“, sagt Homfeld. Übrige Schulabgänger, die ohne „gesicherte Anschlussperspektive“ sind, gingen von der Schulbank ins „AV Dual“ um von dort „schnellstmöglich in eine Ausbildung zu wechseln“. Ob es wieder fast die Hälfte sind wie 2019 oder sogar mehr, wird wohl erst eine weitere Anfrage der Linken erweisen.
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