Ausbeutung bei Lieferdiensten: Die falsche Freiheit
Digitale Lieferdienste stehen für ein Arbeitsprinzip, das sich immer mehr ausbreitet. Die Auftragsvergabe durch Algorithmen macht die Menschen einsam.
D ieser Text muss mit einem Eingeständnis beginnen: Die Missstände, die ich beklage, wurden auch durch mich herbeigeführt. Ich war bislang nicht Teil der Lösung, sondern eher des Problems: Lieferdienste für Essen oder Lebensmittellieferungen innerhalb von zehn Minuten – Apps, die mir diese Dienste ermöglichen, sind auch auf meinem Handy installiert. Wenn ich Sonntagabend auf dem Sofa liege und zu faul zum Kochen bin, bestelle ich schon mal Essen. Statt noch mal zum Supermarkt zu gehen, lasse ich mir die Lebensmittel liefern.
Damit bin ich in meiner Generation nicht allein. Wir sind es gewöhnt, eine Vielzahl an digitalen Dienstleistungen rund um die Uhr zur Verfügung zu haben. Nur die wenigsten fragen sich dabei, was das eigentlich mit unserer Gesellschaft macht.
In letzter Zeit wurde oft über die schlechten Arbeitsbedingungen der Kurierfahrer*innen diskutiert. Beim Lebensmittellieferdienst Gorillas streiken die Fahrer*innen mittlerweile fast täglich. Der Versuch der Gründung eines Betriebsrats wurde von der Geschäftsführung torpediert. Ein Schema, das man bereits von anderen digitalen Unternehmen kennt: Arbeitnehmer*innenrechte werden dort möglichst schnell und effektiv bekämpft.
Doch hinter diesen Konflikten steckt mehr als nur der klassische Arbeitskampf: Es geht um ein neues Prinzip des Wirtschaftens. Die schlechte Behandlung der Arbeitnehmer*innen ist nicht der singuläre Ausfall einer Geschäftsführung. Es ist ein neues digitales Arbeitssystem, das hier installiert wird und das sich auf immer neue Bereiche der Wirtschaft ausdehnen wird, wenn wir nicht schnell reagieren.
Bewusst herbeigeführte Einsamkeit
Nun ist die Ausbeutung der Arbeitnehmer*innen kein neues Phänomen. Sie ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Heute haben sich allerdings einige Grundpfeiler verschoben. Im digitalen Kapitalismus sind der Markt und das Unternehmen oft identisch. Nehmen wir etwa Amazon: Hier werden die Kund*innen systematisch an proprietäre Märkte gebunden. Während es im Fordismus um die effiziente Nutzung von Arbeitskraft ging, geht es in der digitalen Wirtschaft darum, selbst der Markt zu sein.
ist Digitalpolitiker, Mitglied in der netz- und medienpolitischen Kommission beim SPD-Parteivorstand und Co-Vorsitzender der SPD Berlin-Mitte.
Das erklärt auch die unfassbaren Summen, die diesen jungen Unternehmen zur Verfügung stehen. Gorillas wurde zuletzt mit über einer Milliarde Euro bewertet. Entsteht ein neuer Markt, wird dort viel Geld hinein gepumpt, damit das Unternehmen sehr schnell selbst zum Markt wird. Aggressivität lässt dabei den Shareholder Value steigen. Frei nach dem früheren Facebook- Motto: „Beweg dich schnell und mach Sachen kaputt“.
Doch im Digitalen haben sich auch die Arbeitsbedingungen verändert. Die Lieferdienste bieten erstmals vollständig per Algorithmus gesteuerte Jobs an. Die Fahrer*innen melden sich in der App an, der Algorithmus erteilt die Aufträge – die Entmenschlichung der Arbeitswelt. Während auf den Werbeprospekten mit Worten wie „Team“ und „Community“ geworben wird, bieten diese Unternehmen vor allem eins: Einsamkeit.
Eine Einsamkeit, die sehr bewusst herbeigeführt wird. Alles, was Gemeinsamkeit schafft, alles, wo Menschen zusammenkommen, erzeugt Reibung. Und Reibung ist Sand im Getriebe der digitalen Lieferdienste. Konzerne versuchen so, eine in Gänze singularisierte Arbeitsumgebung zu schaffen. Ein Mitspracherecht gibt es in diesem System nicht mehr – mit Algorithmen lässt sich auch schwer diskutieren. Nichts stört die Effektivität und den Gewinn des Unternehmens.
Soziale Marktwirtschaft geht anders
Die Steuerung von Arbeitnehmer:innen per Algorithmus ist ein Prinzip, das sich immer tiefer in unsere Arbeitswelt einschleicht; die Lieferdienste sind nur die Speerspitze dieser neuen Bewegung. Viele Bankberater*innen füttern den Algorithmus nur noch mit Daten. Selbst die Polizei wird in einigen Ländern mittlerweile vom Algorithmus gesteuert, indem dieser sagt, wo in der Stadt es sich lohnt, hinzufahren.
Am Beispiel der Lieferdienste lässt sich noch eine zweite bedenkliche Entwicklung beobachten: Wir rutschen ins Zeitalter des überwachungs- und bewertungsgetriebenen Arbeitens. Die Kurierfahrer*innen sind während ihrer Arbeit dauerhaft überwacht. Es wird mitgeschnitten, wo sie hinfahren, wie ihre Kommunikation abläuft, es wird Buch darüber geführt, wie viele Auslieferungen geschafft werden.
Am Ende bewertet die Kundschaft die Leistung. Ist man mal unfreundlich, steckt man im Stau oder bringt kaltes Essen, gibt es eine negative Bewertung. Dabei ist die Bewertungslogik besonders perfide: Kund*innen haben alle Rechte, die Lieferant*innen keine. Wenn die Leistung nicht mehr stimmt, ist der/die Einzelne schnell austauschbar – auch für die sogenannte Community.
Was uns als große „Freiheit“ verkauft wird, ist in Wirklichkeit das genaue Gegenteil. Hinter Werbe-Versprechen wie dem einer zwanglosen Community steckt vor allem die Ablehnung staatlicher Regulierung: Der Vorrang der Ökonomie vor der Politik. Es ist eine spätkapitalistisch-digitale Traumwelt, die immer weiter fortschreitet. Doch wollen wir Freiheit wirklich so für uns definieren?
Es wird Zeit, dass wir uns als Gesellschaft gegen diese Prinzipien wehren. Wenn wir uns vom blendenden Freiheitsversprechen lösen, ist eine politische Regulierung auch möglich. In Spanien müssen die Unternehmen beispielsweise den Gewerkschaften den Code für die Algorithmen zur Verfügung stellen, um mehr Transparenz für die Kuriere zu schaffen. Wir brauchen auch Verpflichtungen der Unternehmen auf feste Ansprechpersonen. Wir müssen Genossenschaftsmodelle fördern, in denen Fahrer*innen sich selbst organisieren. Und wir müssen der permanenten Überwachung klare Grenzen setzen.
Wenn wir diese Schritte jetzt nicht gehen, dann etablieren wir ein Prinzip in unserer Wirtschaft, das mit einer sozialen Marktwirtschaft nur noch wenig zu tun hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“