Aus mit 2022: Ningeltrienen und Pilleneinwerfer

Das scheidende Jahr war wahrlich kein leichtes. Viele schafften es tapfer, andere meckernd und noch andere mit dem ein oder anderen Glücklichmacher.

Eine Person isst eine Tablette

An der Spitze stehen ausgerechnet die Länder, die bei Glücksrankings immer ganz vorn mitlächeln Foto: Westend61/imago

So, jetzt wo das meiste geschafft ist, kann man auch mal zurück blicken und sagen: Es war nicht alles schlecht! Okay, das Jahr 2022 war nicht ganz frei von Herausforderungen: Corona, Ukrainekrieg, Inflation und jetzt am Jahresende noch eine Rieseninfektionswelle plus Medikamentenmangel. Aber dafür kann man sagen: Die innere Haltung stimmt! Und das ist doch einiges wert in diesen Zeiten.

Die meisten Deutschen, so lobte kürzlich sogar Energieminister Habeck, „wissen, was die Stunde geschlagen hat“. Sie sparen Strom und Gas, um die nationalen Energiereserven zu erhalten. Dabei schonen sie nicht einmal den eigenen Nachwuchs, wie ich an einem der kältesten Vorweihnachtsabende in Leipzig beobachten konnte: „So, und jetzt geht’s erst mal in die lauwarme Wanne!“, sagte eine Oma auf dem Weihnachtsmarkt zu ihren beiden triefnasigen Enkeln.

Die nickten tapfer, denn auch sie wissen: Lauwarm baden heißt, Putin ärgern. Auf dem gleichen Markt saß ich in der Essecke einer Kleinfamilie gegenüber. Mann und Tochter meckerten lautstark über die „miese“ Wurst und die „nicht leckere“ Soljanka. Die Mutter hakte sich daraufhin beim Sohn unter und beschied: „Das nächste Mal lassen wir euch zu Hause. Ningeltrienen brauchen wir nicht!“

Besonders freute mich natürlich das schöne sächsische Wort für „Meckerfritzen“. Außerdem aber erschien mir die resolute Sächsin als bewundernswertes Exemplar, quasi eine Verkörperung Habeck’scher Tugenden. Nicht ningeln, sondern den Budenfraß mit Glühwein runterspülen, und anschließend ab in die höchstens lauwarme Wohnung, die Küche bleibt für den Rest des Tages kalt! Ein Beispiel für eine selten gewordene Resilienz, diese Frau.

Für 8 von 10 war 2022 schlecht

Cem Özdemir sollte sie mal anrufen: Sie könnte (so sie nicht zur verbohrten Minderheit der Bratwurst-­Ul­tras gehört) die Ernährungsstrategie der Bundesregierung beschleunigen und den Kan­ti­nen­es­se­r:in­nen den Weg zu weniger Fleischkonsum leuchten: „Der Wirsing wird gegessen, und zwar ohne Speck. Übergewichtige Klimaverpester brauchen wir nicht!“

Wir verweichlichten Medienfritzen sind ja noch nicht so weit: In der taz jammern wir jeden Tag. Über die niederschmetternde Weltlage, die Gehälter, die krankheitszerlöcherte Personaldecke. Und machte man in der letzten Zeit den Fernseher an, wurde es auch nicht besser. Der frisch aus der Haft entlassene Steuerhinterzieher Boris Becker weinte im Interview vor allen Leuten. Sogar Machos der harten Sorte schluchzten hemmungslos in der Öffentlichkeit, wie der argentinische Torhüter – obwohl der doch gewonnen hatte.

Aber wenn der Druck zu groß ist, dann muss halt alles raus. Wobei: Es geht auch anders, wie eine aktuelle Studie der OSZE zeigt: Demnach stieg in den letzten zwei Jahrzehnten der Konsum von Antidepressiva in Europa dramatisch an. An der Spitze stehen ausgerechnet die Länder, die bei Glücksrankings immer ganz vorn mitlächeln, nämlich Island, Schweden und Norwegen. Die als „hyggelig“ bekannten Dänen sind übrigens auf Platz 9 von 18, was auch dafür spricht, dass sie ihrer guten Laune massiv nachhelfen.

Die ganze nordische Wohlfühlnummer ist also erschummelt – nur die pharmaskeptischen Deutschen zetern, barmen und heulen sich weiterhin nach alter Väter Sitte durchs Leben. Allerdings, das zeigt die OSZE-Erhebung auch: Wir haben uns in den letzten 20 Jahren stetig auf Platz 13 hochdosiert. Offenbar sind aber noch nicht genug von den Gemütsaufhellern im Umlauf.

Laut einer aktuellen Umfrage finden 8 von 10 Deutschen, dass das Jahr „schlecht für Deutschland“ war – und in der sächsischen Weltstadt des Senfs – Bautzen – fürchtet sich ein CDU-Landrat vor Flüchtlingen, die „sich in unsere Wohnungen integrieren“ und damit den sozialen Frieden gefährdeten. Mir fallen beim gefährdeten Frieden eher ältere Herren mit karierten Tweedjackets ein, die den Staatsstreich planen. Aber ich wollte mich dieses Jahr ja nicht mehr aufregen.

Ich kaufe jetzt Sekt und Schokolade, erprobte Glücklichmacher. Ab sofort wird nicht mehr geningelt. Frohes Fest!

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Jahrgang 1974, geboren in Wasserburg am Inn, schreibt seit 2005 für die taz über Kultur- und Gesellschaftsthemen. Von 2016 bis 2021 leitete sie das Meinungsressort der taz. 2020 erschien ihr Buch "Der ganz normale Missbrauch. Wie sich sexuelle Gewalt gegen Kinder bekämpfen lässt" im CH.Links Verlag.

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