Aus der Deutschland-taz: "Wir achten nicht auf Herkunft"

Wer ist deutsch? Wegen angeblicher Deutschenfeindlichkeit geriet ihre Schule in die Schlagzeilen. Die SchülerInnen der Otto-Hahn-Gesamtschule in Neukölln wehren sich gegen dieses Abstempeln.

Integriert ist, wer Akkusativ von Dativ unterscheiden kann? Teilnehmer eines Deutsch-Kurses. Bild: dapd, Thomas Lohnes

taz: Wie findet Ihr die Debatte um "Deutschenfeindlichkeit" an Schulen? Sie betrifft ja auch Eure Schule.

Dilek: Ich finde es total grauenhaft, wie Ausländer da dargestellt werden. An allen Schulen wird gemobbt - und es sind nicht nur die Migranten, auch die Deutschen tun das.

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Yachya, 18, ist Schülersprecher der Otto-Hahn-Oberschule und besucht die 11. Klasse. Der in Ostfriesland geborene Deutsche arabischer Herkunft will nach dem Abitur Chirurg oder Pilot werden: "Man kann nicht sagen: Der Teil von mir ist deutsch, der arabisch."

Ugur, 20, will Politik oder Wirtschaft studieren. Er ist Mitglied der Grünen und will Politiker werden. Ugurs Familie stammt aus der Türkei: "Wenn irgendjemand sagt, du bist dies oder das, du bist Deutscher, du bist Türke - das interessiert mich nicht. Soll er denken, was er will."

Dilek, 16, ist Tochter türkischer Einwanderer. Sie macht in diesem Schuljahr den Mittleren Schulabschluss (MSA) und will Sozialpädagogin, Erzieherin oder Apothekerin werden: "Der Mensch muss ja von sich allein aus denken können!"

Die Zwillinge Max und Moritz (16) sind deutscher Herkunft. Sie besuchen ebenfalls die zehnte Klasse und machen bald den MSA. Moritz will Sonderpädagoge oder Politiker werden. Max will ein Haus für Kinder eröffnen, die es zu Hause schwer haben: "Chaoten gibt es bei Deutschen und bei Migranten" (Max). "Man freundet sich mit den Leuten an, mit denen man sich gut versteht." (Moritz)

Kassem, 17, ist in der 10. Klasse und wird in diesem Schuljahr nach Auskunft seiner Lehrerin den MSA "mit Glanz und Gloria" bestehen. Der Deutschlibanese will Politiker werden: "Integration heißt friedliches Zusammenleben, oder?"

Yachya: Eine Deutschenfeindlichkeit gibt es nicht. Es wird gemobbt, wer anders oder in der Minderheit ist. Auch Schüler, die lernen, die etwas erreichen wollen, werden gemobbt. Oder die, die sich für die Schule einsetzen.

Wie ihr?

Yachya: Wir von der Schülervertretung werden nicht gemobbt, wir werden respektiert. Aber manchmal kommen Schüler, die fragen, ob wir nichts Besseres zu tun haben.

Dilek: Respekt muss man sich nicht durch Schlägereien erwerben, sondern indem man zeigt, was man im Köpfchen hat.

Kassem: Ich habe früher selbst zu denen gehört, die gemobbt haben.

Warum hast Du das gemacht?

Kassem: Ich fand mich cool! Und es lag auch an der Gruppe, zu der ich damals gehörte. Wir haben die gemobbt, die schwach waren, sich nicht wehrten.

Wie bist Du davon abgekommen?

Kassem: Durch meine Klassenlehrerin, die mit einer Versäumnisanzeige wegen Schulschwänzen drohte. Und durch meine Eltern: Die haben Druck gemacht. Ich habe verstanden, dass ich irgendwie die Kurve kriegen muss. Und jetzt bin ich in der Schülervertretung.

Nochmal zur Debatte …

Yachya: Neukölln hatte ja schon immer einen schlechten Ruf. Aber als das mit der Deutschenfeindlichkeit aufkam, hat die Presse total übertrieben. Es gab einen Artikel, da hat der Reporter meine Aussagen so falsch zusammengeschrieben, dass er Araber und Türken wieder schlecht dargestellt hat. Nachdem der erschienen war, konnte ich zwei Nächte nicht schlafen.

Dilek: Ich finde, wir sind keine brutale Schule. Ganz im Gegenteil: Wir organisieren unheimlich viel, planen Veranstaltungen wie die Schuldisco und die Projekttage. Und demnächst machen wir eine mit den Eltern, damit die sich besser kennenlernen, über ihre Kulturen und Geschichten erzählen.

Yachya: Ja, über diese positiven Sachen berichten die Journalisten nie. Immer nur Negatives.

Kassem: Dabei haben sich die Schulen in Neukölln unheimlich verbessert in letzter Zeit! Und plötzlich stand in der Zeitung, dass die Deutschen hier sich nicht mehr auf den Schulhof trauen.

Moritz: Auf unserer Schule gibt es halt ein paar Chaoten bei Migranten. Aber bei den Deutschen gibt es prozentual genauso viele, sie sind halt nur insgesamt weniger. Deswegen setzen sich eben die Chaoten unter den Migranten durch und gehen manchmal auch auf die Deutschen los. Es gab Zeiten, da sind einige deutsche Schüler nicht auf den Hof gegangen, weil es Stress gab. Aber die Schule hat das eingedämmt und ein paar Chaoten von der Schule verwiesen.

Dilek: Ich finde, die Schule und Neukölln insgesamt haben sich sehr verbesssert. Ganz ehrlich, vor ein paar Jahren konnte man nachts alleine gar nicht rausgehen! Jetzt geht das. Es gibt aber Schüler, die meinen, sie bräuchten keinen Abschluss. Und wer so denkt, hat die Hoffnung auf die Zukunft irgendwie aufgegeben. Das sind oft die, die von Zuhause nicht so viel Mut oder Unterstützung bekommen.

Ugur: Meistens sind es die Schüler, die kaum Leistung bringen, die frech sind.

Kassem: Die oft nur zum Stören in die Schule kommen.

Haben sich Deine Leistungen verbessert, seit Du mit dem Mobben aufgehört hast, Kassem?

Kassem: Auf jeden Fall! Ich konzentriere mich jetzt auf mich selbst, ich will in die Oberstufe, ich will etwas erreichen in meinem Leben. Und was die anderen Schüler von mir denken, interessiert mich eigentlich nicht mehr.

Max: Die, die mobben, haben oft kein Ziel. Denen wird auch zuhause keins vorgegeben, da helfen die Eltern nicht oder verstehen gar nicht, was in der Schule los ist.

Habt Ihr außerhalb der Schule gemischte Freundeskreise oder eher Freunde aus der eigenen Community?

Ugur: Bei mir ist es multikulturell. Mein bester Freund ist Vietnamese, ich habe viel mit Leuten anderer Herkunft zu tun. Bei manchen weiß ich gar nicht mal, woher sie sind.

Moritz: Man freundet sich mit den Leuten an, mit denen man sich gut versteht. In unserem Haus wohnen Griechen, Türken, Araber - wenn man sich gut versteht, dann unternimmt man auch was zusammen.

Deutschenfeindlichkeit wird ja vor allem den türkisch- und arabischstämmigen Schülern angelastet.

Yachya: Und meistens ist dann auch der Islam gemeint. Aber es gibt auch Araber oder Türken, die Christen sind, die keine Religion haben oder nicht religiös sind. Trotzdem wird immer auf den Islam gezeigt.

Eine Studie will sogar herausgefunden haben: je gläubiger, desto gewalttätiger seien muslimische Jugendliche.

Yachya: Ich finde, es ist genau anders: Je religiöser man ist, desto friedlicher ist man.

Ugur: Das würde ich auch sagen. Obwohl ich nicht sehr religiös bin.

Kassem: Also ich selber bin Moslem. Und bei mir war es so: Als ich noch gemobbt habe, da hat mich die Religion nicht so interessiert. Aber wenn man gläubiger wird, bessert man sich. Bei mir ist das auf jeden Fall so.

Max: Also ich finde, dass die Leute, die ständig auf Allah schwören, oft nicht gerade die wirklich Gläubigen sind. Die sind eher so pseudo … Wenn man an das glaubt, was im Koran steht, dann muss man auch die entsprechenden Regeln respektieren. Aber diese Pseudos halten sich gar nicht daran.

Dilek: Bei mir in der Familie ist es so: Niemand zwingt mich zum Glauben. Meine Eltern sagen: Du kannst beten, du kannst fasten, du kannst dich orientieren nach welcher Religion du willst. Man muss nicht unbedingt religiös sein, um friedlich oder tolerant oder integriert zu sein. Der Mensch muss ja von sich allein aus denken können.

Könnt Ihr mit dem Begriff Integration etwas anfangen?

Yachya: Ich nicht. Man ist hier geboren. Man geht hier zur Schule. Man spricht die Sprache. Man macht Abitur. Sind wir also integriert oder nicht?

Ugur: Die Politiker sagen die ganze Zeit: "Integriert euch!" Aber sie sagen nicht, wie oder was sie sich darunter vorstellen.

Was stellt Ihr Euch denn vor?

Yachya: Integriert ist, wie wir jetzt sind.

Kassem: Ein friedliches Zusammenleben, oder?

Dilek: Dort, wo Du dich wohl fühlst, bist Du zuhause.

Du fühlst Dich hier wohl?

Dilek: Zum Teil, ja.

Zum Teil?

Dilek: Diese ganzen Mediendebatten, die Berichte in den Zeitungen, das stört einen schon. Ich finde das total doof.

Yachya: Alle werden in einen Topf geworfen.

Ugur: Mich stört das gar nicht, weil ich weiß, dass ich nicht so bin. Da können die Medien schreiben, was sie wollen. Und wenn irgend jemand auf der Straße denkt oder sagt, du bist dies, du bist das, du bist Deutscher, du bist Ausländer - das interessiert mich nicht. Soll er denken, was er will.

Wenn Du diskriminiert wirst, weil Du nicht deutsch aussiehst oder eine andere Religion hast, stört Dich das nicht?

Ugur: Ja, okay, es stört mich schon, wenn da irgendwo mal wieder steht: "Alle Türken…" Ich hab die deutsche Staatsangehörigkeit und werde trotzdem immer noch Migrant genannt.

Max: Ich finde, Integration ist ein Aufeinanderzugehen. Wer nach Deutschland kommt oder hier geboren ist und eine andere Tradition hat, muss sich ein bisschen an unsere Traditionen anpassen. Man kann nicht überall machen, was man will. Das kann man auch in der Türkei nicht. Einwanderer müssen jetzt nicht komplett die deutsche Kultur annehmen, aber sie müssen sich sich komplett nach den deutschen Regeln verhalten.

Kassem: Ich bin noch kein deutscher Staatsbürger, werde es aber bald. Und wenn man mich dann fragt, ob ich Deutscher oder Libanese bin, würde ich immer noch beim Libanesen bleiben. Meine Eltern sind doch Libanesen! Ich wäre dann libanesischer Deutscher. Ich bin beides.

Dilek: Ich bin Türkin, aber ich lebe deutsch und türkisch. Also bin ich beides.

Könntest Du sagen, was an Dir türkisch, was deutsch ist?

Dilek: Türkisch ist mein Name und - so weit ich weiß - mein Aussehen. Und einige meiner Interessen sind türkisch. Ich liebe türkische Volkstänze.

Und was ist deutsch?

Dilek: Ich nehme vieles locker. Ich finde, Deutsche nehmen auch vieles locker.

Wie bitte? Was ist mit deutschen Tugenden wie Pünktlichsein, Ordentlichsein?

Dilek: Ich mag die Pünktlichkeit, die Zuverlässigkeit.

Yachya, kannst Du sagen, was an Dir deutsch ist, was arabisch?

Yachya: Eigentlich kann man das nicht sagen. Ich bin Araber mit deutsch… Nee…

Ugur: Du meinst: Deutscher mit arabischen …

Yachya: Ja, Deutscher mit arabischen Wurzeln. Aber man kann jetzt nicht sagen: Der Teil ist deutsch, der arabisch. Als wir aus Ostfriesland nach Berlin gekommen sind, ist meine Mutter hier erstmal nicht mit den arabischen Leuten klar gekommen. Dort waren die Deutschen wie eine Familie für uns. Unsere Vermieterin hat geweint, als wir weggezogen sind. Und ich würde immer noch gerne zurück.

Max: Ich denke nicht darüber nach, wie deutsch ich bin. Ich weiß, dass ich Deutscher bin, soweit man zurückgucken kann. Irgendwann ganz hinten kommen dänische Vorfahren ins Spiel.

Ugur: Ich glaube, wir alle achten nicht so sehr auf Herkunft. Alle sind Menschen. Wichtiger ist, ob einer einen guten Charakter hat.

Kassem: Natürlich bin ich stolz darauf, dass ich Libanese bin. Aber andere Sachen sind viel wichtiger: Dass ich geschafft habe, mich zu ändern, zu einem besseren Schüler zu werden. Das schafft nicht jeder. Ich bin von unten nach oben gekommen.

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