Aufstieg der Grünen zur Volkspartei: Bündnis 90/Die Erben?
Um Volkspartei zu werden, müssten sich die Grünen entscheiden, ob sie ihre eigene Wählerschaft stärker besteuern wollen.
W as erklärt den rasanten politischen Aufstieg der Grünen, der ja im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 in den Meinungsumfragen zumindest vorübergehend annähernd zu einer Verdreifachung ihres Prozentanteils in der Wählergunst geführt hat?
Bekannt ist, dass der Kern der Wählerinnen und Wähler der Grünen aus Menschen besteht, die materiell besser gestellt sind und vorwiegend gut bezahlte Dienstleistungsberufe ausüben, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin herausgefunden hat. Aber auch wenn der Anteil dieser Menschen an der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung kontinuierlich gewachsen ist, kann dies allein den Stimmenzuwachs nicht hinreichend erklären.
Das gestiegene Bewusstsein der Bedeutung des Klimawandels ist der offensichtliche Teil der Erklärung. Viel interessanter aber ist es, die Wählerwanderung, die bei der Europawahl im Mai insbesondere von der CDU/CSU und FDP zu den Grünen stattgefunden hat, genauer zu betrachten.
Eine simple Hypothese: Wer in einer Gesellschaft materiell bessergestellt ist, möchte auch etwas „Besonderes“ geboten bekommen. Die Grünen haben den Vorteil, dass sie im politischen Umfeld den raren Status einer „coolen“ Marke haben. Sie verstehen sich darauf, ihren Wählern subjektiv ein besseres, aufgeklärtes oder auch überlegenes Lebensgefühl zu vermitteln.
ist Chefredakteur des Online-Magazins www.TheGlobalist.com, er lebt in Berlin. Den Aufstieg der Grünen hat er seit ihrer Gründungszeit aufmerksam verfolgt.
Volkspartei für missionarische Hoffnungen
So „cool“ das auch sein mag, entpuppen sich die Grünen in Wirklichkeit doch immer mehr als eine Volkspartei alten Stils. Denn sie operieren mittlerweile in genau der gleichen Weise, wie dies zuvor die CDU/CSU und die SPD über Jahrzehnte praktiziert haben. Sie dienen sich vielen Menschen als parteipolitische Projektionsfläche für deren zum Teil durchaus missionarische Hoffnungen an, die sie für unser Gemeinwesen haben.
Die beiden alten Volksparteien sind demgegenüber als Marken inzwischen in etwa so attraktiv, wie die Etienne Aigners, Sony-Walkmans, Fred Perrys, Club Meds und andere prominente Marken des letzten Jahrhunderts es heutzutage sind. Sie haben als Projektionsfläche geheimer Wünsche ausgedient.
Der Volksparteiencharakter trifft auf die Grünen auch insofern zu, als ihr Führungsduo Habeck/Baerbock per Sloganeering („Weg mit den Inlandsflügen!“) sehr erfolgreich darin ist, einen Gemischtwarenladen anzubieten, der ein bestimmtes Lebensgefühl bedient. Volksparteien sind im Interesse der eigenen Machtsteigerung beziehungsweise -erhaltung gut beraten, lieber keine spezifischen politischen Lösungen anzubieten, um möglichst keinen Teil des eigenen Wählerpotenzials zu desillusionieren.
Orte des Klimawandels
Aber realistische Zielvorgaben und gerade auch detailliert durchgerechnete Programme sind das, was unsere Gesellschaft mittlerweile unbedingt braucht. Nur so lässt sich der von den Alt-Volksparteien zu verantwortende Handlungsstau abbauen. Diese Herausforderung anzunehmen, ist angesichts der konzeptionslosen Stückwerksarbeit der Groko eine besondere Verantwortung der Grünen.
Davon ist aber gegenwärtig aufseiten der Grünen nur wenig zu spüren. Wenn Habeck etwa davon spricht, die Bahnstrecken massiv auszubauen, um 2035 keine Inlandsflüge mehr zu haben, ist das angesichts der hierzulande üblichen Projektvorlaufzeiten für neue Bahntrassen zumindest ohne begleitende Vorschläge zur Verfahrensstraffung natürlich eine Milchbubenrechnung.
So fragt man sich mit Blick auf die Dauerhaftigkeit des politischen Erfolgs der Grünen zu Recht, wie schnell die Wähler der Grünen die bewusste, volksparteienhafte Unspezifität durchschauen werden. Der aktuelle Rückgang in den Meinungsumfragen ist ein erstes Indiz hierfür.
Partei der Erben
Was den Grünen allerdings auf mittlere Sicht helfen wird, sind die Verschiebungen in der materiellen Komposition ihrer Wählerschaft. Gerade wegen der Wählerwanderung von CDU und FDP zu den Grünen wird die Partei verstärkt Elemente einer Erbenpartei aufweisen. Die Erbengeneration ist ohne Frage materiell bessergestellt, indem sie aufgrund einer Erbschaft zum Beispiel als Wohnungseigentümer lebenslang mietfrei wohnt oder über Mieteinkommen verfügt. So etwas entlastet den eigenen Haushalt, gerade wenn man in Städten lebt, in denen man für die eigene Miete oft wenigstens 30 Prozent des monatlich verfügbaren Einkommens aufwenden muss.
Praktisch gewendet bedeutet dies, dass viele grüne Wähler – immer öfter ehemalige, gut situierte CDU- und FDP-Wähler – doppelt positiv in die Zukunft blicken können. Hohes Lebenseinkommen trifft sich zunehmend mit ererbten Vermögen.
Auch wenn eine direkte Zuordnung von Erbschaften zur Parteiidentifikation derzeit datentechnisch in Deutschland noch nicht möglich ist, darf dennoch angenommen werden, dass die Wähler der Grünen besonders häufig von Erbschaften profitieren dürften. Denn die Erbengeneration umfasst relativ häufig die derzeit 40- bis 50-Jährigen sowie Menschen, deren Eltern eine gute Ausbildung genossen haben, so wie sie selbst. Und beide Merkmale treffen besonders häufig auf die Anhängerschaft der Grünen zu. Unter solchem Vorzeichen ist der erforderliche ökologische Umbau der Gesellschaft natürlich mit weniger privaten Kostensorgen verbunden.
Auf mittlere Sicht wird auch helfen, dass viele Wähler in ihren Erwartungen von den bisherigen Volksparteien konditioniert worden sind. Für sie ist das merkwürdig Unspezifische der umweltpolitischen Schritte der Grünen keineswegs befremdlich. Ganz im Gegenteil: Ihnen ist das Sanftmütige, wenn es um konkrete Umsetzungsmaßnahmen geht, bestens vertraut – von den politischen Marken, die sie zuvor favorisiert haben.
Insofern sind Zweifel angebracht, ob die Grünen wirklich ein qualitativ neues Phänomen, sozusagen die Politikwerdung des Postmaterialismus sind. Das ist gewiss die Idee, die Robert Habeck verkaufen will. Was er dabei sorgsam verschweigt, ist der folgende, oft übersehene Punkt: Materiell sind die Grünen die Partei der Globalisierungsgewinner.
Urban, international, solidarisch
Ihre Wähler haben zumeist eine gute Ausbildung genossen, bewegen sich international, sind in qualifizierten Dienstleistungsberufen tätig, pflegen einen urbanen Lebensstil und wohnen oft in den besseren, preislich faktisch abgeschotteten Stadtvierteln. In ihrer individuellen Lebensperspektive sind sie international ausgerichtet und nicht national. Dementsprechend sind für sie Landesgrenzen und der Nationalstaat, und letztlich auch die Relevanz von Staatsbürgerschaft, eher Schnee von gestern. Dem stellen sie Offenheit und internationale Solidarität gegenüber.
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Das künftige Dilemma der Grünen kommt zum Vorschein, sobald man den vielzitierten Zusammenhalt der Gesellschaft nicht nur als eine bloße Chiffre zur Selbstidentifizierung versteht, sondern das Thema finanzpolitisch konkret fasst. Was eine Gesellschaft im Kern zusammenhält, ist ein Mindestmaß an Solidarität und Organisation.
Ideeller Anspruch gegen materielle Wirklichkeit
Und gerade weil Deutschland unbedingt eine weltoffene Gesellschaft bleiben soll, erfordert dies eine klare Definition von Anspruchsberechtigten sowie eine Definition der Zahlenden. Wenn aber die Zahl der Anspruchsberechtigten durch die Praxis der Flüchtlingspolitik deutlich ansteigt, ohne dass diese selbst perspektivisch den in einer hochentwickelten Industriegesellschaft weithin erforderlichen Qualifizierungsgrad erreichen, während die Zahl der Zahlenden konstant bleibt, kommt es zu einem schwer auflösbaren Konflikt zwischen ideellem Anspruch und materieller Wirklichkeit.
Dieses grundlegende Dilemma lässt sich bei aller Neigung zum Kuddelmuddel letztlich nur in einer von zwei Weisen lösen: Entweder werden die Ansprüche an den Sozialstaat und auch ganz generell die staatliche Organisationskapazität reduziert – oder man erhöht die Beiträge der Zahlenden.
Wer die politische Leistung der Groko seit 2013 betrachtet, weiß, dass CDU/CSU und SPD eben diesem Konflikt aus dem Wege gegangen sind. Dementsprechend haben sie – siehe Deutsche Bahn, schnelles Internet, gut ausgestattete Schulen und so fort – Investitionen in die staatliche Organisationskapazität stark vernachlässigt.
Beide Parteien waren sich in ihrem desaströsen Kurs aus einem einfachen Grund einig: Sie versprachen sich aufgrund der Altersstruktur ihrer Wähler politisch jeweils etwas davon, wenn das meiste neu eingesetzte Geld in die Umverteilung – vor allem hin zu den Alten – ging. Bedenklicherweise besteht mittlerweile auch bei den Grünen diese Gefahr.
Lösungen für das Sozialstaat-Problem?
Der Zuwachs am Wählerzuspruch hat zwischen 2000 und 2016 bereits zu einem zwanzigprozentigen Anstieg des Durchschnittsalters ihrer Wähler von 40 auf 48 Jahre geführt. Insofern ist keineswegs länger auf die Grünen als die Partei zu bauen, die vorrangig die Interessen der jüngeren Generation verträte. Bislang drücken sich die Grünen nach besten Kräften darum, eine Antwort auf den Fragenkomplex der Finanzierbarkeit des Sozialstaates zu geben.
Um im Ungefähren bleiben zu können, weichen sie an genau dieser Stelle lieber in das Reich des Blumigen aus. Dabei kann jeder mittels des kleinen Einmaleins absehen, dass die „grüne Sozialwende“ mit möglichst offenen Grenzen für viele Flüchtlinge und Habecks Vorschlag für ein bedingungsloses Grundeinkommen extrem viel Geld kosten wird. Die oft propagierte Praktizierung internationaler Solidarität mit den Menschen in klimageschädigten Ländern ist da noch gar nicht eingepreist.
Klar ist nur, dass dies zum Kollaps des deutschen Sozialstaates führen würde, mit politischen Konsequenzen, die sich jeder ausmalen kann. Das wäre ein reines Konjunkturprogramm für die AfD.
Obwohl die Antwort auf diese Frage dringlich ist, hält sie so gut wie kein Journalist den Grünen vor. Dabei kann die Lösung eigentlich nur in einer von zwei Alternativen bestehen: Entweder werden die Grünen im Interesse der Gesinnungswahrung zur Besteuerungspartei der Besserverdienenden. Wenn sie das tun, treffen sie allerdings ihre neue Wählerklientel ins materielle Herz. Oder aber sie wandeln sich ganz im Gegenteil zu einer ultraliberalen Partei à la Hayek.
Der gilt zwar als erzkonservativer Ökonom, sein Ideal war aber eine Gesellschaft ohne Nation, Grenzen, Staaten und Steuern.
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