Aufmerksamkeit für Leid und Tod: Als wären wir den Menschen egal
Auf CNN sahen wir die Berichte über den Genozid in Ruanda, aber nichts geschah. Heute sehe ich Berichte vom Mittelmeer – und erneut geschieht nichts.
N eulich konnte ich nicht schlafen und scrollte gedankenverloren durch Twitter als ich den Post einer Freundin sah: 95 eritreische Menschen – darunter ein einjähriges Baby – drohten auf einem Boot vor Malta zu ertrinken. Der Motor war ausgefallen und nach und nach drang Wasser ein. Daneben ein anderes Boot mit 45 Menschen aus Libyen, dem ein ähnliches Schicksal drohte.
Der Twitter-Account postete im Stundentakt Meldungen, wie es den Menschen an Bord geht. Der erste Tweet hat nach jetzigem Stand weniger als 300 Retweets und etwas über 200 Likes. Das ist die Aufmerksamkeit die wir Schwarzen Menschen schenken, die zu ertrinken drohen.
Ich musste sofort daran denken, wie ich als fünfjähriges Kind 1994 während des Genozids mit meiner Mutter und meinen Schwestern im Hotel Mille Collines, das später als Hotel Ruanda bekannt wurde, in einem Zimmer saß, bei CNN sah, wie über den Genozid berichtet wurde – aber einfach nichts geschah. Es war, als wären wir den Menschen egal, obwohl sie wussten, was gerade passiert. Ich war mir sicher, dass auch wir nicht überleben würden. Dieses Gefühl werde ich nie vergessen.
Ich versuche mir auszumalen, was in den Köpfen der 95 Menschen vorgeht, die im Boot sind und davon ausgehen, dass sie nicht überleben werden. Wie heuchlerisch mögen sie die schwarzen Rechtecke finden, die viele in Solidarität mit Schwarzen Menschen auf Instagram gepostet haben, wenn sie an die Gleichgültigkeit denken, die ihnen seit Jahren entgegenschlägt.
Diese Leben auch!
Ich nehme mich da selbst nicht raus. Es ist unglaublich, wie bequem wir es uns gemacht haben – bis auf einige Ausnahmen wie Seawatch und ähnliche Organisationen –, während vor europäischen Außengrenzen und auf den Migrationsrouten durch Afrika regelmäßig Tausende Menschen gequält, gedemütigt und umgebracht werden. Am 18. Juni hatte das Europäische Parlament noch in Solidarität mit der Black-Lives-Matter-Bewegung getwittert, dass Rassismus keinen Platz in der EU habe. Schwarze Menschen offenbar aber auch nicht.
Ich will George Floyds Tod nicht herunterspielen, nicht diese Leben zueinander in Wert setzen. Ich weiß, dass es etliche Menschen gibt, die sich über Polizeigewalt gegen Schwarze in Amerika und anderswo empören und genauso auch darüber, dass Schwarzes Leben im Mittelmeer endet. Aber ich will nochmal deutlich sein für die, die es nicht mitkriegen wollen: These Black Lives Matter Too!
Wie fühlt es sich an, Frachter, große Fischerboote und Handelsschiffe vorbeiziehen zu sehen, während das eigene Kind auf einem Boot verdurstet und zu ertrinken droht? Wie fühlt es sich an, Notrufe abzusetzen und stundenlang ignoriert zu werden? Nach 33 Stunden wurde das Boot mit den 95 Menschen vom maltesischen Militär gerettet und das Boot mit den 45 Menschen konnte nach Stunden in Lampedusa anlegen. Gleichgültigkeit ist eine Sache. Wer den Glauben an die Menschheit endgültig verlieren will, sollte sich einige Kommentare unter den Tweets von Alarm Phone anschauen. Lachende Smileys.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott