Aufklärung und Verhütung in Westafrika: Redet endlich über Sex!

Sexualkunde steht in vielen afrikanischen Ländern nur selten auf dem Lehrplan. Ngunan Ioron Aloho besucht Schulen und spricht über das Tabuthema.

Frau mit gelbem Shirt und Basecap steht vor einer Leinwand mit unscharfen Projektionen

Wegbereiterin der Sexualaufklärung: die Juristin Ngunan Ioron Aloho Foto: Corrado Disegna/misereor

LAGOS taz | In einem kleinen Zimmer in Lagos, der größten Stadt Nigerias, sitzen knapp 20 junge Frauen und Männer und schauen gebannt auf eine Leinwand. Einige kennen den gezeigten Film schon, schockiert sind sie aber immer wieder. Im Mittelpunkt steht Ivy, ein Mädchen, das in einem Dorf aufwächst und gerne zur Schule geht. Bis ihr Vater eines Tages beschließt, den Teenager mit einem wohlhabenden alten Mann zu verheiraten. Er zahlt den Brautpreis, Ivy wird aus der Schule gerissen, von dem alten Mann missbraucht, misshandelt und vergewaltigt sowie von dessen erster Frau gedemütigt.

Geschrieben hat die Buchvorlage – ein Comic – die 26-jährige Rechtsanwältin Ngunan Ioron Aloho, die aus dem Bundessaat Benue in Zentralnigeria stammt und heute in Lagos lebt. Sie trägt schwarze Jeans und ein knallgelbes T-Shirt, auf dem die Silhouette Afrikas zu sehen ist und der Slogan „a pen, a book“ (ein Stift, ein Buch) steht.

Aloho sitzt zwischen den Zu­schaue­r*in­nen und muss anschließend zahlreiche Fragen beantworten. Es geht nicht nur um die Kinderehe, die in Nigeria weit verbreitet ist. Nahezu die Hälfte aller Mädchen wird vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet. Vor allem diskutieren die jungen Zu­schaue­r*in­nen, welche Bedeutung Bildung hat und wie diese aussehen muss, damit Mädchen bessere Chancen in ihrem Leben erhalten.

Genau dafür aber kämpft Ngunan Ioron Aloho mit ihrer vor acht Jahren gegründeten Samuel Ioron Stiftung – sie trägt den Namen ihres verstorbenen Vaters. Ein wichtiger Aspekt ist für sie, dass an Schulen und mit Schüle­r*in­nen endlich über Sexualität gesprochen wird.

Die Regelblutung: Spott, Scham und hohe Kosten

Nach dem offiziellen Teil des Abends sitzt Aloho auf einer Holzbank. Sie freut sich über die gute Resonanz und erzählt von ihrer Kampagne. In ihrer Heimatregion hat sie bis zur Coronapandemie mit Helfe­r*in­nen staatliche Schulen besucht und die ersten 63 Sets mit jeweils drei Binden verteilt. Dazu gibt es Informationen über Mens­trua­tion und Pubertät. Ihr Ziel ist es, dass die Mädchen die Binden künftig in Nähkursen selbst herstellen.

Die Regelblutung ist für sie neben Spott und Scham oft auch eine finanzielle Katastrophe. Eine Packung Damenbinden kostet in Nigeria zwischen 300 und 1.500 Naira, das sind umgerechnet 0,75 bis 3,74 Euro). Dabei beträgt der monatliche Mindestlohn in dem Land gerade einmal 30.000 Naira, also knapp 70 Euro. Ngunan Ioron Aloho erinnert sich daran, wie sie Geld von Freun­d*in­nen leihen musste, um Binden zu kaufen. Mitunter hätten Mädchen deshalb sogar ihre Kleider verkaufen müssen.

Alohos neues Projekt propagiert Menstruationstassen, von denen in den vergangenen Monaten mehr als 270 verteilt wurden. Diese kleinen Becher, meist aus medizinischem Silikon, die in die Vagina eingeführt werden, sind wiederverwendbar und können jahrelang halten, in Nigeria sind sie so gut wie unbekannt. Die Kampagne möglich machen eine US-Hilfsorganisation und ein Kredit, den Aloho für den Versand der Tassen aufgenommen hat.

In Zeiten von Corona seien die Tassen wichtiger denn je, gibt sich Ngunan Ioron Aloho überzeugt: „Viele Geschäft waren geschlossen, selbst Toilettenpapier wurde knapp“, sagt sie. Vor allem im Bundesstaat Edo, Hochburg der nigerianischen Migration, hat ihre Organisation Hygieneartikel geschickt. „Migrantinnen, die in den vergangenen Wochen zurückgekehrt sind, hatten dort gar nichts.“

Die meisten Erwachsenen predigen Abstinenz

Kaum jemand redet in dem 200 Millionen Einwohner zählenden Nigeria so offen über Menstruation, Pubertät und Sexualität wie Ngunan Ioron Aloho. Sie will diese Tabus bei ihren Schulbesuchen und Gesprächen mit Mädchen brechen. „Ich unterstütze viele Mädchen, die selbst Kinder haben“, sagt sie. Mit einer Aufklärung über sicheren Geschlechtsverkehr hätte so manche Teenagerschwangerschaft verhindert werden können, ist sich die Juristin sicher.

Werde dieses Thema dennoch einmal angesprochen, dann mit erhobenem Zeigefinger. „Den Kindern wird immer nur Abstinenz gepredigt“, sagt Aloho. Stark mache sie das nicht, kritisiert die Juristin, im Gegenteil: „Ich gehe davon aus, dass Mädchen, die das immerzu hören, Männern glauben, die ihnen sagen: Ihr könnt gar nicht schwanger werden.“ Auch deshalb sei Aufklärungsarbeit wichtig. „Je mehr Verhütungsmethoden man kennt, desto bewusster lassen sich eigene Entscheidungen treffen.“

Im westlich von Nigeria gelegenen Ghana reibt sich an dieser Frage die ganze Gesellschaft. Im vergangenen Jahr wurde dort das O3-Programm gestartet – O3 steht für „Our Rights, Our Lives, Our Future“ (unsere Rechte, unsere Leben, unsere Zukunft). Damit soll das Wissen über Sexualkunde verbessert werden. Auch Swasiland, Malawi, Tansania, Sambia und Simbabwe nehmen an dem Unesco-Programm teil.

Manche Religionsgemeinschaften üben daran massive Kritik. Sie befürchten, dass die Mädchen und Jungen bereits im Alter von sechs Jahren und damit ihrer Ansicht nach viel zu früh mit Sexualität konfrontiert werden. Auch sprechen einige von einem „satanischen Versuch“, Homosexualität fördern zu wollen.

In Ghanas Nachbarland Benin startete schon vor drei Jahren ein Programm mit dem Namen „Stärkung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit von Jugendlichen“. Dort hatte man festgestellt, dass Mädchen aufgrund von Schwangerschaften häufig weiterführende Schulen verlassen. Einer Umfrage zufolge hatten weniger als die Hälfte der Befragten zwischen 10 und 24 Jahren beim letzten Geschlechtsverkehr ein Kondom benutzt.

Ein Satz, der sie stark machte

In der ersten Projektphase stand in 140 Schulen Sexualkunde auf den Stundenplänen. Nach Angaben des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) haben bisher 160.000 Schüle­r*in­nen daran teilgenommen.

In Nigeria entschied der Nationale Bildungsrat bereits 2002, in Schulen über Familienleben und Aids zu sprechen. Tatsächlich sind es häufig nichtstaatliche Organisationen, die über Familienplanung, sexuell übertragbare Krankheiten und Pubertät informieren.

Ngunan Ioron Aloho erinnert sich an ihre Aufklärung

„Lass dich nicht von einem Mann benutzen. Stelle sicher, dass es geschützter Geschlechtsverkehr ist“

Ngunan Ioron Aloho erzählt, dass sich ihre Mutter um ihre Aufklärung und die der drei Geschwister gekümmert habe. „Ich war 15, kurz davor, die weiterführende Schule zu beenden. Meine Mutter dachte, ich sei in dem Alter, in dem ich einen ersten Freund habe“, sagt sie. Einen Satz werde sie nie vergessen. „Lass dich nicht von einem Mann benutzen. Stelle sicher, dass es geschützter Geschlechtsverkehr ist.“ Es ist der Satz, der sie stark gemacht hat, der Vertrauen schaffte und den sie an Mädchen und Frauen weitergeben will.

Verlässliche Zahlen über Missbrauch und Vergewaltigung in Nigeria gibt es nicht. Durch den Corona-Lockdown wird allerdings wie nie zuvor über Missbrauch und Vergewaltigung diskutiert. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen Unicef schätzt, dass jedes vierte Mädchen und jeder zehnte Junge sexuelle Gewalt erleben. Selbst in der eigenen Familie trauen sich viele Opfer nicht, darüber zu sprechen – für die Aktivistin Ngunan Ioron Aloho ein Zeichen fehlender Sexualkunde. „Kinder müssen sich sicher fühlen, um reden zu können.“ Stattdessen ist der Druck groß, falls sich doch ein Kind oder Teenager zu reden traut: Vor allem die eigenen Familien forderten sie zum Schweigen auf, um den Ruf nicht zu beschädigen.

Sex gilt vielerorts als Währung, im Job, an Schulen und an Universitäten. „Sex for Grades“ lautet der Titel einer im Oktober 2019 veröffentlichten Dokumentation der britischen BBC, die mit versteckter Kamera in Lagos und der ghanaischen Hauptstadt Accra gefilmt wurde. Sie zeigt, wie Studentinnen, die sich an den Hochschulen einschreiben wollen, von Dozenten sexuell belästigt werden.

Ngunan Ioron Aloho ist sich sicher: Wenn Mädchen gelernt haben, über Sexualität zu reden, wird es leichter werden, Vergewaltigungen nicht mehr stumm hinzunehmen. „Sexualkunde muss deshalb ein fester Teil des Schulcurriculums sein.“

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