Aufklärung sexuellen Missbrauchs: Verlorene Jungs
Ein Lehrer missbraucht an einer hessischen Schule über Jahrzehnte mehr als hundert Schüler. Die Behörden sehen weg. Mittwoch soll sich das ändern.
Robert Collister läuft in schnellen, ausgreifenden Schritten über den Schulhof, fast rennt er, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen ein Notebook. Der Weg kostet ihn keine Überwindung, auch wenn jeder Meter vorwärts ihn zurückbringt, dorthin, wo alles begann.
Ein paar neue Klettergerüste stehen vor den flachen Gebäuderiegeln, sonst ist alles wie früher, die Sporthalle, die Flure, der Klassenraum, in dem Erich Buß oft gleich nach dem Unterricht Schüler zu sich ans Pult zog, um ihnen in die Hose zu fassen. Den Holzschuppen, in dem er sein Moped abgestellt hatte. Er ließ die Jungen damit fahren, oder er brachte sie auf dem Rücksitz zu sich nach Hause, wo er vermutlich weit mehr als hundert Jungen sexuell missbrauchte.
Jetzt, wo Collister auf die weiße Fassade der Schule blickt, kehren all die Szenen zurück wie Gespenster. Aber er spürt keine Beklemmung. „Für mich ist das wie ’ne Therapie“, sagt er in den Rauch der Zigarette. Er hat den Eindruck, dass endlich die Wahrheit ans Licht kommt.
Es ist Sonntagmittag. Eiswind schneidet über den Pausenhof. In den kahlen Sträuchern rasselt Schokoladenpapier. Die Elly-Heuss-Knapp-Schule liegt im Südosten Darmstadts. Collister, ein großer Mann mit etwas zu langen dunklen Haaren, ist allein. Robert Collister ist nicht sein richtiger Name. Er hat oft erlebt, wie die Leute auf Distanz gehen, wenn er offenbart, dass er als Kind Opfer sexueller Gewalt wurde. Im Gehen klappt er sein Notebook auf, klickt sich durch Ordner voll Fotos, von Schulfesten, Sportturnieren. Der Lehrer Buß, umringt von Kindern, Buß, wie er Schokoküsse verteilt. Collisters Blick flattert hin und her zwischen Vergangenheit und Gegenwart. „Es geht nicht nur um den Missbrauch, es geht auch um das Schweigen“, sagt er.
Darmstadt: Wie groß das Ausmaß der Missbrauchsserie an der Elly-Heuss-Knapp-Schule in Darmstadt ist, ist bis heute schwer abzusehen. Betroffene, die sich Anfang 2013 an die Schulaufsichtsbehörden wandten, werfen den hessischen Ämtern Unwillen zur Aufklärung vor. Am 18. März treffen sich nun erstmals Missbrauchsopfer mit dem hessischen Kultusminister Alexander Lorz (CDU) und einem Landtagsabgeordneten. Die Opfer wollen eine Anlaufstelle für Betroffene.
Ober-Hambach: Wegen des Missbrauchs an der Odenwaldschule wandten sich schon 1998 Betroffene an die Schulleitung. Die Staatsanwaltschaft Darmstadt stellte 1999 die Ermittlungen jedoch ein, wegen Verjährung. Erst 2010 beauftragte die damalige Schulleiterin zwei Juristinnen mit der Aufarbeitung. Deren Bericht erschien im selben Jahr. Die Entschädigung der Opfer lief schleppend. Als 2014 bei einem Lehrer kinderpornografisches Material gefunden wurde, wurde die Leitung entlassen. 2015 versucht die Schule einen Neuanfang unter neuer Führung und mit anderem Konzept.
Wiesbaden: An der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden wurde Ende der 1980er Jahre ein Kunstlehrer des Missbrauchs an fünf Schülern überführt. Die Schulleiterin, eine bekannte Reformpädagogin, suspendierte den Täter, verzichtete aber auf eine Anklage. Später unterrichtete der Mann an einer Berufsschule in Wiesbaden. Seine Akte im Schulamt vermerkte lediglich: "unterrichtlich schwer einsetzbar".
Robert [Name geändert] ist [] ein Kind mit sehr differenzierten Reaktionen. Liebevoll, hat viel zu geben. Bedürftig. Gestern waren wir Pizza essen, mit dem Rad am Herrngarten. Sehr enger Kontakt, hautnah. Es rührt mich zutiefst. [] Der Junge ist sogar schön. (Februar 1973)
Mehr als 700 Kilometer entfernt erhebt sich irgendwo in Mecklenburg eine kleine Holzhütte neben einer Ziegenweide, durch eine Straße vom Wohnhaus getrennt. Drinnen faltet ein schlanker Mann mit grauen Haaren und Outdoorkleidung seinen Körper in einen Korbsessel. Der Verschlag ist Andreas Ratz’ „Traumazelle“, so nennt er das: Schaffelle, bunte Ölbilder, in der Ecke bullert ein Ofen. „Ich versuche, den ganzen Dreck hierzulassen“, sagt er.
Urteil: Als am 6. Juli 2005 sein Strafmaß verkündet wurde, war Erich Buß 77 Jahre alt und längst in Rente. Das Landgericht Darmstadt verurteilte ihn wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu vier Jahren Haft und ordnete die Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt an. Im Prozess ging es nur um 15 Fälle zwischen 1984 und 1995. Buß starb 2008. Der staatlichen Schulaufsicht, teilt das hessische Kultusministerium auf Anfrage mit, dürfte das Urteil gegen Buß "erst Anfang 2014 inhaltlich bekannt geworden sein" - nachdem Opfer sich 2013 gemeldet hatten.
Opfer: Ein Betroffener hatte sich Ende der 90er Jahre in einer Selbsthilfegruppe mit anderen vernetzt, die bereit waren zu klagen. Erich Buß gestand vor Gericht, zeigte jedoch keine Reue. "Strafverschärfend fiel ins Gewicht, dass der Angeklagte seine Autorität als Lehrer gezielt ausgenutzt hat", heißt es in der Urteilsbegründung.
Leben: Buß wurde 1928 als zweiter Sohn eines Schuldirektors in Roßdorf bei Darmstadt geboren. Seit 1954 arbeitete er an der Elly-Heuss-Knapp-Schule. Dort unterrichtete er ab der ersten Klasse alle Fächer außer Religion und Englisch. 1992 wurde er pensioniert.
Ratz, 52 Jahre alt, zwei Söhne, hat zweimal den Nachnamen gewechselt und lebt als Ökobauer auf dem Land. Die Vergangenheit hat ihn immer wieder eingeholt, wie vor drei Jahren, als er tagelang in der dunklen Hütte lag, mit Depressionen und Selbstmordgedanken. „Ist nicht leicht, mit einem Beschädigten wie mir leben zu müssen.“ Er lacht, nicht bitter, sondern jungenhaft.
Erich Buß, geboren 1928, war fast 40 Jahre Lehrer. Wie viele Kinder er sexuell missbraucht hat, weiß niemand. Verurteilt wurde er wegen 15 Fällen. Aus der Urteilsbegründung geht hervor, dass Buß von Mitte der 60er Jahre an bis über seine Pensionierung 1992 hinaus Kindern „in einer großen Vielzahl“ Gewalt angetan hatte. Man kann von weit mehr als hundert Opfern ausgehen. Wie strategisch er vorging, lässt sich anhand seiner Tagebücher nachvollziehen. Er hielt nicht nur seinen Alltag akribisch fest, sondern auch die Namen der Kinder, die er missbrauchte. Der taz liegen die getippten und handschriftlichen Dokumente zum Teil vor.
Mitschrift: Erich Buß hat akribisch Tagebuch geführt. Er notierte jeden Tag das Wetter und die Temperaturen. Auf Strichlisten hielt er fest, wie oft er welches Kind missbrauchte. Die Auszüge, die der taz vorliegen, sind mit der Maschine und zu einem kleineren Teil von Hand verfasst. Oft geht es um Alltägliches und sein Verhältnis zu den Jungen, mit denen er sich umgab. Er beschreibt die Lernfortschritte der Kinder, klagt über seine Einsamkeit, schwelgt in pubertären Liebesschwüren oder beschreibt die Anschaffung eines Fernsehers.
Manipulation: Nach Angaben von Opfern existierten auch andere Aufzeichnungen, in denen er explizit sexuelle Handlungen schilderte, die er den Kindern aufzwang. Viele der Schriften sind verloren, andere sollen von der Polizei beschlagnahmt worden sein. Immer wieder überließ Buß seinen Opfern Teile seiner Tagebücher - als Zeichen besonderen Vertrauens. Buß wurde zunehmend paranoider: Er verteilte Tagebücher an die Jungen auch, um die Aufzeichnungen vor dem Zugriff der Ermittlungsbehörden zu schützen.
Daraus ergibt sich das Bild eines peniblen, fast zwanghaften Mannes, der zu Selbstverklärung und Wehleidigkeit neigte. Erich Buß dokumentierte seine Taten mit der Akkuratesse eines Buchhalters.
Heute waren in bunter Reihenfolge da: Hajo (30 Min.), Roland (15 Min.), Ursula (40 Min.), Dieter F. (20 Min.), Ernst (3 Std.), Roland (1 Std.). Dazu zwei Telefonate mit Müttern: N. und Qu. (September 1970)
In einem einzigen Jahr waren seiner eigenen Statistik zufolge 1.500 Kinder bei ihm zu Gast. Zwar hat ihn das Landgericht Darmstadt 2005 zu vier Jahren Haft verurteilt. Aber der Großteil seiner Taten war lange verjährt. 2008 starb der Täter. Jetzt versuchen die Opfer noch einmal, ihre Geschichte zu Gehör zu bringen.
Eine kleine Gruppe hat sich formiert. Männer, die gemeinsam zur Schule gingen. Kinder ohne Halt, die dasselbe Trauma verbindet. Der Missbrauch brachte sie zusammen und wieder auseinander, weil sie alle andere Antworten auf eine Frage fanden: Welche Gerechtigkeit kann es für die Opfer sexueller Gewalt geben?
Einer will Rache. Einer will seinen Frieden. Einer will Anerkennung. Alle wollen, dass der Staat reagiert.
Die Elly-Heuss-Knapp-Schule ist nur 36 Kilometer von der Odenwaldschule entfernt. An dem renommierten reformpädagogischen Landerziehungsheim in Ober-Hambach wurden in den 1960er bis 1990er Jahren mindestens 132 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht. Die Täter um Schulleiter Gerold Becker wurden nie verurteilt, da die Taten als verjährt galten. Betroffene warfen den hessischen Kontrollbehörden mangelnden Aufklärungswillen vor, es seien sogar Akten verschwunden. Für beide Schulen ist dasselbe Kultusministerium zuständig.
Auch im Fall der Elly-Heuss-Knapp-Schule versuchten hessische Ämter lange, die Opfer abzuwimmeln. Gerade erst ändert sich das. Am kommenden Mittwoch wird es ein Treffen in Wiesbaden geben. Hessens Kultusminister Alexander Lorz und ein Landtagsabgeordneter wollen mit Betroffenen sprechen. Zehn Jahre nach der Verurteilung des Täters beginnt jetzt vielleicht die Aufarbeitung.
Robert Collister ist an diesem Tag zurückgekehrt in die Stadt seiner Kindheit. Er arbeitet seit ein paar Jahren als Hausmeister in Heidelberg. Jetzt ist er hier, um zu recherchieren, was genau damals geschehen ist. „Mein Hauptziel ist, Erich Buß vom Thron zu stoßen“, sagt er. Es gibt noch viele, die den Lehrer in höchsten Ehren halten.
Collister wirft seine Zigarette halb aufgeraucht weg und lässt sich hinters Steuer seines 80er-Jahre-Mercedes fallen. Die Sitze quietschen leise, aus dem Radio dudelt Jazz, leere Vorortstraßen ziehen am Fenster vorbei.
Sein Vater war GI, mit der US-Armee in Darmstadt stationiert. Bis er sechs war, lebte der Junge mit den Eltern in den USA. Dann trennten die sich, der Vater machte sich davon. Auf dem deutschen Schulhof stand Robert meist alleine. Die anderen riefen: „Ami, go home!“ Eine Lehrerin wies Buß auf den Jungen hin. Es war ja bekannt, dass der sich solcher Kinder annahm.
Nach allem, was man über das Missbrauchssystem an der Odenwaldschule weiß, traf es dort die sogenannten Jugendamtskinder besonders hart. Das Eliteinternat nahm ein Kontingent von Kindern aus zerrütteten Familien auf, für die das Jugendamt zahlte. Mit diesen Kindern hatte der pädophile Schulleiter Becker besonders leichtes Spiel, da sie keinen familiären Rückhalt genossen. Auch an der Elly-Heuss-Knapp-Schule, damals Grund- und Hauptschule, traf es vor allem Kinder aus benachteiligten Verhältnissen.
G.: Klein, schwächlich, kränklich. Intelligent. Alkohol in der Familie. A.: Schüchtern. Sieben Kinder. Waldarbeiter. Keine Freunde. St.: Milieugeschädigt, ungeordnete Verhältnisse, verwahrlost, gefährdet. S.: Kleinbürgerliche Verhältnisse. Sehr korpulent. Th.: Arbeiterkind. Kann sich nicht artikulieren. (April 1978)
Andreas Ratz hat zwei Jahre Traumatherapie hinter sich, hat gelernt, den Täterhass zu besiegen. Laut zu sagen: „Buß hat mich zwischen meinem zehnten und 14. Lebensjahr anal vergewaltigt.“ Auch ihm ist wichtig, dass nun alles rauskommt. „Dann kann ich Frieden finden und den Rest meines Lebens leben.“
Damals ist seine Mutter alleinerziehend, vier Kinder. Buß macht sich die emotionale Bedürftigkeit der Kinder zunutze.
Ein glänzender Stern ist aufgetaucht: Andreas. Ein heiles Kind, wie es scheint, mit normalen Reaktionen, sehr frei und kaum zu glauben. (August 1973)
Andreas gilt als intelligent, aber schwierig, er wechselt mehrfach die Schule. Zu Hause muss sich der Älteste um die jüngeren Geschwister kümmern. „Buß war der erste Mann, der mir wirklich zuhörte“, erinnert sich Ratz. Der Lehrer nimmt ihn auf dem Motorrad mit in den Odenwald, Wildschweine beobachten. „Mich hat er über die Natur gekriegt, bei anderen waren es Motorräder oder Literatur“, sagt er.
Robert Collister [Name geändert] darf nicht vergessen werden. Andreas R. [Nachname geändert] wäre mir lieber, aber nur für einen von beiden werde ich Zeit haben. Und Robert geht vor. (August 1973)
Die Nachmittage liefen immer gleich ab: Erst machten alle Hausaufgaben. Es gab Essen. Buß kochte Spinat, Fischstäbchen oder Kartoffeln mit Leinöl. Dann war Zeit für den Mittagsschlaf.
Buß nahm Jungen mit nach oben ins Schlafzimmer, manchmal einen, manchmal zwei oder drei. Sie waren zwischen fünf und zehn Jahre alt, wenn der Missbrauch begann. Wer brav war und das Sperma des Lehrers schluckte, bekam eine Tafel Marzipanschokolade.
Es gab stapelweise Asterix-Hefte, eine Bastelkiste, eine Carrera-Rennbahn. Bei Buß durften die Kinder viel: Kissenschlachten, nachts Filme gucken, endloses Videospielen. „Ich hatte keine normalen Freunde“, sagt Robert Collister, „alle, die ich kannte, waren involviert.“
Die Jungen machten hilflose Witze über das Geschlechtsteil des Lehrers auf dem Schulhof. „Aber wirklich geredet haben wir nicht, die Scham war zu groß“, sagt Andreas Ratz.
In den Tagebüchern finden sich viele Hinweise, dass immer wieder Zweifel an Buß aufkamen – und das es Menschen gab, die ihn deckten.
Im Juni 1964 [] kam Kollege Langner mit einer Warnung, die mich aus den höchsten Höhen herabriss ins Elend. Es geht ein Gerücht um gegen mich, ich solle mich in acht nehmen, keine Schüler einladen, keine Waldgänge mit einzelnen machen (Juli, 1964)
Im Schnitt wenden sich missbrauchte Kinder an bis zu sieben Erwachsene, bis sie Gehör finden. Andreas Ratz unternahm vier Anläufe, bevor er für Jahre verstummte. Beim ersten Mal sprach ihn seine Mutter auf die Gerüchte über Buß an. Er sagte ihr, dass sie stimmten. Nicht so schlimm, meinte sie. Beim zweiten Mal, mit 14, vertraute er sich einer Freundin an. „Du musst zur Polizei“, drängte sie. Er ging zur Direktorin. Eine Stunde habe er im Vorzimmer gewartet. „Ich habe gesagt: Ich bin von Buß missbraucht worden. Ich und andere.“ Noch jetzt kommen ihm Tränen. „Sie saß kerzengrade da und sagte kühl, dass sie das nicht ernst nehmen könne. Buß habe einiges für mich getan. Ich bin da raus, wollte heulen. Aber das konnte ich schon lange nicht mehr.“
Helga Hager leitete die Elly-Heuss-Knapp-Schule von 1973 bis 1995. Heute ist sie 80 Jahre alt. Über diese Sache spreche sie nicht so gern, sagt sie am Telefon. Buß, ein Anhänger der Reformpädagogik, wie sie an der Odenwaldschule praktiziert wurde, sei mit seiner lockeren Art bei jüngeren Kollegen beliebt gewesen. Die älteren misstrauten ihm: „Es gab diffuse Gerüchte. Aber man erfuhr nie was Genaues.“
Im Frühjahr 1974 wird Buß während einer Klassenfahrt ins Tessin mit einem Schüler beim Ladendiebstahl erwischt. Der Lehrer kommt dort sogar ins Gefängnis. Die Schulleitung weiß davon. In seiner Personalakte, die im Darmstädter Staatsarchiv liegt, sind Fehltage vom 3. bis 17. Mai vermerkt: „abwesend (in der Schweiz inhaftiert)“. Die Angaben wurden an den Schulrat übermittelt. Später verurteilten ihn die Justizbehörden in Darmstadt in der Sache zu einer Geldstrafe von 2.600 D-Mark.
Und dann? Werden die Schulbehörden aktiv? Gibt es ein Disziplinarverfahren?
Es passiert: nichts.
Ja, reichlich unkonventionell sei der Kollege gewesen, sagt Rektorin Hager. „Ich musste ihn ermahnen, keine Schüler auf seinem Motorrad mitzunehmen.“ Unvermittelt erzählt sie dann, dass sie versuchte, bestimmte Kinder aus Buß’ Klasse fernzuhalten. Ein ehemaliger Schüler, selbst nicht betroffen, sagt: „Wir wussten damals alle von den ,Neigungen‘ des Herrn Buß! Es wurde gemunkelt und auf manche Jungs hinter vorgehaltener Hand gezeigt: ’Der hat sein Mofa vom Buß bekommen.‘ “ Hager bestreitet, je einen Schüler abgewimmelt zu haben. Von der Verurteilung Buß’ habe sie erst aus der Zeitung erfahren. Hunderte Opfer? „Nein, nein“, sagt die ehemalige Schulleiterin, „das kann nicht sein.“
Sie wollen mich mal wieder zum Rektor machen. Nur daß ich diesmal nicht grundsätzlich nein sage. Ab Herbst Schulwechsel und neue Aufgabe: Fünfjährige. (April 1970)
Anton Rudolf (Name geändert) lebt nur eine Autostunde entfernt von seinem Bruder Andreas Ratz, an der polnischen Grenze. Anton, der Jüngere, der anrennt gegen das System, das den Missbrauch zuließ. Vor zwei Jahren gründete er eine Aufarbeitungs-AG, fing an, die Behörden mit Briefen zu bombardieren, erwirkte schließlich den Termin am Mittwoch in Wiesbaden.
Die Opfer fordern, dass sämtliche Jahrgänge des Lehrers Buß über den Missbrauch informiert werden und dass sich das Schulamt entschuldigt. „Wir erwarten jetzt endlich Antworten!“, schrieb Anton Rudolf im Mai 2013 in einem wütenden Brief an den Darmstädter Schulamtsdirektor.
„Anton will Rache“, sagt sein Bruder. Er selbst sagt: „Ich will ein Eingeständnis, dass das Schulsystem versagt hat.“
Anton Rudolf, 50 Jahre alt, trägt eine starke Brille und wirkt weniger selbstsicher als sein Bruder. Als Kind sah er schlecht und litt unter einem Sprachfehler. Bei ihm sei Buß nur einmal übergriffig geworden. Rudolf erzählt von der Gewalt, die sein hilflos um sich schlagender Bruder in die Familie trug. Rudolf sagt, dass auch er als Sechstklässler bei der Direktorin war und später beim Schulrat. Niemand habe ihm geglaubt. „Er hat unsere Kindheit zerstört“, sagt Rudolf über Buß.
Was genau die Behörden gewusst haben, wurde nie untersucht. Als der Lehrer wegen Missbrauchs verurteilt wird, erregt der Fall wenig Aufsehen. „Der Angeklagte brauchte seinen Opfern nur selten einzuschärfen, dass sie über die sexuellen Handlungen schweigen sollten“, steht in der Urteilsbegründung, „meist taten diese das von sich aus.“
Anton Rudolf legt einen Ordner voller Briefe und gedruckter E-Mails auf den Tisch: Korrespondenz mit dem Landesschulamt. Zunächst schreibt eine Mitarbeiterin des Leitenden Direktors, man sei „sehr betroffen“. Leider könne man im Archiv nichts mehr finden.
Später wird behauptet, das Urteil von 2005 sei nicht auffindbar, was dann zurückgenommen wird: Die Akte liegt bei der Staatsanwaltschaft Darmstadt. Die Behörde scheint selbst nicht recherchieren zu wollen. Für Anton Rudolf ist das eine Provokation. Er wendet sich ans Kultusministerium. Sie tun sich mit anderen Opfern zusammen. Vertreten werden sie von einer renommierten Anwältin, begleitet vom Betroffenenverein der Odenwaldschule, Glasbrechen e. V.
Zwei Kolleginnen aus den 80ern sitzen nördlich des Stadtzentrums in einem Wohnzimmer, umgeben von Stuck, dunklem Holz und Aquarellgemälden. Auf dem Tisch steht Mohnkuchen mit Schlagsahne. Die Pädagoginnen sagen, das Klima an der Schule sei damals bestimmt gewesen von Strenge und Autorität. „Der Erich war völlig anders. Wir sind die Nach-68er-Generation – wir waren auch anders“, sagt eine von ihnen. Beide wissen inzwischen, was Buß getan hat. Ihre Begeisterung für den Exkollegen trübt das kaum: „Er hatte einen ausgesprochen gewitzten Humor. Er war ein hoch gebildeter Mann. Und ein begnadeter Klavierspieler“, sagt eine, die Stimme hoch vor Euphorie. „Der Erich war den Schülern zu allererst ein guter Freund. Das behaupte ich jetzt mal“, stellt die andere fest. Gerade junge Frauen schien der kultivierte Linke zu beeindrucken, der Schüler duzte, sich scheinbar rührend um Sorgenkinder kümmerte und Arbeiterlieder mit der Klasse sang. Auch andere pensionierte Lehrerinnen schwärmen heute noch von seinem „Ersatzheim“.
Geliebter, halte mich, halte mich! Geliebter, du bist ein Kind. Ich darf dich gar nicht anrufen, nicht bitten. Ich habe dich schon verloren. Du bist mein letzter Halt gewesen, du hast mich leben lassen. Nun ist auch dein Platz leer, und ich bin in der Hölle. Alles um mich ist, wie es war, aber DU bist nicht mehr da. (Juli 1980)
Es gab die Vermutung, Erich Buß könne schwul sein. Aber selbst darüber, sagen die Lehrerinnen, hätte niemand offen zu reden. gewagt Auf diese Enge traf die 68er-Revolution und stellte alle Tabus infrage.
In der Urteilsbegründung von 2005 steht, Buß habe seine Neigungen nach eigener Aussage zunächst nicht ausgelebt. Dies habe sich Mitte der 60er geändert. „Er führt dies hauptsächlich auf die ,68er-Revolution‘ zurück. […] Das alles habe dazu beigetragen, gewisse Hemmungen zu verlieren.“ Buß war gut bekannt mit dem Schriftsteller Friedrich Kröhnke, dessen Werk um die Themen linke Politik und Päderastie kreist. In einem der Bücher wird Buß’ Name sogar erwähnt. Auch ein Darmstädter Judotrainer, der wegen sexueller Übergriffe auf Schüler suspendiert wurde, verkehrte in seinem Haus, wie Tagebucheinträge von 1979 belegen: „Jörg brachte einen Jungen mit, der an der Tankstelle arbeitet; er ist ständig auf der Suche nach Jungen.“
Andreas Ratz hat lange gebraucht, um Abstand zu gewinnen. „Es tat noch Jahrzehnte später weh, zu erkennen: Du warst nicht der Einzige. Anderen hat er genau das Gleiche versprochen“, sagt er. Und das Gleiche angetan.
Kolleginnen sahen einen Lehrer mit Esprit und Witz. In den Tagebüchern spiegelt sich das Wesen eines manipulativen Kontrollfreaks. Seine Gunst vergab und entzog er mit kühler Berechnung. Stets hielt er sich eine Gruppe von Jungen, die er regelmäßig missbrauchte. Wenn sie zu alt wurden oder psychisch auffällig, tauschte er sie aus.
Er raucht wie verrückt [], manchmal zwei Päckchen am Tag. Das erschreckt mich, weil es ein Symptom ist. A. ist abzuschreiben. (Februar 1978)
Zehn Jahre nach seinem letzten Vorstoß versucht Andreas Ratz noch einmal, sich aus dem System Buß zu befreien. Er ist 24, seinem Peiniger setzt er ein Ultimatum: freiwilliger Rücktritt – oder Polizei. „Ich wollte nur, dass er endlich aufhört.“ Ratz lebt da im Odenwald, ist frisch verheiratet, hat ein kleines Kind. Er erhält einen anonymen Anruf: Wenn er aussage, würden seine Frau und sein Baby sterben. Am Morgen liegt ein Schaf mit durchgeschnittener Kehle vor seiner Tür.
Für schmutzige Jobs hatte Buß Schläger. Falls Ratz, schreibt er einmal, „die Sache in letzter Konsequenz weiter verfolgen will, werde ich ihm klarmachen, dass ich nichts mehr zu verlieren habe.“ Bei seinem Bruder liege noch eine Waffe. „Nächste Woche werde ich sie mir holen. Er wird mir nicht entgehen.“
Ratz zieht weg. Bricht alle Verbindungen ab. Vor drei Jahren bekommt er wieder Depressionen, Angstzustände. „Die Flashbacks hauten mich um. Es war, als erlebte ich alles noch mal“, er fährt sich mit den Händen durchs Gesicht. Inzwischen hat er gelernt, die Bilder zu kontrollieren. Nur seine Familie bringt ihn immer wieder aus der Balance. Die Mutter, die nun am Telefon sagt: „Ich fühle mich schuldig, dass ich meine Kinder nicht besser schützen konnte.“ Sie sei selbst als Jugendliche vom Vater missbraucht worden. Schlimmer als die Taten sei die Schande gewesen – die habe sie ihren Kindern ersparen wollen.
„Ich kann längeren Kontakt mit meiner Mutter nur schwer ertragen“, sagt Andreas, auch mit seinem Bruder Anton hat er Probleme. „Wir stecken alle zu tief drin, bis heute.“
Robert Collister steuert sein Auto durch eine Straße voller Mietshäuser. Er sucht Freunde von früher, Zeugen, Verbündeten. Nicht jeder hat auf ihn gewartet. Die Spuren eines Schulfreundes verlieren sich in einem Obdachlosenheim, einer soll heroinsüchtig sein, ob er noch lebt, weiß nicht einmal seine Familie.
Manche Erinnerungen spuken Collister seit Jahren im Kopf herum. Manche kommen erst jetzt zurück. Buß, der ihm Zungenküsse aufzwingt. Sein kratziges Kinn. Wie er ihm die Nase zu hält, damit er sein Sperma schluckt. Er erträgt den Schweißgeruch fremder Männer nicht. Er kann keinen Sport treiben. Lange hält er es nirgends aus, nicht in Beziehungen, nicht in Jobs. Gerade hat er keine Wohnung, seine Sachen lagern bei der Firma, für die er arbeitet: „Das ist das Chaos, das in mir drin ist.“
Dann, es ist 18 Uhr, draußen schon dunkel, und er bemerkt, er könne den Himmel nicht sehen. Ich knipse das Licht aus [], und er reagiert mit Angst, indem er vor mir flieht. Ich lege ihm die Hände um den Hals und drücke leicht zu und sage: Wer Angst hat, reizt zum Angriff. (Oktober 1967)
Am Nachmittag bricht die Sonne durch die Wolken über Darmstadt. In Collisters Wagen wechseln Licht und Schatten. Er hält an und läuft auf ein Haus zu, in dem früher ein Freund lebte. „Der war damals mit uns auf Korsika“, sagt er. Buß vergewaltigte die zwei Jungen im Urlaub mehrmals täglich. Sie schlossen sich in der Dusche ein, sagt Collister. Sie stritten. Du bist dran. Nein, du.
Jetzt, mehr als 40 Jahre später, sucht Robert Collister nach weiteren Bruchstücken. „Auf eine Art wird die Suche nie beendet sein“, sagt er. Am Haus steht auf dem Klingelbrett noch der Name des Freundes. Collister drückt. Keine Antwort. Er versucht es noch einmal, dann hastet er zum Auto zurück. Er hat noch einige Adressen vor sich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Russland droht mit „schärfsten Reaktionen“
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Diskussion um US-Raketen
Entscheidung mit kleiner Reichweite