Aufarbeitung der NS-Zeit: In der Familie des Massenmörders
Lange ist die Großnichte des Kriegsverbrechers Hermann Göring vor ihrer Familiengeschichte davongelaufen. Nun hat sie ein Buch darüber geschrieben.
Da musste etwas raus, musste etwas geklärt werden. Das machen schon die ersten zwei Sätze von Bettina Görings Autobiografie „Der gute Onkel. Mein verdammtes deutsches Erbe“ klar. „Bettina Göring“ steht da in einer Zeile. Und dann in der nächsten kursiv gestellt „Die.“ Und etwas weiter unten: „Schublade auf. Rein mit ihr.“
Schubladendenken, damit kennt sie sich aus, schreibt die 1956 in Wiesbaden geborene Göring. Sie ist die Großnichte von Hermann Göring. Engster Vertrauter von Adolf Hitler, mitverantwortlich für die sogenannte „Endlösung“ der Judenfrage und damit für millionenfachen Mord im Nationalsozialismus. Ein Monster, ein Psychopath.
Bettina Göring, Melissa Müller: „Der gute Onkel. Mein verdammtes deutsches Erbe“. Droemer Verlag, München 2024, 416 Seiten, 25 Euro
Für Bettina Görings Familie ist er: „Der gute Onkel“. Der immer für die Familie da war und sich um alle gekümmert hat. Auch um seine drei vaterlosen Neffen. Einer von ihnen war Bettina Görings Vater, Hermann Görings Patenkind. „Alles Lüge“ giftet dessen Mutter noch 1970, fünfundzwanzig Jahre nach Kriegsende, als eine Holocaust-Dokumentation im Fernsehen gezeigt wird. Vergasungen habe es nie gegeben, und wenn, dann habe Hermann nichts davon gewusst.
Schwarz oder weiß
Schwarz oder weiß. Dazwischen gab es für Bettina Göring lange nichts. Deshalb dieses Buch. Deshalb hat Bettina Göring sich nochmals ausführlich ihrer Familiengeschichte gestellt. Auf knapp 400 Seiten. Um das „so verführerische, weil so praktische Schubladendenken“ hinter sich zu lassen, schreibt sie.
Für sie ist das – wie so oft bei autobiografischen Büchern – ein wichtiger Prozess. Und nicht nur für sie. Es ist wichtig, dass es dieses Buch gibt. Denn nicht das „Zu-viel-über-die-dunkle-deutsche-Geschichte-Reden“ ist das Problem, sondern das Schweigen darüber. Immer. Vor allem, wenn es um die eigene Familie geht.
Immer mehr Nachfahren beschäftigen sich zwar mittlerweile mit den Taten ihrer Vorgänger im Nationalsozialismus. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte bleibt jedoch meist ein blinder Fleck in der viel gelobten deutschen Erinnerungskultur.
Laut einer 2020 veröffentlichten Studie der Universität Bielefeld und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft antworteten 68 Prozent der Befragten auf die Frage, ob ihre Vorfahren unter den Tätern während der NS-Zeit gewesen waren mit „Nein“. Die Frage nach Mitläufern unter ihren Vorfahren verneinten immer noch 50 Prozent.
Auch Bettina Göring ist vor ihrem „verdammten deutschen Erbe“ lange davongelaufen. Als Jugendliche war ihr Markenzeichen ein abgewetzter Nerzmantel aus dem Nachlass ihrer Großmutter. Dass das ein Geschenk vom „guten Onkel Hermann“ war, ignorierte sie. Zu schick fühlte sie sich in dem originellen Kleidungsstück. Da war für die Schatten aus der Vergangenheit kein Platz. Dachte sie. Und merkte nicht, wie ihre Geschichte sie trotzdem vor sich hertrieb.
Psychatrie und Elektroschocks
Mit vierzehn ist sie von zu Hause weggelaufen, hat in Südamerika, in Indien, in England und in den USA gelebt. Ihr heutiger Standort ist Thailand. Zwei Mal wurde sie in psychiatrische Kliniken eingewiesen, einmal mit Elektroschocks behandelt.
In Indien schloss sie sich der Bhagwan-Bewegung an. Nach deren Umzug in die USA erlebte sie, wie sich die spirituelle Gemeinschaft in ein autoritäres System verwandelte. Inklusive Wachtürmen und Privatpolizei. Die Angst, ihre Wahlfamilie zu verlieren, ließ sie die Warnsignale lange ignorieren. Bis es zu spät war. Eine Erfahrung, die ihren Blick auf die Nazi-Verstrickungen ihrer Familie verständnisvoller machte.
Bettina Görings Buch hat etwas Manisches, Getriebenes. Mithilfe ihrer eigenen Erinnerungen, Archivmaterial und Gesprächen mit Familienmitgliedern versucht sie, ihre eigene und ihre Familiengeschichte bis ins kleinste Detail aufzudröseln.
Zeitliche Sprünge
Sie und ihre Co-Autorin Melissa Müller, die auch eine in zwanzig Sprachen übersetzte Anne-Frank-Biografie verfasst hat, haben sich für viele zeitliche Sprünge entschieden. Bis weit ins 19. Jahrhundert reichen ihre Exkurse zu Görings Familie, die sich mit Ereignissen aus Bettina Görings Leben vermischen.
Entwicklungen werden häufig nur kurz angedeutet und erst viele Seiten später ausführlich eingeordnet. Das Zusammenspiel zwischen Gegenwart und Vergangenheit ist so zwar immer präsent, die Lektüre dafür oft fordernd bis zäh.
Sie habe ihren Frieden gemacht, schreibt Bettina Göring am Ende des Buches. Dass dies kein einfacher, aber ein wichtiger Prozess war, ist dem Buch anzumerken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Der alte neue Präsident der USA
Trump, der Drachentöter
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Ärzteschaft in Deutschland
Die Götter in Weiß und ihre Lobby