Aufarbeitung der NS-Zeit: „Euthanasie“-Opfer anerkennen
Die Grünen stellen einen Antrag zur Anerkennung der Verbrechen während der NS-Zeit. Beteiligten Ärzt:innen drohten kaum Konsequenzen.
Ungefähr 300.000 Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen wurden während der NS-Zeit ermordet. Zu diesen „Euthanasie“-Opfern kommen noch 400.000 Menschen hinzu, die in Krankenhäusern oder Psychiatrien zwangssterilisiert wurden. Zur Tötung ausgewählte Patient:innen wurden meist vergast, mittels Hungerkost langsam ausgezehrt oder erhielten überdosierte Medikamente.
Wirklich anerkannt sind diese Opfer auch heute noch nicht, das Bundesentschädigungsgesetz von 1956 schließt die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisation weiter aus. Die Grüne Bundestagsfraktion will das nun ändern und hat einen entsprechenden Antrag im Bundestag gestellt und das Thema bei einem Online-Fachgespräch erläutert.
Die Anerkennung käme nun 76 Jahre nach Kriegsende reichlich spät. 2019 starb etwa mit Dorothea Buck eine selbst zwangssterilisierte Psychiatrie-Aktivistin im Alter von 102 Jahren. Doch die jüngsten Entwicklungen stimmen optimistisch: Im letzten Jahr wurden die von den Nazis als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Verfolgten als Opfer des NS-Regimes offiziell anerkannt.
Ein Gesetz, das die Euthanasie von Behinderten und psychisch Kranken zur Pflicht machte, gab es übrigens nicht. Die Ärzt:innen bewegten sich weitgehend im rechtsfreien Raum, konnten sich jedoch auf das 1934 in Kraft getretene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ berufen. „Erst 2007 wurde es vom Deutschen Bundestag geächtet, für nichtig erklärt wurde es aber bis heute nicht“, sagt Erhard Grundl, Bundestagsabgeordneter und kulturpolitischer Sprecher der Grünen.
Betroffenen wurde nicht geglaubt
Medizin und Psychiatrie hätten nach dem Krieg die Deutungshoheit darüber behalten, was während der Nazi-Jahre in ihren Kliniken passiert ist. Obwohl hunderte von Betroffenen von ihren Erlebnissen in den Psychiatrien erzählten, sei ihnen oft nicht geglaubt worden, sagt Ulrika Mientus, die an der Philipps-Universität Marburg über die Handlungsmacht der Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten promoviert.
Nachdem Betroffene ihre aus der Behandlung resultierenden Folgeleiden schilderten, seien von ihren früheren Ärzt:innen mitunter Gutachten erstellt worden, die die beschriebenen Leiden als unwahrscheinlich darstellten.
Zwangssterilisation von geistig Behinderten galt lange nicht als NS-Verbrechen, vielen Jurist:innen und Ärzt:innen sei der Schritt in den 1930er und 1940er Jahren rechtens vorgekommen. Für Mediziner:innen habe die Mitwirkung an der „Euthanasie“ in der Nachkriegszeit kein Karrierehindernis dargestellt, sagt Winfried Süß, Leiter der Abteilung „Regime des Sozialen“ am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung.
Dabei markiere die „Euthanasie“ einen Umschlagpunkt zwischen der Verfolgung und der Vernichtung von unerwünschten Personengruppen. Oft sind noch nicht mal die Gräber der Opfer bekannt und Krankenakten schon während der Nazijahre spurlos verschwunden.
Belastende Akten noch in den 90ern vernichtet
Dass das Vernichten von Akten auch noch viele Jahre später Methode hatte, erläutert Gerhard Schneider. Schneider ist Krankenhausdirektor des Bezirksklinikums Mainkofen und hat die mehr als hundertjährige Geschichte des Krankenhauses gründlich erforscht. Bereits 1945 habe man angefangen, die Krankenakten zu bereinigen. Meistens wurden die Gewichtstabellen entfernt, um zu vertuschen, dass hier Patient:innen systematisch verhungern lassen wurden, sagt Schneider.
1982 erst wurde schließlich die Vernichtung aller Akten, die Sterilisationsverfahren bezeugen, beschlossen. Angehörigen und auch dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv sagte man schon damals, dass keine Akten mehr vorhanden seien. Ab ca. 1990 sei die Vernichtung aller Krankenakten von 1869 und 1945 geplant worden, ein großer Teil davon konnte jedoch in den Kellerräumen der Kirche, ja, versteckt werden, sagt Schneider.
Damit diese systematische Geschichtstilgung nicht ungestraft bleibt, setzen sich die Grünen ferner für ein Kassationsverbot ein, das die Vernichtung von Dokumenten untersagt. Damit sei es jedoch nicht getan, meint Sibylle von Tiedemann, Koordinatorin der Gedenkinitiative für die „Euthanasie“-Opfer.
Man müsse Akten nicht nur erhalten, sondern auch kritisch hinterfragen und zu deuten wissen. Oft sei den Angehörigen nämlich mitgeteilt worden, ihre Verwandten seien an einer Lungenentzündung gestorben. Das könne auch stimmen, nur sei die Lungenentzündung eben durch überdosierte Medikamente künstlich herbeigeführt worden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen