Auf dem Land in Nicaragua: Selbst ist die Frau
Werden sie von ihren Männern mit Kindern und Hof sitzen gelassen, haben Frauen ein Problem. Oder machen daraus ein Tourismusprojekt.
Überwiegend Frauen mit mehr Einkaufstaschen als Armen, die um die wenigen vorhandenen Sitz- und Stehplätze kämpfen. Der Begriff „voll“ ist im nicaraguanischen Vokabular offen für Interpretation. Schülerinnen, die Fanta aus tröpfelnden Plastiktüten nuckeln – das ist billiger als Flaschen –, werden von korpulenten Straßenverkäuferinnen mit Riesensnackschüsseln auf dem Kopf auf die Sitzenden geschoben, um noch schnell Essbares an Frau oder Mann zu bringen. Aus dem Lautsprecher an der Decke dröhnt in maximaler Lautstärke „Escapar“ von Enrique Iglesias, doch an Flucht ist gar nicht zu denken. Nicht, wenn man auf dem Land in Nicaragua geboren ist und gerade mal wieder den wöchentlichen Großeinkauf in Estelí getätigt hat. Nicht, wenn ein Bauernhof bewirtschaftet werden will. Nicht, wenn man eine Frau ist.
Etwa 30 Kilometer von Estelí entfernt erreicht der Chicken-Bus das Naturreservat Miraflor, seit 1990 unter Schutzstatus und 254 Quadratkilometer groß, das drei Klimazonen umfasst: die untere trockene Region, die mittlere und die obere feuchte Ebene. Per Zufall habe ich von der Möglichkeit erfahren, dieses Reservat nicht nur zu besuchen, sondern dort bei einheimischen Bauern zu wohnen. Organisiert wird das Ganze von der landwirtschaftlichen Kooperative UCA in Estelí, die sich für Ökotourismus in der Region einsetzt. Ihre Ursprünge liegen im Jahr 1990, als die Bewohner der Region während des Regierungswechsels in Nicaragua die Notwendigkeit erkannten, Genossenschaften zu stärken, um unter anderem besser auf die Wirtschaftspolitik und Finanzierung von landwirtschaftlicher Produktion Einfluss nehmen zu können.
Im Märchen-Nebel-Wald
Dabei geht es nicht nur um Umweltschutz, sondern auch um das Wohl der Landbevölkerung. Besucher nutzen öffentliche Verkehrsmittel, um zum Ziel zu kommen, essen, was bei den Gastgebern auf den Tisch kommt, und können sich in den ländlichen Alltag einbringen. Oder mit einem heimischen Guide auf Tour im Reservat gehen, sei es zu Fuß oder zu Pferd.
Bald ist es, als würde der alte Schulbus in einen Märchenwald hineinfahren. Nieselregen überzieht die Fenster und Nebel verfängt sich in Bäumen, die als Barba de viejo bezeichnet werden – die Bäume des Altmannbarts. Die Assoziation der schlapp herunterhängenden Stränge mit grauen Bärten passt. Bärte, die Kühe mit Vorliebe abrupfen und sich einverleiben.
Pünktlich um 12 Uhr bin ich bei meiner Gastgeberin. „Maribel, Casa La Perla“, steht auf den Zettel gekritzelt, den ich von der UCA bekommen habe. Von der Schlammstraße, wo mich der Bus ausspuckt, laufe ich einen Schlammweg hoch und bin da. In einem kleinen Steinhaus. Bei einer Frau Ende 40 in violetter Schürze, die das schwarze Haar streng zurückgekämmt trägt und das aufrichtige Lächeln mit Lippenstift untermalt.
Kaum habe ich meinen Rucksack abgesetzt, landet ein großer Teller Gallo Pinto vor mir auf dem Tisch – das Nationalgericht Nicaraguas, Reis und rote Bohnen. Maribel und ich essen alleine, ihre Tochter Sandra, ihr Sohn und dessen Frau seien noch auf dem Feld. „Dieses Landtourismusprojekt ist eine Kooperative, die ich 1998 zusammen mit fünf anderen Frauen gegründet habe, um finanzielle Unterstützung für Frauen zu erhalten“, erzählt sie stolz. Normalerweise hätten nur Männer Geld bekommen, und ihr Mann habe sie mit sechs Kindern sitzen lassen. „Das ist normal in Nicaragua. Die Männer sind besitzergreifend, die Frauen dürfen überhaupt nichts.“
Aber sie und ihre Familie hätten auf sich selbst gesetzt – und auf den Tourismus. „Wir bauen gerade aus, haben bald Platz für 25 Personen, wie Schulklassen.“ Denn nicht nur ausländische Besucher fänden das Landleben interessant, sondern auch Stadtbewohner jeden Alters. „Seit Kurzem haben wir sogar Solarenergie dank einer Spende von 1.000 Dollar aus dem Ausland.“
Selbsthilfe Frauenpower
Doch ausländische Unterstützung bekommt Maribel nicht nur von Fremden. Ihr ältester Sohn lebe in den USA und verdiene 700 Dollar die Woche, so dass er der Familie etwas schicken könne. Maribels Blick trübt sich, als sie erzählt, dass er nie zu Besuch kommen könne, weil man ihn dann nicht zurück in die USA ließe. „Wir brauchen das Geld. Eine Kuh kostet 1.500 Dollar. Wir haben eine, die gibt aber nicht genug Milch zum Verkauf.“ Trotzdem sei es besser, auf dem Land zu leben, als in irgendeiner Fabrik in der Stadt zu arbeiten.„Das Land gibt uns, was wir zum Überleben brauchen, schenkt uns Freiheit.“
Nach dem Essen zeigt sie mir ihre Version von Freiheit. Ihr kleines Haus aus fensterlosen Zimmern mit Lehmboden, mit einem Wohnzimmer, dessen einziges Regal voller Pokale steht, daneben ein Motorrad. In der angrenzenden Küche wird mit Holz gekocht, ein riesiger Hund liegt am Herd. Draußen stehen Dusch- und Toilettenhütten. Fließendes Wasser gibt es noch nicht, jedoch einen Schlauch, der an eine Art provisorische Kanalisation hinter dem Haus angeschlossen ist.
Kurz darauf lerne ich Maribels 20-jährige Tochter Sandra kennen sowie ihren Sohn und dessen Frau, die aussieht, als wäre sie erst in der fünften Klasse. Sandra brennt darauf, mir den Hof zu zeigen. „Wir bauen Kaffee, Mais, Kartoffeln, Kohl und Bananen an.“ Es geht durch matschige Felder zum Kräutergarten ihrer Mutter, die sich auch als Medizinfrau übt.
„Ich fahre jedes Wochenende nach Managua zum Englischkurs, dann können wir uns besser mit ausländischen Touristen verständigen. Außer mir kann noch keiner in der Familie Englisch“, erzählt sie. Heiraten wolle sie nicht, die Männer in Nicaragua seien unausstehlich. „Ich versuche lieber, etwas dazuzuverdienen. Wenn ich nach Managua fahre, kaufe ich günstige Klamotten und verkaufe sie teurer an die Leute hier.“
Nachdem wir zum Hof zurückgekehrt sind, packt Sandra einen Stapel Klamotten zusammen und zieht los. Kurz vorm Abendessen kommt sie strahlend zurück und drückt ihrer Mutter ein paar Scheine in die Hand. „Das Geschäft war heute gut!“ Maribel schaut stolz von Sandra zu mir. Dass ich auch mit anpacke, erlaubt sie nicht. Ich solle meine Zeit genießen.
Frauenkooperativen
Doch obwohl ich mich auf dem Hof bald tiefenentspannt fühle, schaut mich Maribel eines Abends bekümmert an. „Manchmal mache ich mir Sorgen, dass es Leuten wie dir, die etwas anderes gewöhnt sind, hier bei uns nicht gut genug ist.“ Sofort schäme ich mich dafür, dass ich beim ersten Toilettenbesuch die Nase über die vielen Fliegen gerümpft habe. Und dafür, dass ich beim Duschen, das aus einem über den Kopf gekippten, kalten Eimer Wasser bestand, dankbar war, mich nicht ständig so waschen zu müssen. Aber wäre ich so weit gekommen wie Maribel, wenn ich seit Jahren in ihren Gummistiefeln durchs Leben gehen würde?
Gegen achtzehn Uhr werden die Frauen unruhig – es ist Zeit für die Sechs-Uhr-Seifenoper. Da entweder der kleine Schwarzweißfernseher oder das Licht laufen kann, kommt eine Kerze auf den Tisch und die Röhre wird angeschaltet. Der Serie folgen die Nachrichten, die jeden alten Mann und jedes Kind abbilden, die an diesem Tag in Nicaragua überfahren wurden. Um kurz nach sieben gehen alle ins Bett. Die Tage auf dem Land enden und beginnen früh.
Als der Morgen des Abschieds kommt und der Bus bereits aus der Ferne hupt, damit sich alle Reisewilligen bereit machen können, füllt mir Maribel noch schnell hausgemachte Guayaba-Marmelade in eine Tüte ab. Sie umarmt mich kurz und schenkt mir dasselbe herzliche Lippenstiftlächeln wie am Anfang. Dann schnappe ich meinen Rucksack und laufe zur Straße, ein wenig von Maribels Zähigkeit mit im Gepäck.
Eine weitere Bäuerin, die in Maribels Kooperative mitwirkt, ist Dora Iglesias, ebenfalls knapp 50, meine zweite Gastgeberin. Sie lebt in der unteren Zone in Los Cocos, wo es bereits fließendes Wasser gibt, wo das Haus zwei Geschosse und Fliesen hat und ich eine eigene kleine Holzhütte bekomme. Als ich aus dem Bus steige, steht Dora bereits vor der Tür, mit offenen Armen, als wäre ich eine nach langer Zeit heimgekehrte Freundin. Stolz zeigt sie mir die Hütte, deren Wände Poster zieren. Auf einem, das den ländlichen Tourismus vermarktet, ist sie selbst abgebildet. „UCA besteht aus insgesamt 12 Kooperativen, die sich um Naturschutz, Unterstützung für die Lokalbevölkerung und Ökotourismus bemühen. Vier davon drehen sich nur um Frauen.“ Ein wichtiges Ziel der Kooperativen sei es, mehr Bewusstsein für Umweltschutz in der Bevölkerung selbst zu wecken. „Ein großes Problem für uns ist die Müllentsorgung. Viele verbrennen Plastik irgendwo und sind sich nicht bewusst, wie umweltschädlich das ist. Für solche Schwierigkeiten sind wir über die Jahre sensibler geworden.“
Es gebe 45 Gemeinden mit 450 oder 500 Einwohnern und einige kleinere in Miraflor. „Mittlerweile machen etwa 70 Prozent der Familien bei unseren Kooperativen mit. Zuerst gab es Probleme, weil einige Familien neidisch auf die waren, die Touristen unterbrachten und mehr Gewinn einstrichen.“ Dann hätten viele es selbst probiert, gemerkt, dass es viel Arbeit bedeute und wieder aufgegeben.
Dora ist sich jedoch bewusst, wie viel Früchte die Kooperativen nun tragen: „Es gibt Grundschulen und weiterführende Schulen in einigen Gemeinden. In den 60ern hatten wie noch eine hohe Analphabetenrate.“ Nun sei Bildung gerade vielen jungen Menschen wichtig – man bekomme weniger Kinder und tue mehr für sich. Auch Dora hat nur zwei bereits erwachsene Kinder. „Mein Mann ist weg, in den USA“, erzählt sie beim ersten Abendessen aus Hähnchenkeulen, Reis, frittierten Bananen und Salat. „Aber ich brauche ihn auch gar nicht mehr.“
Leben statt Überleben
Bei Dora begreife ich, wie in Miraflor menschliches und naturgegebenes Kapital harmonisieren. Gerade der wachsende Landtourismus hat der Bevölkerung Finanzierungshilfen für umweltfreundlichere Landwirtschaft eingebracht und einen Markt für den Kaffee, der in der Region rund um Miraflor angebaut wird. „Es gibt viele kleine Produzenten, und dank der ausgezeichneten Qualität unseres Kaffees bekamen wir sogar das Zertifikat Flocert für gerechten Handel.“ Dies erlaube der Kooperative auch international zu verkaufen, darunter nach Deutschland, in die USA und nach England. „Wir haben viel Unterstützung aus Deutschland bekommen, sogar von Milka! Sie verkaufen einen Teil unseres Kaffees in Deutschland weiter.“
Wegzugehen kann sich Dora heute nicht mehr vorstellen. Sie sei zufrieden auf dem Land mit ihrem kleinen Hof, und die Welt komme ohnehin zu ihr. Dennoch ist sie nur fast wunschlos glücklich: „Es könnten ruhig noch mehr Menschen kommen. Und ich werde besser Englisch lernen, damit ich auch mit den Leuten sprechen kann, die kein Spanisch können.“
Als der Chicken-Bus irgendwann wieder aus der Ferne hupt, um mich einzusammeln, liegen Dora und ich uns in den Armen. Meine neue fremde Freundin, die gar nicht mehr fremd ist. Noch lange denke ich an Dora und an Maribel. An Frauen, die es im ärmsten Land Zentralamerikas geschafft haben, die ihnen ausgeteilten Karten so zu spielen, dass sie heute mit gewissem Stolz leben statt nur überleben können.
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