Nachruf auf Ernesto Cardenal: Liebeserklärung ans Universum

Ernesto Cardenal, nicaraguanischer Dichter und Befreiungstheologe, ist am Sonntag 95-jährig gestorben. Nachruf auf einen Unbequemen.

Portrait von Ernesto Cardenal vor neutralem Hintergrund.

Ernesto Cardinals Gedichte an die Revolution sind keine hölzerne Politpropaganda Foto: Jeffrey Arguedas/imago

Ob die Welt Ernesto Cardenal eher als Dichter oder eher als Revolutionär in Erinnerung behalten wird, muss die Geschichte entscheiden. Beide Identitäten sind untrennbar verbunden in dem kleinen weißhaarigen Mann, der am Sonntag im Alter von 95 Jahren in seiner Heimat Nicaragua starb.

Zu Lebzeiten war Cardenal der weltweit bekannteste Nicaraguaner. Allerdings wurde er außerhalb Nicaraguas mehr geschätzt als zu Hause, wo er im autoritär regierenden Präsidenten Daniel Ortega und dessen Frau Rosario Murillo verbissene Gegner hatte. Bittere Ironie der Geschichte, war es doch erst die publizistische Arbeit von Cardenal, die Ende der siebziger Jahre den von der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) angeführten Befreiungskampf gegen die Diktatur der Familie Somoza international bekannt machte.

Seine Botschaft, dass Christentum und marxistisch inspirierte Revolution nicht im Widerspruch zueinander stehen, ist dafür verantwortlich, dass christliche Solidaritätskreise in Deutschland und den USA den Aufstand gegen die Tyrannei und später die sandinistische Revolution unterstützten.

Der Spätberufene

Geboren im Januar 1925 in eine begüterte konservative Familie der Kolonialstadt Granada am Nicaraguasee, hatte Cardenal erst spät die Berufung zum Priesteramt vernommen. Er hatte sich als Dichter bereits einen Namen gemacht, bevor er in den sechziger Jahren in einem von Thomas Merton geleiteten US-Trappistenkloster in den Orden eintrat und sich zum Priester weihen ließ. „Noch bevor ich schreiben konnte, sprach ich Gedichte und lernte sie auswendig“, erinnerte sich Cardenal in einem Interview. Der revolutionäre Funke sprang erst bei einem Besuch in Kuba auf ihn über, wo Fidel Castro damals noch streng antiklerikal regierte. Denn anders als später in Nicaragua hatte die katholische Kirche Kubas stramm hinter der Diktatur gestanden.

Cardenal, der Poet und Priester, gründete auf dem idyllischen Solentiname-Archipel im Nicaraguasee eine christliche Gemeinde, mit der er die Bibel aus der Perspektive der sozialen Botschaft las. Die Bauernsöhne erkannten in den Pharisäern die ausbeuterischen Großgrundbesitzer und zynischen Vertreter der Diktatur. Das aus den Gesprächen mit den Inselbewohnern entstandene Kompendium wurde als „Evangelium von Solentiname“ zu einem der Schlüsselwerke der Befreiungstheologie.

Mehrere der Jünger Cardenals wollten es bei Worten nicht belassen und schlossen sich der Sandinistischen Befreiungsfront an. Bei einem militärisch aussichtslosen Überfall auf die Kaserne der Nationalgarde in der Stadt San Carlos am Ostufer des Nicaraguasees starben im Oktober 1977 zwar die meisten der Angreifer, doch gilt die Aktion als Auftakt zum Ende der Diktatur.

Flucht nach Costa Rica

Als Solentiname darauf von der Luftwaffe Somozas bombardiert wurde, musste Cardenal ins benachbarte Costa Rica fliehen, wo er wenig später Daniel Ortega traf, der durch eine Kommandoaktion mit Geiselnahme aus dem Kerker Somozas befreit worden war. Cardenal, der zu jener Zeit schon eine gewisse Bekanntheit als Dichter genoss, wurde als Botschafter der Revolution um die Welt geschickt.

Seine Gedichte an die Revolution sind keine hölzerne Polit-Propaganda, sondern Liebesgedichte an eine sozialistische Utopie, die sich leider auch in Nicaragua nicht verwirklichen sollte. Erfrischend freizügige Lyrik, wie ein Gedicht für Marylin Monroe, lässt erkennen, dass der Poet nicht immer die Mönchskutte getragen hat. Es war nur konsequent, dass Cardenal nach dem Sieg der Revolution im Juli 1979 zum Kulturminister ernannt wurde.

In dieser Funktion förderte er Dichterwerkstätten in Dörfern, bei der Polizei und selbst in der Armee. Rosario Murillo, die die Vereinigung der Sandinistischen Kunstschaffenden leitete und einen elitären Kunstbegriff, kombiniert mit strenger ideologischer Kontrolle vertrat, musste zu seiner Gegnerin werden und setzte auch durch, dass das Kulturministerium 1984 aufgelöst wurde.

Von Johannes Paul II. suspendiert

Der schroff antikommunistische Papst Johannes Paul II. hatte ihn längst als Priester suspendiert und ließ sich auch nicht erweichen, als Ernesto Cardenal im März 1983 auf die Knie fiel und seinen Segen erbat. Der Papstbesuch in Nicaragua verschärfte einen Konflikt zwischen Revolution und konservativer Amtskirche, der schließlich zugunsten der katholischen Würdenträger ausgehen sollte. Cardenal zog sich nach seiner Absetzung nach Solentiname zurück, wo er dichtete und kunstvolle Holzschnitzereien schuf. Es entstand das Großwerk „Cántico Cósmico“, eine poetische Liebeserklärung an das Universum.

Politisch trat er erst wieder an die Öffentlichkeit, als die Sandinisten 1990 abgewählt wurden und Daniel Ortega vier Jahre später eine Spaltung der FSLN provozierte. Mit den meisten Künstlern und Intellektuellen schlug sich Cardenal auf die Seite der vom Literaten Sergio Ramírez angeführten Dissidenten, die die Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS) gründeten. Jahrelang tingelte Cardenal, begleitet von der Musikgruppe Sal, alljährlich durch Deutschland und las aus seinen Werken.

Diese wurden allesamt ins Deutsche übersetzt, meist von Lutz Kliche, den eine lebenslange Freundschaft mit dem Poeten verband. Zu Hause wurde Cardenal von rachsüchtigen Anhängern des seit 2007 wieder regierenden Daniel Ortega in einen Rechtsstreit um ein Grundstück verwickelt, der ihm eine Klage auf Entschädigung von umgerechnet 725.000 Euro einbringen sollte. Verbittert und zunehmend grantig zog sich der weißhaarige Mann mit der schwarzen Baskenmütze immer mehr zurück, altersbedingt musste er auch die Europatourneen einstellen.

Seine auch in Interviews geäußerte Gegnerschaft zu Ortega geriet fast zur Obsession. 2012 wurde der 92-Jährige mit dem spanischen Reina-­Sofía-Preis ausgezeichnet, der höchsten Auszeichnung, die es für spanischsprachige Lyrik gibt. Den 2018 von Uruguay verliehenen Mario-Benedetti-Preis widmete er Álvaro Conrado, dem 15-jährigen Schüler, der im April jenes Jahres von Scharfschützen Ortegas getötet wurde, als er aufständische Studenten mit Wasser versorgen wollte. Auch dafür wird Ernesto Cardenal in Erinnerung bleiben. Vor einem Jahr hat Papst Franziskus übrigens die Sanktionen des Vatikans gegen den rebellischen Priester aufgehoben.

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