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Auf dem Einberufungsamt in Russland„Sag Julchen, dass ich sie liebe“

Die Mobilmachung in Russland reißt Familien aus ihrem gewohnten Leben. In Moskau muss so mancher ins Militärcamp – und dann wohl bald in den Krieg.

Jewgeni nimmt Abschied von seiner Frau und bestellt noch Grüße für die Tochter Foto: Inna Hartwich

Moskau taz | Timofei sitzt seit zwei Stunden hier auf der Bank. Gelb gewordene Blätter fallen auf seinen Kopf, auf seine Beine. Fast teilnahmslos wirft er sie zu Boden, raucht hin und wieder, läuft ein paar Schritte auf und ab. „Ich hab Angst um mich, um meine Freunde. Hab Angst vor dem Tod“, sagt Timofei, 23 Jahre alt ist er. Genauso alt wie sein bester Freund Robert, der nur wenige Meter weiter von Militärs und Ärzten überprüft wird, ob er geeignet ist für den Kampf. Für den Krieg in der Ukraine.

Timofei weiß, dass es ihn ebenfalls treffen könnte, auch wenn in seiner „Militärkarte“ der Vermerk „ungeeignet“ steht. „Aber wer bitte hält sich in unserem Land an irgendwelche Vermerke? Heute bin ich ungeeignet, morgen halten sie mich vielleicht schon für bestens kampferprobt.“ Er klingt resigniert. Aber weglaufen? Aus dem Land fliehen? „Ich habe doch hier alles, meine Eltern, meine Schwester, meine Freunde. Mein Leben“, sagt er und wiederholt: „Hmm, mein Leben.“ Und wird ganz still.

Das Moskauer Stadtmuseum ist seit wenigen Tagen ein sogenanntes Mobilisierungszentrum. Umfunktioniert in ein Einberufungsamt für gleich drei Stadtteile, zu passieren nur nach Polizeikontrolle samt Metalldetektoren. In Gebäude Nummer 3 stehen nun Po­li­zis­t*in­nen mit Maschinengewehren vor dem Eingang.

Drinnen tummeln sich Militärs in Tarnfleck und Männer, junge wie mittelalte, die nicht so recht zu wissen scheinen, was mit ihnen hier passiert. Ein Kriegsfilm läuft über einen Bildschirm, die Männer füllen Zettel aus, legen zahlreiche Bescheinigungen vor, verschwinden hinter Türen.

„Das ist alles ein Wahnsinn“

Draußen im kleinen Hof warten Mütter, Schwestern, Ehefrauen, Freunde. Viele von ihnen haben verweinte, bleiche Gesichter. Manche sprechen leise miteinander, andere schluchzen in ihr Smartphone. „Serjoscha ist jetzt drinnen. Ich weiß nicht, was sie mit ihm machen. Den Nachbarsjungen haben sie ja schon vor einigen Tagen gleich weggebracht. Serjoscha geht nicht ans Telefon. Uns sagt wie immer niemand etwas“, sagt eine Frau in blauer Jacke.

Hunderttausende Männer und einige Frauen haben quer durch Russland in den vergangenen Tagen eine powestka erhalten, einen Einberufungsbescheid. Nach dem Dekret von Präsident Putin vom 21. September gilt in Russland die „Teilmobilmachung“, 300.000 Re­ser­vis­t*in­nen sollen eingezogen werden. Es ist wieder ein Euphemismus, wie es auch die „militärische Spezialoperation“ ist. Alle in Russland wissen, dass die Einziehung in die Armee jeden treffen kann, egal, wie alt er ist und wie kampferprobt.

Timofei holt sich einen Kaffee, bringt auch Roberts Eltern welchen mit. Es ist kühl in Moskau. „Robert hat ihnen eine Bescheinigung von einem Psychologen vorgelegt. Er kann in so einem Zustand nicht eingezogen werden. Das ist alles ein Wahnsinn. Ein Fehler“, sagt der 23-Jährige.

Man ist sich nicht einmal selbst im Klaren, was man mit seinem Leben anfangen kann, dann kommt der Staat und nimmt dir dieses Leben. Einfach so

Timofei, 23 Jahre alt

Sie kennen sich lange, drehen zusammen Filme. Robert sei der Kopf, Timofei mache das Licht. „Man ist sich nicht einmal selbst im Klaren, was man mit seinem Leben anfangen kann, dann kommt der Staat und nimmt dir dieses Leben. Einfach so“, sagt Timofei.

Schreien, Heulen, Schluchzen

Derweil geht eine Glastür auf, ein Mann mit kurzgeschorenen Haaren stürmt auf eine Frau auf einer Bank los. „Hier, hier, schau, es steht nun drin in der Militärkarte!“, ruft er und hält ihr diese vor die Nase. Die Frau versteht nichts, lächelt gar kurz. Sie nimmt das rote Heftchen, Tränen laufen ihr übers Gesicht. In seiner Militärkarte steht: „Nach Dekret des russischen Präsidenten mobilisiert“, Stempel, Unterschrift. Verzweiflung.

Der Mann, Jewgeni heißt er, läuft mit einer Zigarette nervös hin und her, geht schließlich in die Hocke, tippt eine Nummer ins Telefon und schreit: „Waleritsch, du bist ein Verräter! Ich habe gut für dich gearbeitet, ich hätte noch weiter gern für dich gearbeitet. Warum nur hast du meinen Namen auf diese verdammte Liste fürs Einberufungsamt gesetzt? Warum? Du hast mich verraten.“

Auch ihm kommen nun die Tränen. In seinem Rucksack finden sich ein paar persönliche Sachen. Seine Frau und seine Schwester haben ihm ein Knopftelefon und eine neue SIM-Karte besorgt. Umständlich versucht Jewgeni, das Telefon einzurichten, seine Hände zittern. „Wie soll ich mit diesem Ding überhaupt umgehen? Ich habe gar nicht alle wichtigen Nummern irgendwo aufgeschrieben.“ Jewgeni blättert nervös in seiner Militärkarte, starrt den Stempel an.

Ein Angehöriger der Armee drängt ihn, mitzukommen. Jewge­ni sagt: „Es ist doch nicht wahr.“ Er nimmt seinen olivgrünen Rucksack, umarmt seine Frau. Der Militärmann ruft: „Flennt nicht rum. Es geht doch gar nicht an die Front.“ Jewge­nis Frau läuft schluchzend davon. „Sag Julchen, dass ich sie liebe“, ruft ihr Jewgeni hinterher und wird zu einem Bus gebracht.

Kurz Durchatmen. Dann weiterschauen.

Dort sitzen bereits Männer mit Rucksäcken. Einer hat einen blauen Anzug an und trägt eine Aktentasche, ein Mann im roten Sportanzug hält eine Thermos­kanne fest. Sie sollen nach Naro-Fominsk fahren, 70 Kilometer südwestlich von Moskau. Ins Militärcamp. Und danach? „Ich weiß nicht mehr“, sagt Jewgeni. „Ich wollte denen nur meine Arztbescheinigung zeigen, damit sie mich nicht einziehen.“

„Eine Arztbescheinigung. Das will auch Robert hier abgeben“, sagt Timofei und seufzt laut. Eine Stunde später steht Robert tatsächlich vor der Tür. Bleich, zitternd, das Gesicht voller Entsetzen. „Nervenzusammenbruch“ haben ihm die Ärzte bescheinigt, ihn an einen Psychiater überwiesen. Die nächste powestka ist auf den 8. Oktober ausgestellt. Roberts Eltern stützen den Sohn. Timofei sagt: „Es ist ein kurzes Durchatmen. Nun müssen wir weiterschauen.“

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18 Kommentare

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  • Hier fällt mir unwillkürlich wieder der Text von Mey/Wader/Wecker "Es ist an der Zeit" ein:



    "Auch dich haben sie schon genauso belogen



    So wie sie es mit uns heut immer noch tun



    Und du hast ihnen alles gegeben



    Deine Kraft, deine Jugend, dein Leben"

  • wer kann ...

    macht sich selbst mobil.



    mit eigenen vier rädern, so schnell, wie die kolben drehen.

    an der heimatfront wird der kreml nicht gewinnen können.

  • Werden nur die Familien in Russland aus dem normalen Leben gerissen oder auch die in der Ukraine?

  • Es ist Krieg. Teilmobilmachung bedeutet, dass sich ein Land auf den Krieg vorbereitet, entweder um anzugreifen oder um sich zu verteidigen. Ich wünschte mir die TAZ würde diese Tatsache tiefer thematisieren. Der 1. Weltkrieg und der 2. Weltkrieg begannen mit Teilmobilmachungen, diese Tatsache macht mir Angst. Ich lese hier nur rührselige Geschichten, weinende Frauen, psychische Probleme, alles weit weg in Moskau, garniert mit olivgrünen Männern , eine Reportage wie eine Schmierenkomödie, die am anderen Ende der Welt passiert. Es ist schon Krieg und er eskaliert und wir reden über Heizkosten.

    • @Pepi:

      Darf ich fragen, welche taz- Artikel Sie denn in den letzten sieben Monaten gelesen haben? Wenn es nur dieser ist/war: Das Schwerpunktdossier listet Stand jetzt 3170 Beiträge; davon befassen sich sicher auch welche mit den von Ihnen genannten Aspekten. taz.de/Schwerpunkt...Ukraine/!t5008150/

      • @hel.genug:

        Alle, nicht 1 Artikel war dabei, der aus der die Sicht der Separatisten offen legte. Nicht ein Artikel befasste sich damit ob es völkerrechtlich überhaupt geht Gebietsabtretungen durchzuführen ( Krim) ohne die Bewohner mit einzubeziehen. Dass jetzt dieser Krieg überhaupt geführt wird liegt in den Fehlern in der Vergangenheit und dass auf beiden Seiten die Nationalisten die Oberhand haben und hatten. Wenn die Ukraine die Krim wieder zurück erobern will, können Sie sich gerne freiwillig melden oder wie stellen Sie sich die Unterstützung Deutschlands dann vor?

        • @Pepi:

          Bei Ihrem zweiten Punkt bin ich mir unsicher, was genau sie meinen. Die Krim ist ja nicht abgetreten, sondern völkerrechtswidrig annektiert worden (Ich weiß, dass u.a. Frau Krone-Schmalz das anders sieht, aber sie ist nun mal Journalistin und keine Völkerrechtlerin und ja, es gibt auch Völkerrechtler, die ihre Position teilen, genauso, wie es Meteorologen gibt, die die Existenz der Klimakrise in Abrede stellen...). Die seinerzeitige "Befragung" der Krimbewohner ist völkerrechtlich gegenstandslos; einerseits, weil sie unter Militärpräsenz abgehalten wurde, und andererseits, weil das Recht auf Sezession außerhalb kolonialer Kontexte kaum noch Relevanz hat. Christian Marxsen vom Max-Planck- Institut hat dazu bereits 2014 unter dem Titel "The crimea crisis: An international law perspective" publiziert.

          Tut mit leid, die Beiträge sind etwas durcheinander geraten. Dieser hier ist der mittlere, der mit "Zur Sicht der Separatisten" der erste (der enthielt auch noch zwei weitere Beispiele; einfach mal "Puschilin" in die taz- Suchmaske eingeben) und der mit "Ihre Argumentation der Fehler in der Vergangenheit" der dritte.

        • @Pepi:

          Ihre Argumentation der Fehler der Vergangenheit hat den schönen Vorteil der Diffusität. Sie verteilt die Ursachen in ein wie auch immer geartetes Präteritum, in dem die Gewichtungen unklar werden und man sie der Einfachheit halber einfach gleichmäßig verteilt. Die Aussage "Es wurden Fehler auf beiden/allen Seiten gemacht." ist nur in seltenen Fällen falsch, aber sie erweckt den Eindruck, als seien alle Parteien gleichermaßen Schuld. Das ist hier nicht der Fall. Es ist ja Putins Russland, dass die Ukraine überfallen hat. Putin kann sich ja meinetwegen bedroht fühlen. Dann soll er das aber 1.) mit der NATO klären und nicht mit der Ukraine, denn von der wurde er sicher nicht bedroht und 2.) gibt ihm dieses Gefühl der Bedrohung nicht das Recht, einen anderen Staat zu überfallen. Darüber hinaus würde ich Sie bitten, mehr auf Begrifflichkeiten zu achten. Nationalismus (den ich ebenso verachte) ist etwas anderes als Imperialismus. Es ist ja der imperialistische Aspekt des mehr-und-am-besten-alles-haben-wollens, das zur Expansion führt und weniger das nationalistische Hauptsache-wir,-alles-andere-ist-zweitrangig- Gefühl (das natürlich auch andere Staaten affektiert, das aber ohne das imperialistische Moment in aller Regel keine expansive Konsequenz entfaltet).

          Es geht auch nicht darum, ob die Ukraine die Krim zurückerobern WILL. Es geht darum, dass die territoriale Integrität der Ukraine in den völkerrechtlich gültigen Grenzen wiederhergestellt wird. Ich glaube, die meisten Ukrainer_innen wären froh, wenn sie Krim und die heute annektierten Gebiete ohne Kampf zurückbekämen.



          Ich bin kein Soldat und spreche kein ukrainisch. Wahrscheinlich würde ich durch meine Dilletanz einen Konfliktausgang zu Ungunsten der Ukraine wahrscheinlicher machen. Deutschland kann die Ukraine unterstützen, indem es - im Rahmen des kollektiven Selbstverteidigungsrechts (Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen) - den Wünschen der Ukraine nach Waffenlieferungen nachkommt.

        • @Pepi:

          Zur Sicht der Separatisten (Auswahl ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

          >>Denis Puschilin, der Separatistenchef in Donezk, erklärte: „Die seit Langem leidende Bevölkerung des Donbass hat das Recht verdient, Teil des großartigen Landes zu sein, das sie immer als ihr Mutterland betrachtet hat.“>„Die Terroristen des ukrainischen Regimes haben versucht, Alexander Dugin zu liquidieren und haben seine Tochter in die Luft gesprengt… im Auto“, schrieb der Anführer der Separatistenhochburg Donezk, Denis Puschilin, im Nachrichtenkanal Telegram.>Der Raketenbeschuss erfolgte einen Tag nach dem Aufruf des prorussischen Separatistenführers Denis Puschilin, „von Russen gegründete russische Städte – Kiew, Tschernihiw, Poltawa, Odessa, Dnipropetrowsk, Charkiw, Saporischschja, Luzk – zu befreien“.

  • Bitte, liebe russische Bevölkerung, nehmt all euren Mut zusammen und stellt euch gegen eure aktuelle Regierung. Zeigt der Welt, das ihr nicht einverstanden seid. Und lasst uns gemeinsam einen gelungenen Friedensprozess einleiten.

    • @llorenzo:

      Vor dem Hintergrund des auf russicher Seite verbrannten Gases (taz.de/Russland-fa...-Gas-ab/!5876560/) und der extrem klimaschädlichen Wirkung des aktuell aus den Nordstreampipelines austretenden Methans möchte ich an die letzten Worte Aerys Targaryen II. "Verbrennt sie alle!" erinnern. Die Verleihung des Beinamens "Der irre König" an Putin scheint mir mehr als folgerichtig.

      • @hel.genug:

        Wenn man noch dazu bedenkt, dass Russland fast das einzige Land ist, dass durch den Klimawandel mehr landwirtschaftliche Nutzflächen gewinnt als verliert...

        Ich gehe davon aus, dass die aktive Beförderung des Klimawandels Teil von Putins Langfriststrategie ist.

        Er ist nicht irre, nur ein komplett menschenfeindlicher Soziopath.

        • @Co-Bold:

          Diese Strategie ist aber auch nur von zwölf bis Mittag gedacht. Die hinzugewonnen Agrarflächen werden irgendwann ebenso unbenutzbar werden und wenn irgendwann alle Menschen gestorben sind, dann können wir uns unsere Agrarflächen gänzlich an den Hut stecken (wo schon die Industrie und unsere ach so wichtigen Arbeitsplätze warten).

  • ...danke...berührend und erschreckend. Schrecklich.



    Wahnisnn und so real.

    • @Zeuge14:

      ja richtig, ein realer Wahnsinn



      6 Monate konnten sie jubeln und sich an der Größe ihres Reiches ergötzen.



      Das sie selbst, der einfache, nette, normale Russe von neben an die Front kommt wahr nicht geplant. Jetzt sollen auch sie in den Krieg, in den Dreck, in den Tod.



      Viel zu viel Realität für den netten Menschen von nebenan.

      • @Ramaz:

        Dasselbe betrifft aber auch diejenigen, die für immer mehr und schwerere Waffenlieferungen sind und alle, die Waffenstillstand und Verhandlungen fordern, als Feiglinge abstempeln. Vom Schreibtisch aus kann man gut Krieger sein.

      • @Ramaz:

        Ihre Schadenfreue trifft wahrscheinlich auch wieder nur die falschen.

    • 8G
      82286 (Profil gelöscht)
      @Zeuge14:

      "Wahnisnn und so real." - leider nur, weil es bei "uns" in der taz steht. Allerdings würde uns vermutlich ein Arbeitstag nicht ausreichen, um alle täglich geschehenden Verbrechen (ich meine nur die politischen) abzuarbeiten. Ich weiß nicht, an was mich dieses Bild erinnert:



      www.tagesschau.de/...1~_v-gross20x9.jpg



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