Atomkraft fünf Jahre nach Fukushima: Strahlen nach Zahlen

Die Katastrophe von Fukushima hat die Welt der Atomkraft verändert. Die Konkurrenz ist billiger, Unternehmen stehen vor der Pleite.

qualmende Ruine eines Reaktorblocks

Das AKW Fukushima Daiichi liegt in Trümmern. Die gesamte Atomkraftindustrie könnte folgen. Foto: dpa

BERLIN taz | Dieses Risiko war selbst einem Atommanager zu hoch: Lange hatte Thomas Piquemal intern gewarnt, am Montag trat der Finanzvorstand des französischen Stromkonzerns Électricité de France zurück. Der Grund: EDF, weltgrößter Betreiber von Atomkraftwerken, plant für 24 Milliarden Euro zwei neue Atomkraftwerke in Großbritannien. Piquemal will das nicht verantworten – aus finanziellen Gründen.

Denn trotz massiver Subventionen der britischen Regierung fürchten die Finanzfachleute beim umstrittenen AKW Hinkley Point C ein ökonomisches Desaster. Auch andere AKW-Neubauten in der EU hängen Jahre hinter ihren Zeitplänen zurück, sprengen alle Kostenrahmen. Das trifft für den EDF-Reaktor Flamanville in der Normandie ebenso zu wie für Olkiluoto in Finnland: Olkiluoto kostet statt der geplanten 3 Milliarden Euro inzwischen etwa 8,5 Milliarden.

Das Restrisiko für die Atomkraft steigt und steigt – auch wirtschaftlich: Fünf Jahre nach dem Dreifach-GAU von Fukushima hat sich die Lage der internationalen Atomindustrie dramatisch verschlechtert. Materialpannen und verschleierte Skandale wie jüngst im französischen Fessenheim oder in belgischen AKWs verzögern die Projekte.

Die Baukosten schießen durch die Decke, die Sanierung des Atomparks kostet allein in Frankreich etwa 100 Milliarden Euro. Die großen Atomkonzerne EDF und Areva in Frankreich und RWE und Eon in Deutschland stehen vor der Pleite.

Von neuen Projekten lassen viele Staaten die Finger

Vielerorts entstehen zwar immer noch Atomkraftwerke, aber seit Fukushima werden mehr alte Meiler ab- als neue angeschaltet.

Während die UN-Atombehörde IAEO für die nächsten Jahre noch ein Wachstum der Atomwirtschaft sieht, blickt der aktuelle „World Nuclear Industry Status Report“ weitaus kritischer auf die Realität: „Der Niedergang der Nuklearindustrie geht weiter“, verkünden die Autoren um den Atomexperten und -kritiker Mycle Schneider.

Vor seiner Aufspaltung haben milliardenschwere Abschreibungen Deutschlands größten Energiekonzern Eon tief in die roten Zahlen gerissen. 2015 verbuchte das Unternehmen einen Nettoverlust von fast sieben Milliarden Euro, wie es am Mittwoch am neuen Firmensitz in Essen mitteilte.

Eon erwartet 2016 einen Rückgang des Gewinns vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen auf 6 bis 6,5 Milliarden Euro. Hauptgrund für die Verluste waren Wertberichtigungen von insgesamt 8,8 Milliarden Euro auf die konventionellen Kraftwerke, deren Gewinnaussichten sich wegen des Preisverfalls im Stromgroßhandel durch den Ökoenergie-Boom dramatisch eingetrübt haben. 2014 hatte der Konzern ein Minus von 3,2 Milliarden Euro angehäuft.

2016 dürfte die Talfahrt sich beschleunigen. So erreichten laut Eon die Strompreise in den ersten beiden Monaten neue Tiefststände. Zudem stehe der Gaspreis unter Druck. (dpa)

Weltweit laufen demnach derzeit 391 Atomreaktoren, 47 weniger als zu den Hochzeiten der Industrie. Das globale Durchschnittsalter liegt bei fast 29 Jahren, viele US-Reaktoren sind älter als 40 Jahre. Auf 62 Baustellen entstehen neue AKWs, aber viele brauchen Jahre länger als ursprünglich vorgesehen. Was geplant war, wird langsam gebaut – von neuen Projekten jedoch lassen viele Staaten die Finger.

Global gesehen erzeugen AKW 11 Prozent des Stroms, der Anteil ist von 18 Prozent 1996 zurückgegangen. Die grüne Konkurrenz ist billiger.

Wer investiert noch in AKWs?

Weltweit flossen zwischen 2000 und 2013 laut Internationaler Energieagentur IEA 57 Prozent aller Energieinvestitionen in Erneuerbare – aber nur drei Prozent in Atomkraft.

Fukushima stürzte die Nuklearindustrie in die Krise: Als in Japan mit einem Schlag 43 Reaktoren stillgelegt wurde, gerieten auch die französischen Atomkonzerne Areva und EDF ins Trudeln, für die das Land ein wichtiger Markt war. Hinzu kamen hausgemachte Probleme, die dazu führten, dass die einstmals stolzen Weltmarktführer beim Atom inzwischen vom Staat zwangsfusioniert werden. EDF drückt eine Schuldenlast von 37 Milliarden Euro. Und auch in Deutschland brachte die schnelle Abschaltung von sieben AKWs vor allem die einstmals mächtigen vier Stromkonzerne RWE, E.on, Vattenfall und EnBw in Bedrängnis.

Weltweit laufen derzeit 391 Atomreaktoren, 47 weniger als zu den Hochzeiten der Industrie. Das globale Durchschnittsalter der Anlagen liegt bei fast 29 Jahren

Weltweit geht der Trend seit Fukushima gegen das Atom. Billiges „Fracking“-Gas in den USA drängt die AKWs vom Strommarkt in Nordamerika; nach der Wirtschaftskrise von 2008 ist der Stromverbrauch längst nicht so gewachsen wie erhofft, gibt auch die IAEO zu. Und vor allem: Seit etwa fünf Jahren fallen die Preise für Solar- und Windstrom so schnell, dass sie jeden Wettbewerb mit dem Atom gewinnen: Sie sind billiger, schneller zu bauen, sicherer, einfacher zu beherrschen, machen nicht bei Technik und Rohstoff vom Ausland abhängig.

IEA hat sich schon früher kräftig verrechnet

Eine Zukunft hat die Technik heute nur noch da, wo Regierungen die Atomwirtschaft mit viel Staatsgeld und gegen die Gesetze des Kapitalismus am Leben halten. Und selbst in diesen Ländern bremst ein Blick auf die Bilanzen die Begeisterung.

„Die Zukunft der Nuklearindustrie liegt nicht in Märkten mit hoher Konkurrenz“, sagt auch Marco Baroni, Chef der Analyseabteilung bei der atomfreundlichen IEA, gegenüber der taz. In der EU und in den USA habe Atomstrom daher einen schweren Stand, auch weil es „die Energie ist, vor der viele Leute Angst haben“. Baroni hält Länder wie China, Russland, Indien und Korea für nukleare Wachstumsmärkte. Insgesamt geht die IEA davon aus, dass sich bis 2040 weltweit die atomare Leistung von jetzt etwa 380 Gigawatt auf 600 steigert.

Aber die IEA hat sich schon früher kräftig verrechnet, etwa den Ausbau der erneuerbaren Energien unterschätzt. Und ein genauer Blick auf die Hoffnungsländer der Atomfans im „Status Report“ lässt am rosigen Bild fürs Atom zweifeln. So hat China zwar 24 Reaktoren im Bau, aber seit 2014 keine weiteren Atom-Planungen verkündet. Das Land steckte in diesem Jahr 83 Milliarden in den Ausbau von Strom aus Wasser, Wind und Sonne, aber nur 9 Milliarden in die Nukleartechnik. Das Atomprogramm ist verzögert und die Planungen für 2030 wurden weit nach unten korrigiert. Nach dem Fukushima-Schock hat China auch die Pläne auf Eis gelegt, Atomkraftwerke im Inland zu bauen, und konzentrierte sich zunächst auf Baustellen an den Küsten.

Russland wiederum betreibt zwar 34 Reaktoren und baut 9 neue, teilweise mit Verspätungen von Jahrzehnten. Das Land bietet sich als großer Exporteur seiner Atomtechnik an, aber es gebe „ernste Fragen zur Finanzierung der Exporte“, heißt es im „Status Report“. Denn für die teuren Geldspritzen zum Atomexport nach Indien, China oder Weißrussland rollt der Rubel schon lange nicht mehr: Der niedrige Ölpreis belastet die russischen Staatsfinanzen, das EU-Embargo engt den Spielraum weiter ein.

Und auch in Indien ist das Atomprogramm verzögert und bringt weniger Strom ans Netz als ursprünglich gedacht. Die Pläne gelten schon deshalb als zu optimistisch, weil die französischen und russischen Partner selbst große Probleme haben. Außerdem setzt der indische Premier Narendra Modi stark auf den Ausbau der heimischen Solarindustrie. Das verkündete er bei der Klimakonferenz von Paris im Dezember. Das Treffen endete mit einer weiteren Niederlage der Atomwirtschaft, die ihre CO2-armen Reaktoren immer wieder als Klimaretter ankündigt: Im Text des Pariser Abkommens wird die Atomenergie nicht mal erwähnt.

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