Atomares Wettrüsten: Gefährliche Symmetrie
Putins Antwort auf die von Trump angekündigten neuen Atomtests überrascht wenig. Auch Russland will die nukleare Aufrüstung wieder aufnehmen.
A nfang November versammelte der russische Präsident Wladimir Putin seine obersten Verteidigungschefs im Kreml und erteilte eine klare Anweisung: Russland werde sich darauf vorbereiten, Atomwaffentests erstmals seit mehr als drei Jahrzehnten wieder aufzunehmen, sollten die Vereinigten Staaten ihre jüngsten Signale in die Tat umsetzen. Die Anordnung kam nur Stunden, nachdem US-Präsident Donald Trump dem Pentagon befohlen hatte, das amerikanische Atomtestprogramm wieder aufzunehmen, das seit 1992 ruhte.
Putins Maßnahme zielt auf den abgelegenen arktischen Archipel Nowaja Semlja ab, einst Schauplatz sowjetischer Explosionen. Es handelt sich um eine kalkulierte Antwort, die nicht als Aggression, sondern als Symmetrie dargestellt wird. „Falls irgendein Staat mit Atomtests beginnt“, warnte Putin, „wird Russland entsprechend reagieren.“ Dieser verbale Schlagabtausch ist kein Einzelfall. Er markiert das Zerfasern der letzten Fäden, die ein neues nukleares Wettrüsten zurückhielten.
Im Zentrum steht der New-Start-Vertrag (Strategic Arms Reduction Treaty), das bilaterale Abkommen, das seit 2010 die Zahl der eingesetzten strategischen Sprengköpfe und Trägersysteme zwischen Washington und Moskau begrenzt. Unter US-Präsident Barack Obama ausgehandelt, wurde er Anfang 2021 von Präsident Joe Biden kurz vor seinem ursprünglichen Ablauf um fünf Jahre verlängert. Diese Verlängerung erkaufte Zeit bis Februar 2026, eine fragile Pause in einer Ära schwindenden Vertrauens.
Doch Russland setzte 2023 inmitten des Ukrainekriegs seine Teilnahme aus, stoppte Inspektionen und Datenaustausch, hielt sich allerdings weiter an die zahlenmäßigen Grenzen. Mit Trumps Rückkehr ins Weiße Haus und Putin unter wachsendem Druck im In- und Ausland, hängt das Überleben des Vertrags an einem seidenen Faden.
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Der Krieg beendete jegliche Kooperation
Während Trumps erster Amtszeit fixierte sich die US-Außenpolitik auf Handelsungleichgewichte mit China. Zölle auf Stahl, Aluminium und Konsumgüter beherrschten die Schlagzeilen und diplomatischen Kapazitäten – eine Strategie, die globale Lieferketten umgestalten sollte, aber tiefere strategische Bedrohungen in den Hintergrund drängte.
Russland modernisierte damals wie heute sein Arsenal unbehelligt: Einsatz hypersonischer Raketen, Ausbau der U-Boot-Flotte und Wiederbelebung apokalyptischer Projekte wie der nuklear angetriebenen Burewestnik-Marschflugkörper. New-Start-Inspektionen liefen vertragsgemäß weiter, doch substanzielle Gespräche über ein Nachfolgeabkommen stockten. Trumps Team sah den Pakt als Konzession aus der Obama-Zeit, einseitig zugunsten Russlands, da er taktische Atomwaffen oder neue Technologien nicht ansprach.
Kritiker in der Regierung plädierten für einen Ausstieg, da die Begrenzungen US-Innovation behinderten, während Moskau betrog. Diese handelszentrierte Linse erwies sich als kostspielig. Bis 2018 hatten US-Geheimdienste vor Russlands verdecktem Atomwaffenbau gewarnt, doch die Reaktion blieb Stückwerk: Es gab Sanktionen gegen Oligarchen, Cybergegenmaßnahmen, aber keinen erneuerten Rüstungskontrolldialog. Die Chance für Biden, den Tisch neu zu decken, kam zu spät.
Auf einer Plattform der Wiederherstellung von Allianzen und Multilateralismus gewählt, priorisierte er die New-Start-Verlängerung als niedrig hängende Frucht. Eine pragmatische Maßnahme, die überprüfbare Obergrenzen für Sprengköpfe sicherte, die US-amerikanischen Boden erreichen könnten – für weitere fünf Jahre. Doch die Ukraine-Invasion im Februar 2022 zerstörte jede Kooperationsillusion.
Die USA testen, also testet Russland auch
Putin berief sich auf den Krieg, um die Vertragsaussetzung zu rechtfertigen, und behauptete, die Nato-Erweiterung stelle eine existenzielle Bedrohung dar. Bidens Regierung, fokussiert auf die Bewaffnung Kyjiws und die Sammlung Europas, konnte Moskau nicht zurück an den Tisch locken. Informelle Deeskalationskanäle – Hinterzimmergespräche zur Risikoreduktion – verblassten mit steigenden Schlachtfeldverlusten.
Mit Trumps zweiter Amtszeit werden die Echos lauter. Sein Auftrag vom 29. Oktober zur Wiederaufnahme von Tests war direkt: Amerika müsse „auf Augenhöhe“ mit Russland und China konkurrieren. Er folgte einem Minuteman-III-Interkontinentalraketenstart, einem Routinemanöver, das als Signal der Entschlossenheit umfunktioniert wurde. Putin, stets Spiegelbild, hat nun Vorbereitungen für reziproke Tests freigegeben, sein Verteidigungsminister Andrei Beloussow argumentiert, Russlands nukleare Abschreckung erfordere Bereitschaft gegen jede Provokation.
Russische Experten erklären in Staatsmedien, Moskau halte in jedem erneuerten Rennen einen entscheidenden Vorteil – mit überlegenen Produktionslinien und geringeren Haushaltszwängen. Der umfassende Atomteststopp-Vertrag, von beiden Nationen unterzeichnet, aber nie voll ratifiziert, wirkt nun wie ein Relikt. Kein Land außer Nordkorea hat seit 1998 eine nukleare Vorrichtung gezündet – eine Norm, die Proliferation eindämmte und globale Sicherheit förderte. Diese Zurückhaltung bröckelt.
Das nukleare Spiel mit dem Feuer riskiert maßloses Chaos. Washington und Moskau sollten ein dringendes „Großes Abkommen“-Gipfeltreffen einberufen, co-gehostet von einem neutralen Partner wie der Schweiz. Das Ziel ist einfach: einfrieren aktueller nuklearer Einsätze im Tausch gegen ein Testmoratorium und eine einjährige Brückenverlängerung der New-Start-Grenzen.
Zurückhaltung statt Reflex
Ein solcher Deal würde die Schutzmechanismen wieder aufbauen, die bislang Katastrophen verhinderten. Putin, von Sanktionen und stockenden Fortschritten in die Enge getrieben, signalisierte Gesprächsbereitschaft bei Reziprozität. Die Alternative – eine Kaskade von Tests und ungebremste Eskalation – ist im Interesse von niemandem.
Das Atomzeitalter begann mit einem Blitz über Hiroshima, einer in die Geschichte eingravierten Warnung. Achtzig Jahre später stehen wir an einem weiteren Wendepunkt. Washington und Moskau müssen Zurückhaltung statt Reflex wählen. Die Welt kann sich kein weiteres Echo leisten.
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