Asylstreit in der Union: Das Fernduell
Merkel spricht in Berlin, Seehofer in München. Sie kaufen sich Zeit. Doch es bewegt sich nichts. Die Spaltung der Union ist längst Realität.
Für den frühen Nachmittag haben die Kontrahenten von der Union ihren Showdown angekündigt. Bis dahin tagen in München und Berlin die Vorstände von CSU und CDU schön getrennt, 600 Kilometer voneinander entfernt. In den Parteizentralen wird diskutiert, ob und wie es weitergehen könnte in der sogenannten Unionsfamilie. Wegen der Flüchtlingspolitik liegen die Altvorderen schwer über Kreuz, die Beziehung steht kurz vor der Scheidung. Kommt es zum Bruch, muss entweder die Regierung umgebildet werden. Oder es gibt Neuwahlen – mit ungewissem Ausgang.
Die Antwort auf die Frage, wer am Ende als Gewinner vom Platz geht, bedeutet mithin viel für die demokratische, die humanistische Verfasstheit der Bundesrepublik. Und dass Angela Merkels CDU in dieser Auseinandersetzung die Rolle des Hüters der Humanität zukommt, sagt eine Menge darüber aus, an welchem Punkt Deutschland in diesem Sommer 2018 angelangt ist.
Eine Drohung steht im Raum: die Richtlinienkompetenz
Stunden später ist klar: Nichts ist gut. Angela Merkel hat in Berlin freundlich, aber bestimmt ihre politische Führungsrolle betont. Sie spricht von ihrer Richtlinienkompetenz als Bundeskanzlerin und markiert damit die rote Linie, die Horst Seehofer besser nicht überschreiten sollte: „Wenn die Maßnahme – gemeint ist eine einseitige Zurückweisung – in Kraft gesetzt wird, dann, würde ich sagen, ist das eine Frage der Richtlinienkompetenz“, so lautet der Schlüsselsatz. Der CSU-Chef und Bundesinnenminister hingegen gibt seiner Regierungschefin gnädigerweise Zeit bis Ende Juni, um über eine europäische Lösung zu verhandeln.14 Tage sind das bloß. Indes, verkündet Seehofer in München, bereite er die von ihm im Alleingang angekündigten Zurückweisungen bestimmter Flüchtlinge an der deutschen Grenze schon mal vor.
Da haben sich zwei Zeit erkauft bis zum nächsten großen Knall. Mehr ist es erst einmal nicht. Schon gar kein Sieg.
„Unionsstreit“ ist ein Oxymoron, das so alt ist wie die Zusammenarbeit der C-Parteien. Oft und gern wurde die Geschichte vom Kreuther Geist bemüht: 1976 war es, als die CSU unter ihrem Langzeitvorsitzenden Franz Josef Strauß die Fraktionsgemeinschaft mit der Schwesterpartei aufkündigte. So laut hatte der bayerische Löwe zuvor nie gebrüllt. Fazit: Ganze drei Wochen blieb die CSU in ihrem Schmollwinkel, dann wurde der Trennungsbeschluss aufgehoben. 42 Jahre ist das jetzt her. Immer wieder poltert die CSU seither gegen „die da oben“ in Bonn und später in Berlin. Immer wieder gingen die Straußens, Stoibers und Seehofers dabei an die Schmerzgrenze – ohne jedoch jemals die Zusammenarbeit in ihren Grundfesten wirklich infrage zu stellen.
Thüringens CDU-Chef Mike Mohring
In den vergangenen drei Jahren nun erhob Seehofer die Obergrenze bei Asylbewerbern zum Heiligen Gral, der die Spannungen zwischen den Partnern verstärkte. Es gibt da eine Szene, die zum Sinnbild dieser Auseinandersetzung zwischen Seehofer und Merkel wurde: Als Seehofer beim CSU-Parteitag 2015 seinen Gast Merkel auf offener Bühne abkanzelte, bis sie die Halle schließlich fluchtartig verließ. Und selbst damals hieß es noch: Denkt an Strauß und Helmut Kohl, die hatten ein noch viel mieseres Verhältnis miteinander.
Warum die CSU immer unberechenbarer wird
Dass sich an diesem 18. Juni aber niemand traut, die Zweifel am Fortbestand der Koalition zu beseitigen, liegt auch daran, dass sich bei der CSU in den letzten Monaten viel verändert hat. Unberechenbar war die bayerische Partei schon immer, so unberechenbar wie derzeit vielleicht aber noch nie. In der Partei sind Protagonisten am Werk, die äußerlich zwar an einem Strang ziehen, aber doch jeder eine eigene Agenda verfolgen. Alle sind sie dabei Antreiber – und zugleich Getriebene.
Da wäre Parteichef Horst Seehofer, der 68-Jährige, der sich eigentlich nichts mehr zu beweisen braucht, der aber seit seinem unfreiwilligen Abschied aus der Münchner Staatskanzlei den Anschein macht, als wolle er gerade das: es allen noch mal zeigen. Sein Gebaren wirkt zunehmend irrational. Deutlich einfacher zu ergründen ist hingegen die Motivlage bei Seehofers ewigem Rivalen und Nachfolger als Ministerpräsident, Markus Söder. Der hat genau ein Ziel im Blick: die Landtagswahl im Oktober. Den Atem der AfD spürt der CSU-Spitzenkandidat im Nacken, seine Reflexe fallen zumeist rechtspopulistisch aus. Die AfD droht die absolute Mehrheit der CSU zu zertrümmern – das darf nicht sein.
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt seinerseits, der selbsternannte konservative Revolutionär, teilt zwar die politische Grundüberzeugung, hat dabei jedoch seine eigene Karriere im Blick. Dazu gehört zunächst eine erfolgreiche Profilierung auf der Berliner Bühne, mittelfristig dürfte der 48-Jährige jedoch nach Meinung vieler Beobachter auch auf den CSU-Vorsitz schielen.
Dann gibt es da noch Leute wie Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, der schon in den vergangenen Jahren als Generalsekretär nie davor zurückschreckte, die Stimmung gegen Angela Merkel anzuheizen, sowie dessen Nachfolger Markus Blume. Der neue Wadenbeißer der CSU galt lange als eines der ruhigeren Gemüter der Partei. Doch in der neuen Rolle versucht sich der Mann gerade mit besonders markigen Sprüchen hervorzutun. „Wer hier falsch abbiegt, versündigt sich an unserem Land“, attackierte er zuletzt Kritiker von Seehofers Asylplänen.
Der „Masterplan“, den keiner kennt
Beim jetzigen Zwist hat sich der Streit zwischen Merkel und der CSU an einem von 63 Punkten von Seehofers „Masterplan“ zur Asylpolitik verhakt. Der Bundesinnenminister will Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, künftig direkt an der Grenze zurückschicken. Die Kanzlerin indes besteht auf einer europäischen Lösung der Frage.
Eine traurige Pointe dieses Plans ist, dass ihn bislang kaum jemand kennt – außer Merkel und Seehofer. Entsprechend schwierig ist es für die CDU-Vorsitzende, ihre Leute von der grundsätzlichen Sinnhaftigkeit des Streits mit der CSU zu überzeugen. Während der stundenlangen Sitzung hinter den verschlossenen Türen des Berliner Konrad-Adenauer-Hauses schafft Merkel es dennoch, Präsidium und Vorstand auf ihre Seite zu ziehen.
Als gegen ein Uhr, gut eine Stunde vor Beginn der Pressekonferenz, die ersten Vorstandsmitglieder das Haus am Tiergarten verlassen, verbreitet Thüringens Landeschef Mike Mohring Zuversicht. Am 1. Juli werde sich der CDU-Vorstand erneut treffen, sagt er den wartenden JournalistInnen, also gleich nach dem EU-Gipfel. Dann soll beraten werden, wie weit man mit den angestrebten EU-Rückführungsabkommen gekommen sei.
Mohring beklagt, dass auch im Vorstand niemand Horst Seehofers „Masterplan“ kenne. „Mehr Transparenz hätte dem Verfahren gutgetan“, sagt er. Niemand außer Merkel habe bei der Beratung im Adenauer-Haus das Papier gekannt. „Alle die, die Seehofer unterstützen würden, würden gern wissen, was Seehofer vorschlägt. Das gehört zu einer guten Partnerschaft dazu.“ Ob das nicht demütigend sei für die politischen Entscheider dieses Landes, wird er gefragt. Mohring schaut zu Boden, lächelt sein bescheidenstes Lächeln. „Demütigend nicht. Aber bedauerlich.“ Sie sind recht höflich bei der CDU.
Merkel: Kein Automatismus. Seehofer: Doch Automatismus
Aus dem Vorstand war zuvor herausgesickert, dass die CDU – anders als die CSU – auch im Fall einer Einigung beim EU-Rat keinen Automatismus für die Zurückweisung von Geflüchteten akzeptieren werde. Man habe diese Frage aber nicht zur Abstimmung gestellt, die Haltung des Gremiums sei – bis auf ein, zwei Leute – auch so deutlich gewesen. Für Merkel hätten NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, Hessens Regierungschef Volker Bouffier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen gesprochen. Unionsfraktionschef Volker Kauder – nebenbei auch der Chef der CSU-Abgeordneten im Bundestag – redet seinen Leuten ins Gewissen. Die Union dürfe nicht den Eindruck erwecken, dass sie sich das, was in einigen europäischen Hauptstädten gerade zum Maßstab gemacht werde, zu eigen mache.
Um 14.10 Uhr öffnet sich die Seitentür zum Foyer des Konrad-Adenauer-Hauses. Angela Merkel tritt ans Sprecherpult. Sie sieht gar nicht so müde und angespannt aus, wie es der Situation entspräche. Routiniert fummelt sie an den Mikrofonen herum.
Erst einmal betont sie das Gemeinsame mit der CSU. Man habe die Absicht, Migration zu ordnen und zu steuern und zu verhindern, dass „so etwas wie 2015 sich nicht wiederholen kann und wird“. Die CDU unterstütze den Bundesinnenminister dabei, zusätzlich einen „Masterplan Migration“ vorzulegen. Aber auch dieses Vorhaben unterliege gewissen Bedingungen. Für ihre Gespräche mit anderen europäischen Regierungen brauche sie, Merkel, eine handlungsfähige Bundesregierung und ein starkes Verhandlungsmandat. „Das habe ich heute von der CDU bekommen.“
Doch genau das ist der Haken: Eine Regierungschefin braucht das Mandat ihres Kabinetts – genau das aber kann sie auch an diesem Montagnachmittag nicht vorweisen. Stattdessen also der Verweis auf ihre Richtlinienkompetenz.
In München zündelt Horst Seehofer seelenruhig weiter. CDU und CSU, sagt er, seien in ihrem Flüchtlingsstreit „noch längst nicht über den Berg“. Er bedauere sehr, dass die Frist von zwei Wochen für so viel Faszination sorge. Eigentlich nämlich gehe es „nur vordergründig“ um diese zwei Wochen – „in der Substanz“ gehe es um die grundlegenden Fragen des Streits. Das ist nichts weniger als eine Drohung: Wir schießen – aber noch nicht jetzt.
Horst Seehofer könnte tatsächlich in Kauf nehmen, sich für Scheuer, Söder und Dobrindt feuern zu lassen. Als eine Art Menschenopfer, mit dem die CSU daheim in Bayern in den Landtagswahlkampf ziehen könnte. Im politischen Berlin wird bereits gescherzt, Seehofer rechne in diesem Fall fest mit einem Denkmal vor der Münchner Staatskanzlei.
Richtlinienkompetenz? Nie gehört
In München lässt der CSU-Chef und Bundesinnenminister das entsprechende Beschlusspapier an die Journalisten verteilen, in dem das Parteigremium dem Vorsitzenden demonstrativ den Rücken stärkt. Man begrüße und unterstütze zwar alle Bemühungen für eine europäische Lösung. Sollten aber auf EU-Ebene keine „wirkungsadäquaten“ Ergebnisse erreicht werden, solle Deutschland im Alleingang Flüchtlinge an der Grenze zurückweisen. Mit sofortiger Wirkung würden bereits Asylsuchende zurückgewiesen, für die eine Wiedereinreisesperre angeordnet worden ist. Im Grunde sei es ein „Skandal“, dass dies heute noch nicht der Fall sei.
Dreißig Wortmeldungen habe es in der Sitzung gegeben, erzählt Seehofer dann bei der Pressekonferenz. „Intensiv und tief“ habe man diskutiert mit einem „sehr, sehr einstimmigen“ Ergebnis. „Nicht den Hauch eines Widerspruchs“ habe es gegeben, als er mündlich seinen Masterplan vorgestellt habe. „Dieser Plan ist so was wie ein Leitfaden für die Arbeit des Bundesinnenministers.“ Seine Grundlage seien der Koalitionsvertrag, aber auch die vielen Punkte, die er während der ersten Wochen im Amt auf den Tisch bekommen habe. Dass der Vorstand einer Regionalpartei einem Bundesminister Handlungsanweisungen gibt, scheint bei der CSU niemanden zu irritieren.
„Wir haben die ganze Thematik Migration noch nicht wirklich im Griff“, schimpft der CSU-Chef. Die Spannungen mit der Schwesterpartei will er dabei nicht kleinreden. Schließlich lehne die CDU-Spitze einen nationalen Alleingang bei der Zurückweisung von Flüchtlingen grundsätzlich ab. „Es geht auch um die Glaubwürdigkeit meiner Partei.“ Sprich: Man müsse die Zurückweisungen dann auch umsetzen, wenn es zu keiner Einigung auf EU-Ebene komme. „Das darf nicht nach zwei Wochen zu den Akten gelegt werden.“
Zuvor wolle er aber noch mit Merkel sprechen, das sei eine Frage des Stils. Dass die Kanzlerin zur gleichen Zeit in Berlin noch einmal ihre Richtlinienkompetenz unterstreicht, lässt den Minister unbeeindruckt. „Mir gegenüber hat sie nicht mit der Richtlinienkompetenz gewedelt.“
Auf die Frage, wie groß er die Chancen für eine Einigung auf EU-Ebene beurteile, antwortet der CSU-Chef schließlich gewohnt seehoferisch-sibyllinisch: „Sehr groß – jedenfalls auf meiner Seite.“ Die verwirrten Journalisten verlässt er dann gut gelaunt: „Jetzt haben wir noch die Sitzung der CSU-Bundestagsabgeordneten, und dann fahre ich wieder in die wunderschöne Bundeshauptstadt Berlin.“
Am Ende dieses Tages schaut man noch einmal zurück auf dessen Anfang. Hatte da, morgens um halb neun, nicht noch die demokratische Verfasstheit dieser Regierung zur Disposition gestanden? Ja. Stand der Rückzug der Kanzlerin zur Debatte? Auch. Und, was ist rausgekommen beim Familienstreit?
Ein bisschen Zeit, viel politisches Aufplustern, maximale Forderungen mit wenig Aussicht auf Erfüllung. Das Land, es bleibt in der Schwebe. Die Unterminierung des Rechtsstaats geht weiter ihren Gang. Die Spaltung Europas wird größer. In Berlin zanken sich zwei Regierungsparteien bis aufs Messer. Der dritte Koalitionspartner, die SPD, kommt am Ende des Tages auf die Idee, auch noch einen Koalitionsgipfel zu verlangen – und das innerhalb der 14-Tage-Frist Seehofers.
Da mag man auf den irren Gedanken verfallen, Bundeskanzlerin Angela Merkel aufrichtig zu bedauern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“