Asylrecht in der Europäischen Union: Alle roten Linien überschritten
Das Europäische Asylsystem wurde in den letzten 15 Jahren immer rigider, je länger daran geschraubt wurde. Eine Chronologie der Härte.
Die Einigung der EU auf das neue Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) sei „dringend notwendig“ gewesen, schrieb Außenministerin Annalena Baerbock am Mittwoch auf X. „Humanität und Ordnung sind dafür die Leitplanken.“
Dabei hatte der EU-Rat unter Führung Spaniens während der am vergangenen Montag gestarteten letzten Runde der Verhandlungen zum GEAS alle menschenrechtlichen roten Linien eingerissen, die die Grünen gezogen hatten.
Vorgesehen sind nun Haftlager mit zehntausenden Plätzen an den Außengrenzen, Schnellverfahren ohne Ausnahmen für Minderjährige, Abschiebung ohne Antragsprüfung in Drittstaaten und die „Fiktion der Nichteinreise“, die die Rechtsmittel Ankommender beschneidet. Zehn Einzelgesetze sollen Asyl-Ablehnungen und Abschiebungen leichter machen und Flüchtlinge abschrecken.
Die Verhandlungen hatten sich über Jahre hingezogen. Je länger sie andauerten, umso härter wurden die Pläne für den Umgang mit den Ankommenden. Ein Rückblick:
2008
Im „Stockholmer Programm“ verpflichtet sich die EU, ihr Asylsystem zu harmonisieren.
Dezember 2012
Wie eine „grausame Lotterie für die Flüchtlinge“ sei das Asylsystem in der EU, sagt EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström. Das GEAS soll Vereinheitlichung und Lastenteilung bringen.
Juni 2013
Das EU-Parlament beschließt das erste GEAS. Malmström hatte weitreichende Verbesserungen vorgeschlagen, konnte aber nur wenig gegen Großbritannien, Frankreich und Deutschland durchsetzen. „Mit allem, was als ‚Pull-Faktor‘ gilt, also Flüchtlinge anziehen könnte, kamen wir bei den Mitgliedstaaten nicht durch“, sagt ein Brüsseler Diplomat. Asylbewerber sollen aber künftig überall in der EU gleiche Bedingungen zu Verfahren, Versorgung und die Chance auf Anerkennung vorfinden. Einen Verteilmechanismus gibt es nicht.
Oktober 2013
Nach Schiffskatastrophen mit Hunderten von Toten bekräftigen Griechenland und Italien ihre Forderung nach der Umverteilung von Ankommenden. „Dublin II“ – die Regelung, laut der immer der Staat der Ankunft für Flüchtlinge zuständig ist, habe sich „bewährt“ und bleibe „selbstverständlich erhalten“, entgegnet der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich von der CSU.
Oktober 2014
Deutschland ändert seine Meinung: „Wir müssen uns verständigen auf Aufnahmequoten, etwa nach Einwohnern“, sagt Innenminister Thomas de Maizière (CDU). Weil Italien, Griechenland und andere nun die Dublin-Regeln unterlaufen und Ankommende einfach weiterschicken, stellen immer mehr Menschen in Deutschland einen Antrag. Mitte 2014 wurde EU-weit jeder dritte Asylantrag in Deutschland gestellt. Deutschland profitiert nicht mehr von Dublin – und entdeckt auf einmal die Nachteile des angeblich „bewährten“ Systems.
April/Mai 2016
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Das EU-Parlament fordert eine grundlegende Neuordnung der Asylpolitik und Umverteilung. Die EU-Kommission schlägt eine Reform des GEAS vor: Über einen „Fairness-Mechanismus“ sollen andere EU-Staaten Ländern wie Italien und Griechenland Flüchtlinge abnehmen. Wenn sich ein Land weigert, soll es 250.000 Euro pro Flüchtling zahlen, den es eigentlich hätte aufnehmen müssen. „Man kann sich nicht herauspicken, wann man solidarisch ist und wann nicht,“ sagt Kommissionsvize Frans Timmermans. Er frage sich, ob die Kommission „das wirklich ernst meint“, sagt Polens Außenminister Witold Waszczykowski. Sein tschechischer Kollege Lubomír Zaorálek spricht von einer „unangenehmen Überraschung“, Ungarns Außenminister Péter Szijjártó von „Erpressung“.
2018
CSU-Innenminister Horst Seehofer schlägt Asylverfahren in geschlossenen Lagern an den Außengrenzen vor. Die Grünen Annalena Baerbock und Claudia Roth kritisieren den Vorschlag heftig. Im Partei- und im Wahlprogramm für die EU-Wahl 2019 lehnen die Grünen die Idee ab.
Juli 2020
Deutschland übernimmt die EU-Ratspräsidentschaft. Seehofer erneuert seinen Vorschlag: „Offensichtlich unbegründete oder unzulässige Anträge müssen an den Außengrenzen sofort zurückgewiesen werden, und dem Antragsteller darf die Einreise in die EU nicht gestattet werden“, heißt es aus seinem Ministerium. Personen aus „sicheren Drittstaaten“ solle die Einreise verweigert werden. Die Union macht Druck auf die EU-Kommission. „Für ein gemeinsames europäisches Asylsystem, das diesen Namen auch verdient“, sagt der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Mathias Middelberg.
September 2020
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellt den „Migrationspakt“ vor. Zentraler Punkt: Schnellverfahren in Internierungslagern an den Außengrenzen. Sie sollen nach dem Willen der Kommission Kern der GEAS-Reform sein.
Dezember 2020
Deutschlands Ratspräsidentschaft endet ohne Einigung. Griechenland und Italien hatten auf einen Verteilmechanismus bestanden. Länder wie Ungarn oder Polen waren dagegen.
2021
In der Ägäis gehen Hochsicherheitslager, sogenannte Closed Control Access Center, in Betrieb. Weite Teile des Schnellverfahren-Konzepts werden hier in Pilotprojekten angewandt.
Januar 2023
Die Kommission präsentiert eine „Instrumentalisierungsverordnung“. Sie soll Ländern ermöglichen, die Rechte von Flüchtlingen einzuschränken, wenn diese von feindlichen Nachbarstaaten geschickt werden. Deutschland lehnt wegen menschenrechtlicher Bedenken ab.
Juni 2023
Deutschland stimmt den Kommissionsvorschlägen für Schnellverfahren an den Außengrenzen zu. Der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour behauptet, im Gegenzug werde ein „verbindlicher Verteilmechanismus“ eingeführt. Der ist aber nicht vorgesehen. Die Grünen wollen Minderjährige von der Inhaftierung ausnehmen.
Dezember 2023
In der letzten GEAS-Verhandlungsrunde streicht die spanische Ratspräsidentschaft die Ausnahmen für Minderjährige. Einen echten Verteilmechanismus sehen Regeln nicht vor. Am Morgen des 19. Dezember meldet der Rat den Abschluss der Verhandlungen. Deutschland stimmt zu.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies