Arne Semsrott über seine Anklage: „Es fehlt eine Abwägung mit der Pressefreiheit“
Gegen „FragDenStaat“-Chef Arne Semsrott laufen bei der Staatsanwaltschaft Berlin Ermittlungen. Er leakte Gerichtsakten zur Letzten Generation.
taz: Herr Semsrott, die Berliner Staatsanwaltschaft hat gegen Sie kürzlich Anklage erhoben, weil Sie drei Dokumente aus einem laufenden Verfahren veröffentlicht haben. Ist Ihr Informationsfreiheits-Portal FragDenStaat eine kriminelle Vereinigung?
Arne Semsrott: Nein, wir konnten uns bisher von diesem Vorwurf freimachen, aber hey, wer weiß, was die politische Konjunktur noch mit sich bringt.
Sie haben als Chefredakteur dennoch bewusst eine mutmaßliche Straftat begangen, indem Sie Dokumente aus einem laufenden Gerichtsverfahren gegen die Letzte Generation veröffentlicht haben. Es geht dort um die Frage, warum die Klima-Aktivist*innen als kriminelle Vereinigung eingestuft sind. Warum machen Sie das?
Wir wollen klären, dass der Paragraf 353d Nr. 3 verfassungswidrig ist. Eigentlich hat die Berichterstattung über diesen Fall schon fast ironisch gezeigt, worum es geht: Es ist in Deutschland verboten, wortwörtlich aus amtlichen Dokumenten von laufenden Strafverfahren zu berichten. Auch in meinem Fall dürfen Medien die Anklage gegen mich nicht veröffentlichen und nicht wortgetreu daraus zitieren. Aber gerade bei juristischen Fällen ist eine Ungenauigkeit natürlich problematisch. Es gehört zur Pressefreiheit, dass man sich über Originaldokumente und wortgetreue Wiedergabe bei wichtigen Strafverfahren informieren kann.
geboren 1988, ist Journalist und Aktivist. Er leitet das Projekt FragDenStaat, das für Informations- und Pressefreiheit kämpft. Er setzte sich für Transparenz bei der Schufa ein, ist im Vorstand von Lobbycontrol und gründete die Initiative Freiheitsfonds.
Worum geht es inhaltlich in den geleakten Dokumenten und warum war es aus Ihrer Sicht notwendig, sie zu veröffentlichen?
Gegen die Letzte Generation wird mit einem sehr schwerwiegenden Vorwurf ermittelt – nämlich der Bildung einer kriminellen Organisation. Das hat weitreichende Folgen und eröffnet etwa Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung gegen viele Betroffene. Natürlich braucht es darüber eine öffentliche Diskussion. Das geht aber nur mit Zugriff auf die Originaldokumente. Wir haben also auf der einen Seite einen etwas obskuren Paragrafen, den es in anderen Ländern wie Österreich nicht gibt, und auf der anderen Seite das hohe Gut der Pressefreiheit. Wir erhoffen uns ein Urteil, dass die Verfassungswidrigkeit dieser Norm anerkennt.
Der Paragraf soll Betroffene vor Vorverurteilung und Bloßstellung schützen sowie Unvoreingenommenheit von Laienrichtern und Zeugen garantieren. Was ist daran aus Ihrer Sicht schlecht?
Es ist für einzelne Fallkonstellationen durchaus nachvollziehbar. Aber im vorliegenden Verfahren haben die Beschuldigten von der Letzten Generation kein Problem mit einer öffentlichen Diskussion – ganz im Gegenteil. Und der Fall wird ja sowieso schon öffentlich diskutiert, deswegen kann ich auch keine Auswirkungen auf Laienrichter erkennen. Das zeigt: Der Norm fehlt eine Abwägung mit der Pressefreiheit. Wir müssen der Presse zugestehen, dass in einzelnen Fällen solche Informationen an die Öffentlichkeit gehören. Das ist eine Abwägungsfrage: Es sollten nicht in jedem Verfahren alle Informationen rausgeballert werden, aber es gibt viele Konstellationen, bei denen eine Abwägung dazu führen sollte, dass die öffentliche Information wichtiger ist.
Die ehemalige FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger forderte schon 2007, den Paragrafen § 353d Nr. 3 StGB abzuschaffen, und auch die Grünen haben das bereits erfolglos beantragt. Der aktuelle FDP-Justizminister Buschmann kündigte nun eine Entschlackung des StGB an. Warum ist das noch nicht geschehen?
Wir haben aktuelle Fälle und eine laufende Reform des Strafgesetzbuches – müssen aber leider beobachten, dass das Justizministerium hier und auch anderswo nicht so entschlossen reagiert, wie es könnte. Wenn sich das Ministerium nicht kümmert, muss es der Bundestag regeln.
Welche Änderung fordern Sie?
Aus meiner Sicht sollte man den Paragrafen ersatzlos streichen. Es gibt andere Stimmen, die eine Abwägungsklausel einführen würden. Das ist eine Fachdiskussion, die nicht jetzt entschieden werden muss. Was wir jetzt brauchen, ist der Entschluss zu einer Änderung. Wir müssen anerkennen, dass die jetzige Regelung nicht geht, und reformieren.
Was passiert, wenn Sie in allen Instanzen scheitern?
Wir sind der Meinung, dass uns die bisherige Rechtsprechung der letzten Jahre Rückhalt bietet und unsere Veröffentlichung gerechtfertigt war. Sollen die Gerichte in Deutschland aber zu einer anderen Ansicht gelangen, würden wir als letzte Instanz Straßburg anpeilen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat auch in der Vergangenheit schon angemahnt, wie wichtig die Pressefreiheit auch bei Gerichtsverfahren ist.
Warum ist Ihnen das so wichtig?
Wir müssen wachsam sein, wie Meinungsfreiheit behandelt wird. Und dort, wo es Eingriffe gibt, müssen wir lautstark protestieren. Wenn wir uns die politische Entwicklung ansehen, sollten wir auch im Hinterkopf behalten, wie bestimmte Regelungen von autoritären Regierungen genutzt werden könnten. Gerade diese Passage bietet sich geradezu an, um gegen Journalist*innen vorzugehen. Die AfD schielt auf Regierungsbeteiligung und hat ein sehr großes Problem mit der Pressefreiheit. Sie wird alle Möglichkeiten nutzen, um gegen die freie Presse vorzugehen. Deswegen ist es auch präventiv wichtig, jetzt für mehr Pressefreiheit zu kämpfen.
Die Staatsanwaltschaft hat in der Anklage ausführlich dargelegt, dass aus ihrer Sicht auch bei Abwägung anderer Rechtsgüter klar eine Straftat vorliegt und sieht keine verfassungsrechtlichen Zweifel. Ihnen droht ein Jahr Haft oder eine Geldstrafe. Bekommen Sie da schon kalte Füße?
Ich bin ja auch geständig. Wenn es zu einer Verurteilung kommt, rechne ich mit einer Geldstrafe. Zur Not betreue ich ja noch ein anderes Projekt – das heißt Freiheitsfonds, bei dem wir arme Menschen von Ersatzfreiheitsstrafen freikaufen, indem wir deren Strafen fürs Fahren ohne Ticket bezahlen. Ich hoffe, dass ich mich nicht in anderer Funktion mit mir selbst beschäftigen muss.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers