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Armut in DeutschlandHuman Rights Watch kritisiert deutsches Sozialsystem

In einem Bericht fordert die Organisation die künftige Regierung auf, ihren verfassungs- und menschenrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen.

Stadtarmut am Hauptbahnhof Berlin Foto: Paul Langrock

Berlin taz | Die internationale Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch prangert in einem am Montag veröffentlichten Bericht gravierende Missstände im deutschen Sozialsystem an. Viele Menschen in Deutschland seien „in einem Ausmaß von Armut betroffen, das ihre Menschenrechte verletzt“, heißt es darin.

Die Ergebnisse beruhen auf Gesprächen mit mehr als 20 NGOs, auf amtlichen Statistiken sowie auf Interviews mit Betroffenen. Viele kämpfen mit steigenden Lebenhaltungskosten. Eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern berichtet etwa, dass sie in zwei Jobs arbeite, aber dennoch nicht über die Runden komme: „Ich habe meinen älteren Kindern schon gesagt, sie sollen Pfandflaschen mitnehmen, wenn sie welche sehen.“

Dem Bericht zufolge sind die Zahlen der von Armut Betroffenen in den letzten 20 Jahren in Deutschland „erheblich gestiegen“. Und das, obwohl Deutschland weltweit die drittgrößte Volkswirtschaft ist. Jeder siebte Mensch sei von Armut betroffen. Das sind gut 12 Millionen Menschen. Alleinerziehende, Kinder und Menschen ab 65 Jahren treffe es besonders. Zudem sei ein starker Geschlechterunterschied erkennbar. Durch die Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt, seien sie auch im Alter überproportional von Armut betroffen.

Human Rights Watch sieht die Ursache für den Armutsanstieg unter anderem im Arbeitslosengeld Hartz IV, das 2005 eingeführt wurde. Die strengen Auflagen für die Sozialhilfe hätten den Zugang zu Leistungen erschwert. Auch habe der Zwang, „jede zumutbare Arbeit anzunehmen“ zu einem Wachstum des Niedriglohnsektors geführt. Das 2022 eingeführte Bürgergeld fange die Auswirkungen der Inflation nicht ausreichend auf.

Die neue Regierung muss handeln

Die Organisation fordert die zukünftige Regierung dazu auf, der Bevölkerung soziale Sicherheit und einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten. Die Verfassung verpflichte den Staat zur Sicherstellung eines Existenzminimums. Dies umfasse nicht nur die Deckung notwendiger Lebenserhaltungskosten, sondern auch ein Mindestmaß an sozialer, kultureller und politischer Teilhabe jedes Menschen. „Ein starker Sozialstaat, der alle in der Gesellschaft unterstützt, trägt wesentlich zu Deutschlands Sicherheit insgesamt bei“, betont Kartik Raj von Human Rights Watch. Das müsse die neue Regierung anerkennen.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales weist die Kritik des Berichts ab. Die sozialen Mindestsicherungsleistungen deckten „alle notwendigen Lebenshaltungskosten für finanziell Bedürftige ab.“

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16 Kommentare

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  • Human Rights Watch unterlässt in ihrer Kritik erwartungsgemäß die Aufnahme von Millionen Migranten plus Familiennachzug der letzten 10 Jahre, welche über 50 Milliarden Euro jährlich binden. Kein anderes Land der Welt steckt so viel Geld in sein Migrationssystem.

    Die Sozialausgaben im Bundeshalt mit über 170 Milliarden Euro sind riesig. Und erlauben es nicht einmal das Verkehrsnetz, das zu den schlechtesten Europas gehört, zu reparieren. Die Sozialausgaben von Ländern und Gemeinden sind hinzu zu addieren. Wobei Human Rights Watch feststellen würde, dass Städte und Gemeinden durch ihre Sozialausgaben reihenweise pleite gehen.

    Deutschland ist international bekannt für seine Armutseinwanderung.

    Human Rights Watch wäre gut beraten sich die Situation in Deutschland etwas genauer anzuschauen um diese dann auch ehrlich darzustellen.

    www.spiegel.de/wir...-8307-f1a6b061ec16

  • Ja der HerrMinister weiß ganz sicher wie das ist, wenn man mit wenig auskommen muss (muss sein Ministerium ja auch). Solche NGO`s sollten im Parlament ein und ausgehen, anstatt irgendwelcher Lobby Organisationen.

  • Immerhin konnte ich gerade im taz blog über die RentnerInnen lesen, die in Argentinien demonstrieren.



    Die Mindestrente liegt dort, laut Bericht, bei 215 Euro.

    • @Philippo1000:

      Toll, anderen geht es schlechter. Da haben wir doch noch ein bißchen Platz nach unten. Also alles vollkommen ok. Vielleicht sollten wir Nordkorea als Vergleich heranziehen, dann sieht es noch besser aus. 🤪

      • @Wurstfinger Joe:

        Wow, der Punkt ist doch eher: Wem geht es denn noch besser als Deutschland? Ausser ein paar Skandinaviern gibt es nicht mehr allzuviel.

  • Man schaut dem Skandal der Verarmung seit Jahrzehnten zu. Ein Spiel mit dem Feuer! 12 Millionen Menschen, die verarmt sind. Ob Deutschland sich das leisten kann? Die AfD wurde durch die Saat der Ausgrenzung salonfähig, machtfähig ! Das hat die etablierte Politik zu verantworten, tut es aber nicht. Sie weist alles zurück ! Keine Selbstkritik ! So dumm und arrogant, muss man erst einmal sein.

    • @Salinger:

      Ach, wären doch nur alle Wahlberechtigten Menschen und vor allem die neue ReGIERung dazu in der Lage, wie Sie diesen Zusammenhang zu erkennen, zu begreifen und entsprechend zu agieren.

  • "Human Rights Watch" ?



    Diese Unkenrufer !

    Hier muss niemand verhungern, hier haben alle satt zu Essen und einen warmen PLatz zum Schlafen.

    Das weiß doch jeder

  • Wieviel soll's denn sein? 3000 € netto für alle und eine kostenlose 3-4 Zimmer Wohnung in einer Großstadt? Wenn ich solche "Berichte" lese habe ich keine Lust mehr, in Deutschland zu arbeiten und Steuern zu bezahlen..!

    • @Peter Wenzel:

      Siehe meine Antwort auf Aldi Wolf!

      Woraus begründet sich Ihre Verachtung und Hass (sonst würden Sie ja nicht so schreiben) gegen die Menschen, die hart für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen?

      Bei den derzeitigen Lebenshaltungskosten halte ich einen Mindestlohn von 3000 € netto (Singlehaushalt) übrigens für angemessen.

      Ihren polemischen Nachsatz zur Wohnung hätten Sie sich sparen können, ich z. B. definiere meinen Selbstwert vor allem über mein Sozialverhalten und nicht über irgendwelchen dekadenten Luxus, und meine kleine 2-Zimmer-Wohnung, für die ich auch eine angemessene Miete zahle (muss ja auch instandgehalten werden, muss aber nicht irgendwelche Heuschrecken extrem reich machen) reicht mir völlig aus.

      In welches Land gedenken Sie denn demnächst auszuwandern, damit Sie sich nicht mehr angemessen an der Finanzierung eines für ALLE lebenswerten Staates beteiligen müssen?

  • Die verdienen ja auch alle gut im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Im heutigen neoliberalen/ libertären Kapitalismus ist kein Platz für Empathie.

  • Welches Land auf der Welt hat eigentlich ein besseres Souzialsystem ? Unfassbar.

    • @Aldi Wolf:

      Die skand. Länder würden mir da z. B. einfallen, dazu werden in Belgien und Luxemburg die Löhne jedes Jahr automatisch an die Inflationsrate angepasst.

      Insgesamt ist Ihr Beitrag schlichte Ablenkung, denn warum sollten wir nicht hier in Deutschland (wo der Bundestag Einfluss hat) verschlechtern, nur weil es in den meisten Ländern schlechter ist? Was spricht dagegen, hier das Sozialsystem noch weiter zu verbessern und Armut zu bekämpfen, damit ALLE Menschen in Würde und mit Teilhabe leben können?

      Ich persönlich wünsche mir für alle Länder fantastische Sozialsysteme, wo NIEMAND Existenzängste haben muss, also fangen wir doch hier an das System noch weiter zu verbessern, vielleicht bemerken dann auch andere Länder, dass dadurch das Zusammenleben angenehmer wird.

      Leider wird es dazu nicht kommen, da eine Mehrheit Parteien gewählt hat, die Klientelpolitik für die reichsten 10 % macht. Ehrlich gesagt, ich finde das ziemlich dumm.

      Gehören Sie selbst zu den reichsten 10 % der Bevölkerung oder kämpfen Sie gegen Ihre eigenen Interessen? Unfassbar!

      Mehr Empathie für ALLE Menschen würde der Politik in D sehr gut tun und wäre gleichzeitig ein aktiver Kampf gegen den aufstrebeden Faschismus!

  • gerade bei der FT entdeckt:



    "Bürgergeld-Diskussionen: Mann erklärt, wer seiner Meinung nach die „tatsächlichen Sozialschmarotzer“ sind

    Geht es in der Bürgergeld-Diskussion wirklich um „Sozialschmarotzer?“, fragt ein Mann auf Linkedin. „Es geht darum, davon abzulenken, wo man die tatsächlichen Sozialschmarotzer findet: viel weiter oben“, kommentiert der Unternehmensberater Jürgen Schöntauf. „Sozialschmarotzer“ seien die, die „jährlich 100 Milliarden an Steuern hinterziehen“ würden, findet er."



    www.fr.de/wirtscha...r-zr-93625202.html



    tja, auf die armen dreinschlagen, die reichen + die steuerhinterzieher schonen. cum-ex war nur spitze de eisbergs.



    es nützt nur, umverteilung von unten nachnoben, mehr steuerfahnderInnen sowieso, die fehlen schon immer. das hat system...

    • @Brot&Rosen:

      Ich bin absolut ihrer Meinung !

      Ein "Totalschmarotzer" und "Arbeitsverweigerer" schadet dem Staat im Jahr vielleicht ... 18000 €. Immerhin.

      Aber das liegt deutlich unterhalb des Steuerschadens durch eine Geldwäsche-Dönerbude oder einen Warm-Miet-Kanalinseln-Arztpraxis-Mietvertrag

  • deutschland lastet es sich, ein großes armenhaus zu haben.



    die bewegung #ichbinarmutsbetroffen ist wohl eingegangen - wir hören davon nichts mehr.

    die einzige partei, die sich für anständige löhne einsetzt + im programm bzgl. armut aufzuweisen hat, ist die LINKE.

    auch eine regierung mit spd+grünen dabei beteiligte sich am armen-bashing.

    von der merz-regierung ist auch mit spd-beteiligung nix zu hoffen.

    loide: tretet noch mehr in die LINKE ein, laßt das bsw rechts liegen. die sind lost: wg. xenophobie u.v.a.m.

    arme wutbürgerInnen:

    nützt euch das noch schlimmere programm der afd etwas?

    unions-wähler: armenbashing, xenophobie + schlechte gesundheitsversorgung/seelische gesundheit schadet der wirtschaft.

    dummheit wird bestraft (vom schicksal).

    dummies waren mehrheitlich für schuldenbremse:

    die infrastruktur wurde marode, züge unpünktlich usw.

    leider wird wahrscheinlich mehr geld in die rüstung gepumpt werden, als unsrer volkswirtschaft dienlich ist.



    die rüstungsindustrie freut sich natürlich.