Armut in Deutschland: Human Rights Watch kritisiert deutsches Sozialsystem
In einem Bericht fordert die Organisation die künftige Regierung auf, ihren verfassungs- und menschenrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen.
Die Ergebnisse beruhen auf Gesprächen mit mehr als 20 NGOs, auf amtlichen Statistiken sowie auf Interviews mit Betroffenen. Viele kämpfen mit steigenden Lebenhaltungskosten. Eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern berichtet etwa, dass sie in zwei Jobs arbeite, aber dennoch nicht über die Runden komme: „Ich habe meinen älteren Kindern schon gesagt, sie sollen Pfandflaschen mitnehmen, wenn sie welche sehen.“
Dem Bericht zufolge sind die Zahlen der von Armut Betroffenen in den letzten 20 Jahren in Deutschland „erheblich gestiegen“. Und das, obwohl Deutschland weltweit die drittgrößte Volkswirtschaft ist. Jeder siebte Mensch sei von Armut betroffen. Das sind gut 12 Millionen Menschen. Alleinerziehende, Kinder und Menschen ab 65 Jahren treffe es besonders. Zudem sei ein starker Geschlechterunterschied erkennbar. Durch die Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt, seien sie auch im Alter überproportional von Armut betroffen.
Human Rights Watch sieht die Ursache für den Armutsanstieg unter anderem im Arbeitslosengeld Hartz IV, das 2005 eingeführt wurde. Die strengen Auflagen für die Sozialhilfe hätten den Zugang zu Leistungen erschwert. Auch habe der Zwang, „jede zumutbare Arbeit anzunehmen“ zu einem Wachstum des Niedriglohnsektors geführt. Das 2022 eingeführte Bürgergeld fange die Auswirkungen der Inflation nicht ausreichend auf.
Die neue Regierung muss handeln
Die Organisation fordert die zukünftige Regierung dazu auf, der Bevölkerung soziale Sicherheit und einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten. Die Verfassung verpflichte den Staat zur Sicherstellung eines Existenzminimums. Dies umfasse nicht nur die Deckung notwendiger Lebenserhaltungskosten, sondern auch ein Mindestmaß an sozialer, kultureller und politischer Teilhabe jedes Menschen. „Ein starker Sozialstaat, der alle in der Gesellschaft unterstützt, trägt wesentlich zu Deutschlands Sicherheit insgesamt bei“, betont Kartik Raj von Human Rights Watch. Das müsse die neue Regierung anerkennen.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales weist die Kritik des Berichts ab. Die sozialen Mindestsicherungsleistungen deckten „alle notwendigen Lebenshaltungskosten für finanziell Bedürftige ab.“
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