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Armut in DeutschlandSpardruck trifft auch die Mitte

Die Inflation verschärft die soziale Lage, viele Leute müssen massiv sparen. Steigt die Armutsquote? Das Institut DIW hält das für nicht erwiesen.

Extremform der Armut: Szene von der Bahnhofsmission Dessau Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa

Berlin taz | Wegen der Inflation können viele Bürgerinnen und Bürger mit geringen Einkommen ihre Grundbedürfnisse nicht mehr erfüllen. Sie müssen beispielsweise ihre Ausgaben für Bekleidung und Schuhe einschränken, erklärte am Donnerstag die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung. Diese Situation betreffe „mehr als zwei Drittel der Befragten mit niedrigeren Haushaltseinkommen unter 2.000 Euro netto im Monat“, sagte Bettina Kohlrausch, die Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Stiftung.

Die Organisation will zeigen, was Armut konkret bedeutet und wie sie sich in der aktuellen Lage verschärft. Dazu hat sie neue Daten vorgelegt, die unter anderem aus einer Umfrage vom August 2022 stammen. Demnach „wollten knapp 35 Prozent“ der Geringverdiener „sogar beim Kauf von Lebensmitteln kürzer treten“. Kohlrausch hielt es deshalb für „sehr plausibel“, dass die „wirtschaftliche Polarisierung“ zwischen Leuten mit wenig Geld und Wohlhabenden weiter zunehme. „Der Spardruck reicht deutlich in die Mittelschicht hinein“, sagte die WSI-Direktorin.

Besonders für Privathaushalte, die arm sind oder durch Armut gefährdet, verschärfe sich die Situation momentan. Schon vor Beginn der aktuellen Krise konnten sich gut 14 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze keine neue Kleidung leisten, schreibt das Institut in seinem neuen Bericht zur Verteilung der Einkommen in Deutschland. Fünf Prozent der Armen konnten ihre Wohnungen nicht richtig heizen, und die Hälfte musste auf Urlaubsreisen verzichten.

Diese Prozentangaben beziehen auf den Anteil der Bundesbevölkerung, der weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Das sind ungefähr 1.300 Euro pro Monat für einen Singlehaushalt. Wer weniger hat, gilt als armutsgefährdet oder arm.

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Prekäre Beschäftigung, Armut, Vertrauensverlust

Der Verteilungsbericht präsentiert weitere eindrucksvolle Zahlen. Während zehn Prozent der Gesamtbevölkerung mit befristeten Arbeitsverträgen arbeiten, sind es unter den Armen über 30 Prozent – ein Hinweis auf den Zusammenhang zwischen prekärer Beschäftigung und Armutsgefährdung. Während Arme durchschnittlich 45 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung haben, sind es unter der Gesamtbevölkerung 66 Quadratmeter.

Diese Situation habe auch Rückwirkungen auf das Vertrauen in die gesellschaftlichen Institutionen, sagte Kohlrausch. „Lediglich 68 Prozent der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, halten die Demokratie für die beste Staatsform, nur 59 Prozent finden, die Demokratie in Deutschland funktioniere gut“, heißt es im Bericht. „Armut und soziale Polarisierung können die Grundfeste unseres demokratischen Miteinanders ins Wanken bringen, vor allem dann, wenn sie sich verfestigen“, sagte die WSI-Direktorin.

Zur Abhilfe forderte sie eine Politik, die einen „höheren Mindestlohn“ anpeile. Die augenblickliche Untergrenze der Bezahlung von zwölf Euro brutto pro Stunde sei zwar ein Fortschritt – dieser reiche jedoch nicht aus. Auch der Regelsatz des Bürgergeldes müsse weiter angehoben werden. Ab kommenden Januar soll er bei 502 Euro für alleinstehende Arbeitslose liegen.

Unterschiedliche Interpretation der Entwicklung

Grundsätzlich beklagt die Hans-Böckler-Stiftung, dass die Armutsrisikoquote – wer weniger Geld zur Verfügung hat, ist armutsgefährdet oder arm – immer weiter ansteige. 2019 habe sie 16,8 Prozent der Bevölkerung erreicht.

Darüber, ob dieser Befund stimmt, läuft allerdings eine wissenschaftlich-politische Auseinandersetzung. Es gibt unterschiedliche Interpretationen der Entwicklung in den vergangenen Jahren. So hat Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) berechnet, dass die Quote 2020 bei 16,2 Prozent lag. Bis 2015 sei sie gestiegen, dann aber nicht mehr, jedenfalls nicht statistisch relevant. Das hänge unter anderem mit der Einführung des Mindestlohns zusammen, so Grabka: „Der Sozialstaat ist erfolgreich.“

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14 Kommentare

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  • ... weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben: Warum sollte sich durch Inflation am Bevölkerungsanteil etwas ändern? Wenn alle von heute auf morgen nominell doppelt so viel Geld haben, ändert sich da gar nichts. Diese Definition von Armut war schon immer bescheuert. Wir könnten ALLE Milliardäre sein und es gäbe immer noch Arme.

  • Deutschland ist ein reiches Land, hier könnte jeder in bescheidenem Wohlstand leben, wenn wir den Wohlstand gerecht verteilen würden.

    Aber diese gerechte Verteilung ist nicht gewünscht, weder von der Regierung/Politik, noch von der Bevölkerung, wie man in den letzten Wochen eindrucksvoll miterleben konnte.

    Das "Bürgergeld" wurde nur mit ach und Krach um 50 € erhöht und gleicht somit noch nicht einmal die hohe Inflation 2021/2022/2023 aus. Bei korrekter Inflationsanpassung hätte die Erhöhung über 100 € betragen müssen. Die Kaufkraft der Ärmsten sinkt also seit Jahren.

    Wie der Paritätische Wohlfahrtsverband errechnet hat, wären sogar 720 € erforderlich, um ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewährleisten.

    Der Regierung und der Bevölkerung ist das egal, sollen die Ärmsten doch Hungern oder zur Tafel gehen. OK die Tafeln haben immer häufiger Aufnahmestop, da völlig überlaufen, aber was solls, Arbeiten muss sich schließlich lohnen und wer trotz Job auf Hartz IV angewiesen ist, hat halt Pech gehabt.

    Armut ließe sich leicht bekämpfen, ausschließlich mit mehr Geld und nicht mit warmen Worten und leeren Versprechungen.

    Aber höhere Löhne, höhere Renten, höhere Mindestlöhne und armutsfeste Sozialleistungen sind politisch nicht durchsetzbar, keine Partei (bis auf die LINKE) wollen das, die Mehrheit der Bevölkerung auch nicht.

    Und so bleibt es wie gehabt: die Armut wächst stetig, der Reichtum auch, die Mittelschicht schrumpft und alle, die sich noch ein bisschen Wohlstand leisten können, tragen die Nase oben und ignorieren die Verelendung.

    Frohe Weihnachten

  • 0G
    06455 (Profil gelöscht)

    Nach 45 Jahren Arbeit habe ich als Rentnerin auch keine 1300 Euro.



    Bin also arm. Zuschüsse gibt es nicht, da ich knapp darüber liege.



    Würde mir auch eine monatliche Aufstockung von 53 Euro wünschen.



    Das würde enorm helfen!



    Ich habe immer Steuern gezahlt und auch die Sozialabgaben.



    Warum wird unsere Generation so respektlos behandelt?



    Niemand von Politik und den Medien findet dieses Vorgehen untragbar.

    • @06455 (Profil gelöscht):

      Wohngeld beantragen.



      Sie haben bei 1300€ vermutlich Anspruch drauf.



      Auch sch jetzt, vor der Reform.



      Das sind mehr als 50€...

  • Das Problem mit Statistiken ist das sie für den Betroffenen irrelevant ist.

  • 1G
    14397 (Profil gelöscht)

    2021 war ich statistisch arm.



    2022 wurde ich durch Inflation ärmer.



    2023 werde ich durch die diese Preissteigerungen nicht ausgleichende Hartz5-Erhöhung noch ärmer.



    Statistisch ist kein Unterschied zwischen arm, ärmer und noch ärmer.



    In der Realität ist der Unterschied allerdings riesig!

  • Viellelicht sollte man neben der zunehmenden wirtschaftlichen Not innerhalb der armen Bevölkerung viel mehr eine ganz andere Not in den Vordergrund stellen, nämlich die mit der wirtschaftlichen Not verbundene drastisch geringere Lebenserwartung der betroffenenen Menschen.

    Die 7 bis 10 Jahre geringere Lebenserwartung ist eine Größe, die man nicht wie bisher feige unter den Teppich kehren sollte.

    Ebenso sollte endlich Ursache und Wirkung ehrlich diskutiert werden. Arme Menschen sterben früher, weil ihre Gesundheit aufgrund der Armut extrem leidet, und weil gleichzeitig kranke Menschen aufgrund der gesetzlichen Strukturen extrem vermehrt in die Armut getrieben werden.

    Ein weiteres bisher unter den Teppich gekehrtes Thema ist, daß es der Politik absulut bewußt ist, wie sehr der Teufelskreis von Armut und chronisch gesundheitlich angeschlagen die Lebenserwartung verringert. Es geht dann nicht mehr um fehlende Information und irgendwelche bedauerliche politische Entscheidungsfehler, sondern es geht mindestens um billigende Inkaufnahme und in einigen Einzelfällen sogar um klammheimliche Freude über die bestehenden Zustände.

  • Mein Finanzproblem liegt an einer chronischen Krankheit die ich mit 15 bekommen habe, dadurch wurde Arbeitsplatzsuche erschwert, und es wurde schwierig/unmöglich einem guten zu erhalten.



    Dadurch habe ich eine sehr niedrige Rente, bis vor einem Jahr kam ich damit gerade so und sehr sparsam natürlich aus, aber seit dem wird es immer schlimmer.



    Geschrieben habe ich das, weil diskutiert wird, ob die Armut steigt, natürlich steigt sie, ich bin kein Einzelfall !

    • 0G
      06455 (Profil gelöscht)
      @felix :

      Nein, sie sind kein Einzelfall. Mir geht es ähnlich. Wir werden nur nicht gehört.

      • @06455 (Profil gelöscht):

        Guten Tag.

        Es tut mir wirklich Leid, dass so viele Menschen jetzt sich in eine solche Lage finden. Es ist völlig unnötig und kaltherzig, solche Umstände zu relativieren oder bagatellisieren.

        Aber ich gewinne den Eindruck, dass es nicht so ist, dass Sie und Felix nicht gehört werden, sondern bewusst ignoriert werden.

  • Für Menschen, die sehr wenig verdienen ist das ein massives Problem - die unteren Gehälter müssen steigen, man kann nur hoffen, dass der Arbeitskräftemangel dazu führt, dass sich die Leute besser bezahlte Jobs suchen und so der Druck auf die Gehälter steigt.

    Aber für den Rest?

    Wir konsumieren doch eh viel zu viel und das gilt bis weit unter das Durchschnittseinkommen. Dass wir Energie sparen, auf weniger Fläche leben, Klamotten länger tragen, weniger Lebensmittel wegschmeißen, weniger Fleisch essen, weniger Unterhaltungselektronik, Küchengeräte etc. kaufen, die wir gar nicht brauchen und die haufenweise Strom verbrauchen, dass wir auf Autofahrten und Flugreisen verzichten, das muss doch sowieso passieren. Und das geht nur über den Preis, darüber, dass Sachen wieder zu Luxus werden, die wir in unserer Überflussgesellschaft für selbstverständlich halten.

    Dass die Mittelschicht weniger konsumieren kann ist KEINE schlechte Nachricht!

    • @Ruediger:

      Guten Morgen.

      Sie haben etwas völlig übersehen: die Polarisierung des Einkommens.

      Eine Sache ist, wenn alle sparen müssen, und eine komplett andere Sache ist, wenn die noch reicheren Reichen sich noch mehr leisten können, während der Rest der Gesellschaft (Mittelschicht, Armen, Armutsgefährdete et al) immer mehr auf etwas verzichten muss.

      Materielle und energetische Verschwendung ist eng mit Überfluss verflochten. Je reicher der Haushalt / Familie / Schicht, desto mehr Verschwendung und Abfall wird dort produziert.

  • Great article , I read it after translation

  • "Darüber, ob dieser Befund stimmt, läuft allerdings eine wissenschaftlich-politische Auseinandersetzung. "



    16,8% gegen 16,2 % Armutsrisikoquote, zwei gegensätzliche Interpretationen? Sieht eher nach einer Sisyphosdiskussion aus. Ob sie Quote ansteigt oder bei 16% stagniert ist schon relevant, allerdings sind 16% der Bevölkerung mit Armutsrisiko schon ein Alarmsignal. Insofern ist es eher eine Elfenbeinturmdisskusion. Es ist schlimm und möglicherweise wird es noch schlimmer. Handlungszwang gibt es jetzt schon.