Armut in Deutschland: Gefühlte Katastrophen
Die Armutsquote in der Bevölkerung ist stabil – trotzdem haben viele Leute Abstiegsängste. Warum ist das eigentlich so?
Die neueste Lieferung zum Thema kommt vom Statistischen Bundesamt: Der Anteil der von Armut und Ausgrenzung bedrohten Bevölkerung in Deutschland steigt nicht. Punkt. Es sind ungefähr 20 Prozent der Bevölkerung, deren Einkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze liegt, die erhebliche materielle Entbehrungen erleiden müssen oder die in einem Haushalt mit Langzeitarbeitslosen leben. Das ist viel, aber der Wert nimmt nicht zu.
Konservative und arbeitgebernahe Forschungsinstitute stürzen sich auf diese Ergebnisse: Seht her, es wird nicht alles schlechter! Linke verweisen hingegen auf Forschungen, nach denen Reiche weiter Vermögen anhäufen, während Arme noch ärmer werden.
Die Frage, ob sich die Gesellschaft mehr spaltet oder nicht, lässt sich je nach den gewählten Parametern beantworten, soviel weiß man nun nach vielen Jahrzehnten Verteilungsforschung. Dabei kommt es auf den Zeitraum in der Erhebung an, ob man eine Dynamik betrachtet, ob man Einkommen, Vermögen oder Rentenansprüche ermittelt, welche Gruppen man gegeneinander setzt und so weiter.
Die Forschungen darüber, welche Spaltungen sich wie belegen lassen, helfen allerdings wenig, wenn man sich den subjektiven Gefühlen, den Ängsten vor dem Abstieg, zuwendet. Diese Gefühle sind real, sie können gesellschaftliche Prozesse beeinflussen, wie man am Aufstieg der AfD sieht. Und sie verdienen eine eigene Betrachtung, unabhängig von Verteilungsstatistiken und deren Entwicklung.
Die Zukunft der Rente
Hauptsache, es geht mir nicht schlechter als dem Nachbarn
Im Entwurf des fünften Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung befasst sich ein Kapitel mit den Gefühlen von wachsender Ungerechtigkeit und der Angst vor Abstieg und Armut, die sich ermitteln lässt, obwohl es den Leuten laut Einkommensstatistiken nicht schlechter geht. „Wahrnehmung und messbare Realität gehen mitunter auseinander“, heißt es in dem Bericht. Abstiegssorgen und das Gefühl von wachsender Ungerechtigkeit beruhen dabei immer auch auf dem Vergleich mit der unmittelbaren Umgebung. Das ist legitim. Man will sich nicht verschlechtern, wenn das die andern nicht auch tun.
Was die Zukunftsangst befeuert haben könnte, lässt sich zusammentragen. Seit einigen Jahren bekommen beispielsweise Jüngere alljährlich eine Information von der Deutschen Rentenversicherung, wie hoch die zu erwartende Rente wäre, wenn man verdiente wie bisher. So was kann bei Schlechtverdienern die Stimmung auf den Nullpunkt sinken lassen.
Früher gab es solche Renteninformationen nicht, da konnte man sich die Zukunft rosiger ausmalen. Die Stimmung wird nicht besser, wenn die Politik ständig die Pflicht zur „privaten Altersvorsorge“ betont. Sparen gut und schön, nur von was? Das fragen sich Kleinselbständige, ErzieherInnen oder Medienschaffende, die von ihren Einkünften hohe Mieten, Zahnersatz und Babysitter bezahlen müssen. Der Kostendruck wird in den Einkommensstatistiken nicht erfasst.
Abstiegsängste sind immer auch eine Angst vor Kontrollverlust über das eigene Leben. Wohlstand erscheint wie eine Sache von Glück oder Pech und das liegt an den Erbschaften. Wer wohlhabende Eltern mit Immobilie und kaum Geschwister oder Halbgeschwister hat, wessen Eltern nicht ins Pflegeheim kommen und ihr Vermögen dort verbrauchen müssen, der oder die wähnt sich in größerer Sicherheit.
Genug Geld zu haben, um unabhängig zu sein, gehört zur Vorstellung von „Reichtum“, wie sich auch im Armuts- und Reichtumsbericht zeigt. Die US-Amerikaner sprechen von „Fuck-you-money“, also dem Besitz von genug Geld, um jeden zum Teufel jagen zu können, der einem dumm kommt.
Vielleicht steckt hinter der Abstiegsangst der hiesigen Mittelschichten aber auch noch eine andere, eine archaische Furcht: die Angst vor Gebrechlichkeit und physischer Hilfsbedürftigkeit. Eine Alterungsangst, die wächst in einer Gesellschaft der Langlebigen, in der so viele Generationen gleichzeitig auf der Welt sind wie noch nie zuvor, mit zunehmender Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, um Sozial- und Gesundheitsleistungen. Wenn diese Angst so archaisch ist, dann können Reichtums- und Armutsstatistiken nur ein Baustein sein, um sie einzuhegen.
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