Armbrust-Schüsse in Bremerhavener Schule: Ein Gefühl der Wertlosigkeit

Ein 21-Jähriger schoss mit einer Armbrust auf eine Schulsekretärin. Er wollte, dass die Polizei ihn erschießt. Am Montag fällt das Urteil im Prozess.

Ein Mann steht im Gerichtssaal zwischen zwei Anwälten und verdeckt sich das Gesicht

Der Angeklagte steht vor Prozessbeginn im November 2022 im Gerichtssaal Foto: Sina Schuldt/dpa

BREMEN taz | Warum hat ein heute 21-Jähriger vor einem Jahr die Sekretärin seiner ehemaligen Schule in Bremerhaven mit einer Armbrust niedergeschossen? Er wisse es bis heute nicht, sagt Berkan S. am Mittwochvormittag. Es ist der achte Tag, an dem er sich vor dem Bremer Landgericht wegen des Verdachts auf versuchten Mord verantworten muss. Am Montag soll das Urteil gesprochen werden. „Das kann Ihnen erst Frau Franz sagen.“

Doch auch die Psychiaterin Ute Franz, die den Prozess als Gutachterin begleitet und mit Berkan S. in der Haft Gespräche geführt hat, hat keine einfache Erklärung. Sie setzt an diesem Tag fort, was sie drei Wochen zuvor am siebten Verhandlungstag begonnen hatte: Sie stellt ihre Einschätzung dar, inwiefern der Angeklagte zum Tatzeitpunkt am 19. Mai 2022 schuldfähig war. Um es vorwegzunehmen: Er habe zwar gewusst, dass sein Verhalten falsch ist, sagt sie, seine Steuerungsfähigkeit sei aber aufgrund seiner psychischen Erkrankungen eingeschränkt gewesen. Er leide sowohl an einer Depression als auch an einer Sozialphobie.

Die Tat hatte deutschlandweit für Schlagzeilen gesorgt, weil sie zunächst für einen Amoklauf gehalten worden war. Aber Berkan S. war der einzige Täter und die zwei Schüsse auf die Sekretärin, von denen einer hätte tödlich enden können, das Ergebnis eines gescheiterten Suizids.

Denn er war, das hatte er zu Prozessbeginn gesagt, an dem Morgen mit der Armbrust zur Schule gezogen, um sich von Po­li­zis­t:in­nen erschießen zu lassen. Schon lange habe Berkan S. sein Leben für nicht lebenswert gehalten, sagt Ute Franz, er sei seit mindestens drei bis vier Jahren depressiv. Damit bestätigt sie eine Diagnose der Psych­ia­te­r:in von Berkan S., bei der er in diesem Zeitraum in Behandlung war. Allerdings bekam er nur ein Antidepressivum von ihr, keine psychotherapeutische Hilfe.

Einmal der Stärkere

Er sei völlig allein gewesen, führt Ute Franz weiter aus, habe sich von seiner Familie abgeschottet, sei untergegangen in einer Welt der Videospiele, unterwegs in düsteren Suizid-Foren. Wegen unentschuldigter Fehlzeiten war er nicht zum Abitur zugelassen worden und hatte 2018 die Schule verlassen. Dafür machte er seine Deutsch- und Englischlehrerin verantwortlich. „Sie war daran natürlich nicht schuld“, lässt er am siebten Verhandlungstag seinen Anwalt eine Erklärung vorlesen, um ihr dann einen Vorfall vorzuwerfen, der nach seiner Wahrnehmung seinen psychischen Niedergang auslöste.

Er sollte eine Hausaufgabe vor der Klasse vorlesen – wovor er große Angst hatte. Deswegen hatte er erfolglos darum gebeten, dies nicht tun zu müssen. „Zu dem Zeitpunkt war meine Sozialphobie sehr ausgeprägt“, sagt Berkan S., der oft im Therapeutenjargon über sich spricht, als würde er die Diagnosen besser verstehen als seine eigenen Gefühle. Seiner Lehrerin sei wohl nicht klar gewesen, wie schlimm die Situation für ihn war – reflektiert er jetzt im Gerichtssaal. Vermutlich haben ihn dazu die vielen therapeutischen Gespräche im Maßregelvollzug gebracht. Knappe zwei Wochen nach der Tat war er in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen worden. Dort sollte er auch bleiben, sagt Ute Franz. Noch sei er gefährlich für sich oder andere.

Sein größtes Problem scheint seine mangelnde Fähigkeit zu sein, seine subjektive Wahrheit mit der anderer abzugleichen. Ein Beispiel sei der Vorfall mit der Hausaufgabe; ein singuläres Ereignis, so die Gutachterin, das für ihn eine riesige Dimension bekam, weil er sich in die Vorstellung hineinsteigerte, die Lehrerin habe ihn absichtlich gedemütigt. Deshalb hatte zum Plan von Berkan S. gehört, erst diese Lehrerin in der Schule zu konfrontieren, bevor er sich von Polizisten erschießen lässt. „Ich wollte endlich auch einmal in der stärkeren Position da stehen“, hatte er in seiner schriftlichen Erklärung gesagt, sie einschüchtern, nicht aber verletzen wollen.

Am Mittwoch spricht er in eigenen Worten noch einmal über diese Absicht. In den drei Jahren zwischen seinem Schulabgang und der Tat habe er sich gefühlt, als existiere er nicht. „Ich dachte, ich bin unsichtbar.“ Von der Tat habe er sich die Bestätigung versprochen, „dass ich hier bin in der Welt“. Die Vorsitzende Richterin Gesa Kasper, sehr darum bemüht, alle Nicht-Jurist:innen und damit wohl vor allem den Angeklagten und seine Familie, die im Zuschauerraum sitzt, in dem Verfahren mitzunehmen, fragt nach. „In der realen Welt?“ „Ja.“

Durch ein Lächeln provoziert

Der Plan ging schief, weil ihm ein Lehrer nicht den Aufenthaltsort der Lehrerin verraten wollte. Dann habe er aus dem Sekretariat ein Rascheln gehört, erzählt er, und habe nachgesehen. „Ich hatte Sorge, da würde mich jemand tacklen“, ihn angreifen, verhindern, dass er erschossen werden kann.

Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (☎ 0800-111 0 111 oder ☎ 0800-111 0 222) oder www.telefonseelsorge.de besuchen.

Die Schulsekretärin, auf die er dann traf, habe ihn nicht erkannt, führt die Gutachterin aus, das habe sein Gefühl der Wertlosigkeit verstärkt. Dass sie lächelte, habe er als Provokation fehlinterpretiert und ihr in die Schulter geschossen. „Was war das denn jetzt?“, habe sie daraufhin gesagt und verletzt den Raum verlassen – für ihn ein weiterer Beleg dafür, nicht ernst genommen zu werden. Er schoss ein zweites Mal. Von hinten durch den unteren Rücken, der Stahlbolzen trat vorn wieder aus. Auf der Flucht aus dem Gebäude – den Suizid-Plan hatte er fallen gelassen – schoss er noch zwei Mal auf einen Passanten, verfehlte ihn aber.

Diese Aggressivität passt nicht zu dem Bild, das seine Familie von ihm hat. Auch Richterin Gesa Kasper sagt, dass ihr das ein Rätsel sei, so wie sie ihn im Gerichtssaal erlebe. „Ich kenne ihn so nicht“, sagt die Tante, die anders als seine Eltern als Zeugin aussagt, „er hat als Kind nicht einmal geschrien“.

An dieser Stelle räumt die Gutachterin Ute Franz mit der Vorstellung auf, Aggressivität sei immer nach außen sichtbar. „Ein Suizid ist ein aggressiver Akt“, erklärt sie, der sich aber gegen die eigene Person richte. Im Fall von Berkan S. sei die Aggressivität vermutlich „umgeschlagen“ und habe sich gegen die Sekretärin gewendet.

Welche Rolle das Geschlecht seines Opfers spielt, wird im Prozess nicht erörtert, obwohl er sich sowohl von einer Lehrerin als auch von der Sekretärin gedemütigt fühlte. Zudem erlebt er seine Mutter und seine drei Jahre jüngere Schwester als die machtvollen Personen in der Familie, so hat es die Gutachterin ausgeführt. Seinen Vater beschreibe er als „zu lieb und nicht konsequent genug“. Auch habe er keine romantischen oder sexuellen Beziehungserfahrungen gemacht. Was soziale Interaktionen angehe, wirke er wie ein 15- bis 17-Jähriger, sagt die Gutachterin noch.

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