die taz vor zehn jahren: Was Diepgen über Kultur denkt
Die Einstellung von Berlins Regierendem Bürgermeister Eberhard Diepgen zur Kultur war zuletzt durch ein Bonmot gekennzeichnet. „Bei der Kultur“, pflegte Diepgen vor Senatssitzungen zu betonen, „überkommt mich ein abgrundtiefes Mißtrauen“. Das scheint nun ausgeräumt. In der Entscheidung über den Bau eines Holocaust-Mahnmals hat Diepgen sich nun als Kunstkritiker versucht. Die Entwürfe, die er bisher gesehen habe, hätten ihn nicht davon überzeugt, daß es möglich sei, sich mit dem Grauen des Holocaust künstlerisch auseinanderzusetzen. Mit solchen Bedenken steht er keineswegs allein da. In zahlreichen Texten sind sie kontrovers erörtert worden. Diepgens Ringen um ein ästhetisches Urteil möchte man da ohne Umschweife einreihen. Wäre er nicht einer der Entscheider, bliebe sein Geschmacksurteil ohne politische Relevanz. Da er aber zu den Auslobern gehört, verdient seine Meinung Aufmerksamkeit. Wer spricht? Der Kritiker ist zugleich Kurator. Oder Gesellschaftskritiker. „Im Grunde“, meint Diepgen, „sagen die Entwürfe mehr über die Zerrissenheit der jetzigen Generation im Verhältnis zu ihren Eltern aus als über die NS-Verbrechen.“ Aus solchem Meinungsgedümpel spricht noch immer ein Ressentiment gegen die künstlerische Formulierung gesellschaftlicher Fragen. Diepgen sollte sich entscheiden, welche Rolle er will. Wenn er grundsätzliche Bedenken gegen das Mahnmal geltend macht, hat er sich als Entscheider disqualifiziert.
Harry Nutt, 20. 3. 1998
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