: Keinen Einbrecher laufen lassen
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat zum zweiten Mal das Urteil gegen einen Polizisten aufgehoben, der einen flüchtenden Einbrecher durch einen Schuss in den Rücken tötete. Nicht das erste Mal, dass sich der so genannte „Hamburger Senat“ des BGH eine Auseinandersetzung mit Hamburger Gerichten liefert
VON KAI VON APPEN
Heiligabend 2002. Es hat geschneit, der am Boden liegende Schnee reflektiert jeden Lichtstrahl von Laternen, so dass trotz Nebel und Dunkelheit keine Finsternis herrscht. Gegen 19 Uhr beobachten Anwohner im Uhlenhorster Weg 55 in Hamburg-Winterhude in einer Wohnung Taschenlampen-Strahlen. Sie rufen die Polizei.
Wolfgang Sch. (42) und sein Kollege Peter N. vom Revier 31 Oberaltenallee fahren zum Objekt. Entgegen jeglicher Polizeirichtlinien verlässt Sch. bei Eintreffen den Streifenwagen und stürmt allein in das Treppenhaus Hausnummer 55. Er bemerkt, dass wohl ein Täter aus dem Treppenhaus-Fenster des ersten Stocks flüchten will und in den Hof springt. Sch. schießt auf den flüchtigen Julio V., bevor er die Treppe wieder runterrennt und die Verfolgung eines weiteren Täter aufnimmt, der offenbar zuvor den gleichen Fluchtweg gewählt hat. Den 25-jährigen Julio V. lässt er im Hof liegen. Als weitere Polizisten eintreffen, ist der Einbrecher bereits verblutet.
Nach seiner Rückkehr von der vergeblichen Verfolgungsjagd fragt Sch. nur lapidar. „Ist er Ex?“ Später wird er angeben, er sei „20 Jahre Polizist und ich lasse keinen Einbrecher laufen“. Noch in der Tatnacht sucht der damalige neue Innensenator Ronald Schill bei seiner Weihnachts-Tour durch die Reviere auch Sch. in der Wache Oberaltenallee auf. Er drängt sich ihm auf, attestiert sofort Notwehr und verspricht, wenn das nicht klappt, notfalls eine „putative Notwehr“ daraus zu machen.
Über Weihnachten wird die Mordkommission von Schills rechter Hand, Innenstaatsrat Walter Wellinghausen, von dem Fall abgezogen und die Untersuchung dem Dezernat Interne Ermittlungen (DIE) übergeben. Dieses ist Wellinghausen unterstellt. Das DIE lässt Wolfgang Sch. erstmal ohne Vernehmung wochenlang in den Urlaub fahren, die Ermittlungen werden einem Beamten übergeben, der keinerlei Erfahrungen mit Tötungsdelikten hat. Dementsprechend schlampig und dilettantisch werden die Ermittlungen geführt, eine obligatorische Tatortrekonstruktion wird vergessen, wichtige Beweismittel wie Funkprotokolle werden gelöscht.
Es dauert eineinhalb Jahre, bevor sich die Staatsanwaltschaft durchringt – nicht zuletzt wegen der Drohung eines Klageerzwingungsverfahren durch den Hamburger Anwalt der Familie V., Manfred Getzmann, Anklage wegen fahrlässiger Tötung zu erheben. Doch das zuständige Amtsgericht Hamburg-St. Georg lehnt die Eröffnung des Verfahrens ab. Der Richter sieht eine „eindeutige Notwehr“.
Das Hamburger Landgericht hebt den Beschluss auf und übergibt das Verfahren der Amtsgerichtskollegin Katja Reitzig. Die Richterin bricht nach vier Verhandlungstagen und nach einer peniblen Beweisaufnahme den Prozess im März 2005 vorzeitig ab. Zuvor hatte sie einen Ortstermin anberaumt. Ein Tatortsachverständiger sowie ein Ballistiker des Bundeskriminalamtes, die eigenmächtig am Vorabend ihrer gerichtlichen Vernehmung den Tatort untersucht hatten, hatten die Richterin auf Widersprüche zu den DIE-Ermittlungen hingewiesen und in dem Rückenschuss einen Vorsatz erkannt. Julio V. muss nach dem Sprung in den Hof, als er sich gerade wieder aus der Hocke aufrichten wollte, aus dem oberen Fenster in den Rücken geschossen worden sein. „Es gibt Anhaltspunkte, dass der Angeklagte gezielt schoss und dabei den Tod zumindest billigend in Kauf nahm“, begründet Reitzig ihr Vorgehen. „Eine ernsthafte Notwehrlage ist von der Beweisaufnahme widerlegt – der Hof war mit einem Blick aus dem Fenster einsehbar“, sagt sie.
Wolfgang Sch. hatte indes behauptet, durch die Dunkelheit habe er nur einen Schatten gesehen, der auf ihn gezielt habe, als er wie eine „Zielscheibe“ im Treppenhausfenster stand. Deshalb habe er aus Notwehr geschossen.
Amtsrichterin Reitzig reicht den Fall wegen des Verdachts des Totschlags weiter an die Schwurgerichtskammer des Landgerichts. Dort steht zunächst nur fahrlässige Tötung auf der Agenda, also das Wolfgang Sch. übereifrig Julio V. versehentlich getroffen habe. Später erkennt auch dieses Gericht einen Vorsatz und verurteilt Sch. zu zwei Jahren Haft auf Bewährung wegen „Körperverletzung im Amt mit Todesfolge“. „Aufgrund der Position des Opfers kann von einer Bedrohungslage keine Rede sein“, begründet der Vorsitzende Claus Rabe das Urteil. „Notwehr“ sei eine reine „Schutzbehauptung“, dennoch unterstellt Rabe „keine Tötungsabsicht“. Die Holländische Familie V., die beide Prozesse verfolgt hatte, empfindet dennoch Genugtuung.
Doch dann passiert das Unglaubliche. Ein Urteil muss innerhalb einer gewissen Frist geschrieben werden und in diesem Fall macht das Richter Rabe einen Tag vor Fristablauf. Da ein Beisitzer zur Unterschrift fehlt, setzt der Richter einfach stellvertretend nochmal seinen Namenszug unter das Papier. Das ist zwar grundsätzlich zulässig, wenn beispielsweise ein Beisitzer erkrankt oder einfach nicht erreichbar ist, nicht aber, wenn dieser nur in die einen Kilometer entfernte Justizbehörde zu einem Meeting abgeordnet worden ist. Das musste der erfahrene Schwurgerichtsvorsitzende Rabe eigentlich wissen.
Der 5. Senat des Bundesgerichtshof (BGH) hebt das Urteil prompt auf und verweist der Fall zurück ans Hamburger Landgericht. Keine sonderliche Überraschung, denn der nach Leipzig ausgegliederte 5. Senat ist für Besonderheiten bekannt. Im Norden hat er den Spitznamen „Hamburger Senat“. Und das nicht nur, weil die Hamburgerin und jetzige Generalbundesanwältin Monika Harms von 1999 bis 2006 den Vorsitz hatte, die 1983 in der Hansestadt ihre Richterkarriere am Landgericht begonnen hat. Der Hamburger Senat wird gern so tituliert, weil er für die meisten Hamburger Verfahren zuständig ist und gern bei prominenten Verfahren einen Rechtskrieg mit den hiesigen Gerichten führt, um einem abschließenden Urteil seinen eigenen politischen Stempel aufzusetzen.
So hob der Hamburger Senat unter Leitung von Monika Harms beispielsweise das Urteil des Landgerichts Hamburg wegen Rechtsbeugung gegen den Rechtspopulisten Ronald Schill auf. Er hatte in einem Prozess gegen Autonome zwei Zuschauer, die in der Verhandlung aufgemuckt hatten, drei Tage im Knast schmoren lassen. „Kein Vorsatz“, befand der 5. BGH-Senat damals.
Auch das Urteil gegen den Kriegsverbrecher und „Schlächter von Genua“, Friedrich Engel, den das Hamburger Landgericht 2002 wegen der Erschießung von 59 Partisanen am italienischen Turchino Pass zu sieben Jahre Haft verurteilt hatte, hob der Hamburger Senat auf. Verantwortung ja, aber kein Mord.
Ende 2006 befasst sich das sechste Gericht mit dem Fall des Todesschützen Wolfgang Sch. und führt eine dritte Beweisaufnahme durch. Diese Kammer kommt nun zu der Überzeugung – wie Jahre zuvor Amtsrichterin Reitzig – dass ein Tötungsvorsatz vorgelegen habe. Wolfgang Sch. wird erneut zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt – diesmal wegen Totschlags. Sch. habe zwar nicht töten wollen, „aber gezielt geschossen“, so die Vorsitzende. Er habe damit rechnen müssen, dass der Schuss tödlich sein würde.
Vergangene Woche hat der „Hamburger Senat“ erneut den Hanseatischen Urteilsspruch kassiert. Nach drei Beweisaufnahmen rüttelt der BGH-Senat zwar grundsätzlich nicht mehr am Tatverlauf, doch bei der rechtlichen Würdigung erteilen die Leipziger den Hamburgern einen Rüffel. Nach ihrer Auffassung sei ein Tötungsvorsatz nicht zu belegen, da Sch. kein zweites Mal geschossen habe, obwohl Julio V. noch einige Meter gerannt sei. Zudem wird spekuliert, da Julio V. Holländer gewesen ist, ob Sch. nicht davon ausgehen konnte, dass er einer international operierenden Bande angehörte. Dann wäre ein Schuss zulässig gewesen. „Wie will denn ein Polizist erkennen, ob ein einfacher Einbrecher oder ein Mitglied einer internationalen Bande vor ihm steht?“, fragt Familienanwalt Manfred Getzmann.
Klar ist wohl, dass ein neues Urteil nach so langer Zeit milder ausfallen wird, wenn das Gericht auf fahrlässige Tötung oder Körperverletzung mit Todesfolge erkennt. Es dürfte aber eigentlich nicht unter 12 Monaten Haft liegen, womit das Berufsverbot für den Polizisten bestehen bleibt.
Ein Revisionsexperte, der den 5. Senat in Leipzig gut kennt, kann sich allerdings auch eine dreistere Variante vorstellen und verweist auf einen Fall des Hamburger Senats: „Da haben sie dreimal in der Revision das Urteil aufgehoben, bis das Verfahren eingestellt wurde.
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